Gesellschaft | Flüchtlinge

Verhallter Notruf

Wer ist zuständig für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge am Bozner Bahnhof? Und braucht es die überhaupt? In der Provinz sieht man "keinen Handlungsbedarf".

“Die Solidarität mit den Flüchtlingen ist groß.” Im Morgenmagazin der Rai Südtirol findet der neue Caritas-Direktor Franz Kripp Worte des Lobs für die Hilfe, die den Flüchtlingen im Land dieser Tage zuteil wird. Neben Solidaritätsbekundungen benötigen die in Bozen und am Brenner strandenden Menschen aber noch etwas anderes: medizinische Versorgung. Die lange Reise und mangelnde Hygiene haben bei vielen Spuren, bei einigen auch Krankheiten hinterlassen. Die ersten, die auf die Notwendigkeit von medizinischem Fachpersonal am Bozner Bahnhof aufmerksam machten, waren die Freiwilligen, die dort den Flüchtlingen Essen, Trinken und saubere Kleidung zur Verfügung stellen. Mittlerweile sind sich auch Experten bewusst: Es muss etwas geschehen, die hygienische Situation am Bahnhof ist kritisch. Einzelne Fälle von ansteckenden Hautkrankheiten, eine Dusche, die zwar vorhanden ist, aber nicht verwendet werden darf. Medikamente im Lager, für deren Verabreichung jedoch qualifiziertes Personal nötig wäre. “Es handelt sich keinesfalls um eine Notsituation, doch besteht eindeutig eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit”, so der Warnruf aus der Ärztewelt.

Anderswo sieht man die Situation gelassener. So beschwichtigt etwa der Quästor Lucio Carluccio:  “Es herrscht derzeit kein Risiko für die öffentliche Hygiene.” Im Ernstfall könne zwar medizinisches Personal der Staatspolizei aktiviert werden, doch “das Gesundheitsassessorat und der Notruf 118 haben die Situation perfekt unter Kontrolle”, so der Quästor zum Corriere dell'Alto Adige. Etwas anders der Eindruck von Maximilian Benedikter. Der Arzt mit langjähriger Erfahrung im Bereich der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen meldete sich bereits am Montag auf salto.bz zu Wort. Weder das Rote Kreuz noch 118 seien aktuell in der Lage, sich sachgemäß der Flüchtlinge am Bahnhof anzunehmen. Einerseits fehle es unter den Freiwilligen des Roten Kreuzes an qualifiziertem Personal. Andererseits seien auch die Ärzte von 118 nicht ausgerüstet, um eine Versorgung vor Ort zu garantieren. “Es ist bereits ein Mal passiert, dass die Freiwilligen in ihrer Unwissenheit den Notruf gewählt haben, weil ein Mann wegen einer Hautkrankheit augenscheinlich einer Behandlung unterzogen werden musste”, berichtet Benedikter. “Der Mediziner konnte den Patient aber nicht direkt am Bahnhof behandeln. Das Angebot, ihn ins Krankenhaus zu bringen, schlug der Mann aus.” Dabei gäbe es eine naheliegende und relativ einfache Lösung: “Zur Behandlung von Krätze ist eine spezielle Creme notwendig. Vorräte davon gibt es etwa im Ambulatorio STP (Ambulatorio per Stranieri Temporaneamente Presenti – Ambulatorium für Migranten, die sich zeitweise im Territorium aufhalten, Anm. d. Red.). Und wenn dazu bereits vorhandene Ressourcen wie Ärzte des Hygienedienstes mobilisiert werden, könnte eine Behandlung direkt vor Ort, am Bahnhof, durchgeführt werden”, erklärt Benedikter.

Dafür zuständig scheint sich aber niemand zu fühlen. “Von der Situation am Bahnhof in Bozen kriege ich nichts mit”, gesteht Josef Simeoni. Er ist der Primar des Amts für Hygiene und öffentliche Gesundheit in Südtirol. Und verweist auf die Basismedizin und dessen Primar Paolo Conci. Dieser sei für den “konkreten Schauplatz Bozner Bahnhof” zuständig. Doch auch dort scheint man sich für die medizinische Betreuung der Flüchtlinge am Bahnhof nicht verantwortlich zu fühlen. “Wir von der Basismedizin sind nie angerufen worden, einen Dienst am Bahnhof zu versehen. Wir haben ein Abkommen mit dem Verein Volontarius, und führen die Visiten an jenen Flüchtlingen durch, die uns vom italienischen Staat per Quote zugewiesen werden. Das geschieht aber in der Ex-Gorio-Kaserne. In den Dienst am Bahnhof sind wir nie mit einbezogen worden”, so Paolo Conci.

Die Situation scheint paradox. Auf der einen Seite Flüchtlinge, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass viele nach monatelanger Flucht dringend medizinische Hilfe benötigen. Die aber dafür nicht bereit sind, den Bahnhof zu verlassen. Und Freiwillige, die außerstande sind, medizinische Diagnosen oder Behandlungen durchzuführen und daher Alarm schlagen. Auf der anderen Seite Institutionen wie das Gesundheitsassessorat, wo man einen Koordinierungstisch für die Flüchtlingshilfe am Bozner Bahnhof eingerichtet hat und über die Lage dort bestens informiert ist. Derzeit aber, mit den Worten von Sanitätslandesrätin Martha Stocker “keinen Handlungsbedarf” sieht.

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Sepp.Bacher Mi., 03.06.2015 - 13:24

Gute differenzierte Darstellung! Leider scheinen die Medien salto.bz und Rai-Südtirol verschiedene Infos zu erhalten/haben. Laut letzten Radiomeldungen hat Simeoni gesagt, dass die Situation am Bahnhof professionell verfolgt werde und dass es zwar eine Parasiten-Infektion gäbe aber keinen Krätzefall.
Nun es ist nichts Neues, dass es bei sozialen Problemen und Hilfsprojekten sehr gegensätzliche und konfliktreiche Ansichten und Bewertungen gibt. Ich glaube, es braucht trotz verschiedener Mängel mehr Vertrauen zu den Diensten und professionellen Helfern.

Mi., 03.06.2015 - 13:24 Permalink
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Maximilian Ben… Mi., 03.06.2015 - 19:45

Antwort auf von Sepp.Bacher

Krätze, medizinisch Scabies, ist eine weitverbreitete parasitäre Hautkrankheit des Menschen. Sie wird durch Krätzemilbe verursacht. Für befallene gilt in Deutschland nach Infektionsschutzgesetz bereits bei Verdacht ein Verbot des Aufenthalts und Arbeitens in Gemeinschaftseinrichtungen. In Italien "Malattia infettiva di Classe IV - malattie per le quali alla segnalazione del singolo caso da parte del Medico deve seguire la segnalazione dell'Azienda Sanitaria Locale solo quando si verificano focolai epidemici"

Mi., 03.06.2015 - 19:45 Permalink
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Lisa Maria Gasser Mi., 03.06.2015 - 21:18

Antwort auf von Sepp.Bacher

Lieber Herr Bacher, ich kann Ihnen versichern, die Worte von Dr. Josef Simeoni so wiedergegeben zu haben, wie sie mir am Telefon gesagt wurden: "Die Situation am Bahnhof krieg ich nicht mit." Ich wurde an den für das Territorium zuständigen Primar der Basismedizin Dr. Conci verwiesen, da es sich beim Bahnhof Bozen um einen "konkreten Schauplatz" handelt. Auch bei diesem Telefonat wurde mir mitgeteilt, man habe für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge am Bahnhof "keinen Auftrag" bekommen. Es gibt also derzeit keinerlei professionelles medizinisches Personal am Bahnhof. Wovon sich übrigens ein jeder selbst überzeugen kann, der sich dorthin aufmacht.

Mi., 03.06.2015 - 21:18 Permalink