Gesellschaft | Grabinschriften

Stille am Friedhof

Viel Mühe geben wir uns mit dem Grabschmuck, vor allem jetzt, zu Allerheiligen und Allerseelen. Verkümmert hingegen sind die Worte, die wir unseren Verstorbenen widmen.

Manche haben ihn heute schon hinter sich, andere bereiten sich vielleicht gerade darauf vor. Den Friedhofsbesuch. Einige werden ihn alleine und ohne großen Aufsehens begehen, bei vielen versammelt sich die ganze Familie an den Gräbern um den verstorbenen Angehörigen, Freunden und Bekannten zu gedenken. Festlich und mit großer Sorgfalt geschmückte Gräber sollen die große Verbundenheit mit den Verstorbenen zum Ausdruck bringen.

Weniger Aufmerksamkeit wird bei den Besuchen am Friedhof wahrscheinlich einer anderen, ehemals ebenso wichtigen Zierde wie dem Grabschmuck geschenkt: den Grabinschriften. Einst zeugten die Epitaphien – so der Fachbegriff – von der Blüte eines ganz eigenen literarischen Nebenfachs, der Sepulkralpoesie. "Heute verschließt man auf dem Friedhof besser die Augen."

"Denn der Verlust einer umfassenden Artikulationsfähigkeit durch haltloses Telefonieren und übermäßigen Medienkonsum werde heute nirgends so deutlich wie auf dem Friedhof. "

Zu diesem Schluss kommt Wolfgang Koch in der Printausgabe der österreichischen Tageszeitung Der Standard vom 31. Oktober. In dieser zeichnet er Aufstieg, Wandel, Vielfalt und Verfall der Sepulkralpoesie nach.

So belegen etwa Gerichtsakten aus Südtirol, dass noch im 17. Jahrhundert Leute auf dem Friedhof das Lesen gelernt haben. Im 19. Jahrhundert war es vor allem das Bürgertum, dass sich wortgewaltig in Grabinschriften von den verstorbenen Angehörigen verabschiedete. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es zu einem mehr und mehr intellektuellen Wandel der Epitaphien. Dichter und Denker, Philosophen und Künstler verfassten ihre Grabinschriften häufig selbst, und versahen dabei ihre Dichtkunst mit religiösen, autobiografischen, aber auch humoristischen Details. "Der Zweite Weltkrieg begrub die ganze Kunst der Epitaphien, seither trauern Hinterbliebene verloren in monotonen Steinwüsten", so Koch.

"Heute lesen wir kein herzzerreißendes 'Du fehlst mir!' mehr, keine Gefühlsbezeugungen überhaupt." 

Muss aber der Tod eines Menschen auch das Verstummen der Worte für ihn bedeuten? Der liebevoll angerichtete Grabschmuck wird in einigen Tagen oder Wochen bereits verdorrt sein. Worte hingegen, in Granit gemeißelt, überdauern den Verfall.

"Werden die Sterbenden und die Trauernden eines Tages die Sprache auf den Friedhöfen wiederfinden?" 

Für Wolfgang Koch keine Frage, die ohne bewusstes Handeln unsererseits beantwortet werden kann: "Vielleicht; um neue Worte für den Schmerz zu gewinnen, müssten wir zunächst einmal die Sonnenbrillen abnehmen und die Gesichter wieder einander zuwenden."