Politik | Türkei

Schamlose EU

Die EU-Kommission will die Türkei zum sicheren Herkunftsland erklären, damit die von dort kommenden Flüchtlinge problemlos abgeschoben werden können.

Ein grauenhaftes Foto/Video spukte am Vorabend des Erdogan-Besuchs in Brüssel durch die türkischen Sozial-Medien: Es zeigt ein Militärfahrzeug, das einen Jugendlichen zu Tode schleift. Eine wilde Polemik folgte: Regierungsstellen bezeichneten das auf Youtube und Twitter verbreitete Bild als Fotomontage und veröffentlichten ein Foto mit dem selben Militärfahrzeug ohne das Seil mit dem toten Jugendlichen.

Beide Versionen können Fotomontagen sein. Sicher ist: Den toten Jugendlichen gibt es, es handelt sich um einen 17jährigen Kurden, der selbst Videos über das Leben der Kurden produziert und veröffentlicht hat.  

Vor diesem Hintergrund erwägt die EU-Kommission bei den bevorstehenden Verhandlungen mit Staatspräsident Erdogan zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms, die Türkei zum sicheren Herkunftsland zu erklären: Trotz erwiesener andauernder Menschenrechtsverletzungen und einer mit den Füßen getretenen Pressefreiheit soll die Türkei "aufgewertet" werden, damit sie:

1. die über den Balkan in die EU flüchtenden Menschen im ägäischen Meer abfängt und wieder in die Türkei zurückbringt und

2. die Flüchtlinge dort in neuen Lagern beherbergt, für deren Bau die EU zig Millionen Euros springen lässt.

Sechs neue "Camps" sollen in der Türkei entstehen, in denen weitere zwei Millionen Flüchtlinge Platz finden sollen. Die EU verpflichtet sich, einen Teil dieser Flüchtlinge zu "übernehmen". Damit - und das ist vernünftig - soll den Flüchtlingen erspart werden, dass sie Schlepper für lebensgefährliche Überfahrten und Reisen bezahlen müssen.

Die deutsche Bundeskanzlerin höchstpersönlich hat angeordnet, Staatspräsident Erdogan Tür und Tor zu öffnen, ihn zu hofieren und günstig zu stimmen, damit er ihr das leidige Flüchtlingsproblem abnimmt. Und Erdogan, der den Ausgang der kommenden Parlamentswahlen am 1. November fürchtet und dringend internationale Anerkennung braucht, ist im Tausch für diesen Kniefall seitens der EU zu allem bereit.

Seitdem Russland in den Syrien-Konflikt eingegriffen hat, ist der türkische Staatspräsident isolierter denn je. Er kann nicht mehr wie bisher in Syrien einfallen, um Kurden auszumerzen und den IS logistisch zu unterstützen.

Andererseits braucht Erdogan den mächtigen Kremlchef wegen der russischen Erdgas-Pipeline, die durch die Türkei führen soll. Doch schlau wie Putin ist, hat er Abschluss des entsprechenden Vertrags mit der Türkei auf Ende Dezember verschoben. Begründung: Moskau wolle erst einmal den Ausgang der Wahlen in der Türkei abwarten, bevor derart wichtige Verträge unterzeichnet werden.

Zurück nach Brüssel, wo die Käuflichkeit, Einseitigkeit und Schamlosigkeit der EU kaum noch Grenzen kennt. Als die "schwachen" EU-Staaten Griechenland und Italien um eine Aufweichung der Sparkriterien baten, reagierte die EU-Kommission mit drakonischer Strenge.

Seitdem Deutschland wegen der Versorgung des Flüchtlingsstroms tiefer in die Staatshaushalts-Tasche greifen muss, wird über eine Lockerung der Sparvorgaben diskutiert. 

Der parteiische und pro-deutsche Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz, der in der griechischen Schuldenkrise eine miserable Rolle gespielt hat, fordert nun plötzlich, dass Haushaltsdefizite die vorgeschriebene Obergrenze überschreiten können, weil es ja die Flüchtlingskrise gibt.

Erinnert sich noch jemand daran, wie die zuständigen Brüsseler EU-Stellen auf die Hilferufe Italiens und Griechenlands wegen des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer reagiert haben ? Die damals zuständige schwedische Flüchtlingskommissarin hat entweder gar nicht reagiert oder die Bitten an die Absender zurückgeschickt. Nach dem Motto: Kümmert Euch selbst darum!

Seitdem Deutschland mit diesem Flüchtlingsstrom konfrontiert ist, steht die EU "Habt Acht". Sie ist zu juristischen und finanziellen Konzessionen bereit, zur Verletzung von EU-Parametern und zum Kniefall vor dem türkischen Staatspräsidenten, der die europäischen Grundrechte mit den Füßen tritt.

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Stephan H. Di., 06.10.2015 - 08:45

Wir als Zivilgesellschaft in Europa sollten anfangen, die Dinge beim Namen zu nennen. Im Prinzip haben wir mit der Institution EU mittlerweile absolut keine demokratischen Strukturen mehr, sondern einen Lobbyverband der die internationalen Konzerne und Finanzinstitute stärkt.
Nebenbei muss das Dilemma der medialen Vielfalt angesprochen werden. Wenn man heute in "Google" den Begriff "Türkei" oder "Russland" eingibt, erscheinen zig Nachrichten von verschiedenen europäischen oder nordamerikanischen Tageszeitungen, die alle die Erstmeldung aus "Reuters" übernehmen, fast wortwörtlich. Reuters gehört zur "Thomson Reuters" Gruppe (seit 2008) und deren Vorsitzender David Thomson ist auf der Fobes-Liste Nr. 26 der reichsten Menschen weltweit. Nebenbei ist er ein "Big Player" im Finanzgeschäft und stark mit der US-amerikanischen Administration vernetzt.
Nun kann man sich vorstellen, dass sich in diesen Reuters-Meldungen ein bestimmtes System wiederspiegelt und kaum von ausgewogener Berichterstattung gesprochen werden kann. Wir haben es also in Europa seit einiger Zeit mit einer Art Gleichschaltung zu tun.
Und hier sind wir schon wieder beim Artikel von Octavia Brugger zum Stichwort Türkei und EU. In den Medien der EU spiegelt sich aktuell die Meinung des Militärbündnisses NATO (die unter uns gesagt komplett unter USA-Diktat steht) gegenüber der Türkei wieder.
Es wird suggeriert, dass die NATO-Staaten, die Türkei und Saudi-Arabien die "Guten" im derzeitigen Konflikt in Syrien darstellen und Russland und die schiitischen Staaten plus Syrien die "Bösen".
Russland wird in "unseren" Medien für sein Eingreifen in Syrien (oder in türkischen Hoheitsgebiet) massiv kritisiert, während die Türkei praktisch unwidersprochen die Kurdengebiete bombardieren darf.
Laut meinem Empfinden wird durch das Eingreifen Russlands die NATO plus Türkei/Saud-Arabien demaskiert, und das auf mehreren Ebenen. Den USA/NATO geht es nicht um das Exportieren von Menschenrechten, sondern um die Absetzung des Diktators Assad, der nicht nach ihren Regeln spielt. Dasselbe hatten wir schon in Lybien und Irak. Mich persönlich würde interessieren ob das aktuelle Verhalten der Administrationen von EU/NATO die Meinung der Bevölkerung in den EU-Staaten wiederspiegelt oder ob es sich im Prinzip um undemokratische Maßnahmen handelt. Wir hier im Westen und besonders in der EU rühmen uns doch immer, wir wären demokratisch. Wir müssen in meinen Augen aufpassen, dass wir diese Ideale nicht aus den Augen verlieren, im besonderen Hinblick auf die Abkommen (TTIP usw.) und pol. Verflechtungen (NATO usw.) mit den USA.

Di., 06.10.2015 - 08:45 Permalink
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Sepp.Bacher Di., 06.10.2015 - 11:45

Antwort auf von Stephan H.

Sehr guter Kommentar! Wenn Sie aber schreiben "Den USA/NATO geht es nicht um das Exportieren von Menschenrechten, sondern um die Absetzung des Diktators Assad, der nicht nach ihren Regeln spielt" dann klingt das logisch - auch wegen der Parallelen. Ich denke, wenn es nur darum ginge, dann hätten sie ihn doch schon längst beseitigt und dadurch auch vieles verhindert, worunter heute Millionen von Menschen leiden. Mir ist zwar auch nicht klar, was Russland alles im Schilde führt, ich hoffe aber, dass durch das Eingreifen der Bürgerkrieg schneller zu einem Ende kommt. Bleibt die Frage, was ist dann?

Di., 06.10.2015 - 11:45 Permalink
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Stephan H. Di., 06.10.2015 - 15:08

Antwort auf von Sepp.Bacher

Assad muss erstens in der Bevölkerung über eine enorme Zustimmung verfügen, und zweitens hat er Russland, den Iran und die schiitische Hisbollah hinter sich. Sonst wäre er längst schon weg. Man darf ja nie vergessen, so brutal Assad auch sein mag, er wurde mit großer Mehrheit gewählt und die Wahlen wurden international beobachtet. Er ist im Gegensatz zu Monti (Goldman-Sachs-Angestellter, Trilaterale Kommission) in Italien und Papadimos (ehemaliger leitender Angestellter bei der FED in Boston, Trilaterale Kommission) in Griechenland ein gewählter Volksvertreter.
Was ich schrecklich finde, dass die USA/EU bis jetzt nix gegen die miserable Lage ihrer christlichen Brüder in Syrien gemacht haben und auch nix gegen das kulturelle Erbe von Palmyra. Und um diese Dinge kümmert sich jetzt wohl Russland. Unsere Mainstreammedien verscheigen ja, dass die Christen in Syrien nun jubeln, seit die Russen was gegen die Terroristen machen. Der Bischof von Syrien hat kürzlich verlautbaren lassen, dass es die von den USA trainierten gemäßtigte Gruppe FSA so gar nicht gibt. Ich will hier ja nicht dauernd den sog. "Putinversteher" spielen, aber ich muss schon sagen, dass man als Europäer bez. IS-Terror gar nicht anders kann als Russlands Strategie eher zu befürworten als die der USA/EU. Übrigens sehen es auch Leute vom Kaliber eines Romano Prodi oder Helmut Schmidt so.
Das was der Bischof sagt, klingt ganz anders als unsere transatlantischen Presseorgane uns weismachen wollen, man muss sich bald fragen ob wir die freie Presse überhaupt noch haben:

http://www.kathpress.at/goto/meldung/1303237/bischof-leben-in-aleppo-he…

http://de.sputniknews.com/politik/20151006/304734837/letzte-hoffnung-sy…

Di., 06.10.2015 - 15:08 Permalink
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Sepp.Bacher Di., 06.10.2015 - 16:38

Antwort auf von Stephan H.

Ich war auch lange ein Assad-Versteher; zu mindest verband ich damit die Hoffnung, dass dadurch die verschiedenen religiösen und kulturellen Minderheiten geschützt wären. Inzwischen hört und ließt man, dass sehr viele Christen geflohen sind und dass nicht einmal mehr die Männer seiner Religionsgruppe der Alawiten bereit sind, für ihn zu kämpfen und lieben das Land verlassen. So muss er Söldner rekrutieren, zumeist Flüchtlinge aus Afganistan (z. T. erfahrene Krieger), sowie scheinen ihm iranische Boden-Truppen auszuhelfen. Außerdem lässt er anscheinend auch von ihm abgefallene Dörfer und Stadtteile mit Fassbomben usw. zerstören. Ich kann keiner Hoffnung mehr in ihm finden, weiß aber auch nicht, welche Alternativen es gibt.

Di., 06.10.2015 - 16:38 Permalink
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Stephan H. Mi., 07.10.2015 - 14:36

Antwort auf von Sepp.Bacher

Hallo Sepp, danke für den Link zur interessanten Umfrage. Ja, man muss schauen was hinter den ganzen Anschuldigungen gegen Assad steckt. Es kann ruhig sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung das so sieht. Dann kann ich persönlich auch gerne meine Meinung revedieren und zum Schluss kommen, dass Russland sich neben der Intervention auch die Frage nach der "Assad-Schuld" stellen muss. Nur ist für mich auch nicht zielführend, wie es die USA praktizieren, islamistische Gruppen dermaßen gegen Assad aufzurüsten, damit es wieder zu einem "Failed-State" wie in Lybien kommt. Es ist eine sehr schwierige Lage, aktuell denke ich dass Putin nicht ganz unrecht mit seiner Einschätzung in Syrien hat, aber auch ich bin der Meinung dass Assad wohl früher oder später abdanken sollte. Freie Wahlen (und wirklich international ausreichend untersucht) sind m.A. nach auf alle Fälle anzustreben, damit man Gewissheit hat was die syrische Bevölkerung will. Am meisten wünsche ich den Menschen dort Frieden und dass sie weder von Assad noch den radikalen Islamisten terrorisiert werden.

Mi., 07.10.2015 - 14:36 Permalink
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Lupo Cattivo Di., 06.10.2015 - 13:31

" Im Prinzip haben wir mit der Institution EU mittlerweile absolut keine demokratischen Strukturen mehr, sondern einen Lobbyverband der die internationalen Konzerne und Finanzinstitute stärkt."
"... der die europäischen Grundrechte mit den Füßen tritt."

Die EU Maske fällt: Erstes Land führt Toleranzgesetz ein.

Tja es kommt sicher noch dicker...wenn man unsere Grundrechte mit den Füßen tritt. In Zukunft haben wir einfach die Klappe zu halten...und die Freie Meinungsäuserung ist Geschichte...sonst droht uns Gefängnis,oder ein Umerziehungsprogramm.
Ich persönlich habe nichts gegen Toleranz,im Gegenteil,jedoch wer für alles offen ist kann nicht ganz dicht sein.

/www.youtube.com/watch?t=12&v=k4O__9yuwm8&ab_channel=MythenMetzger

Jetzt, ganz überraschend, ist es soweit. Das erste Land hat dieses unsägliche Toleranzgesetz eingeführt und damit das Ende der Freiheit innerhalb der EU eingeläutet.
Seht euch das Info-Video an.

Di., 06.10.2015 - 13:31 Permalink
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Sepp.Bacher Di., 06.10.2015 - 16:47

Antwort auf von Lupo Cattivo

Schönes Wortspiel: "Wer für alles offen ist kann nicht ganz dicht sein."
Aber so wie du es meinst, Böser Wolf, gefällt es mir nicht. Du bist mE zu negativ und zu extrem in der Interpretation dieser Initiative. Toleranz ist notwendig und muss gefördert werden. Davon den Verlust der Freiheit abzuleiten, ist wohl bei den Haaren herangezogen. Wo du Recht hast ist die Tatsache, dass man alles verordnen und mit Gesetzten regeln will und dabei meistens auch noch weit über das Ziel hinausschießt.

Di., 06.10.2015 - 16:47 Permalink
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Lupo Cattivo Di., 06.10.2015 - 18:06

Antwort auf von Sepp.Bacher

Na na..so heiß wie die Suppe gekocht wird,wird man sie nicht gleich essen;-)
Ich möchte mit diesem Video auf YouTube nur darauf hinweisen,was hinter verschlossenen Türen beschlossen wird.
In dem ganzen Reglementierungwahn von Seiten der Brüsseler Politiker/Kommission fällt einem das Leben nicht immer leicht. Zum Glück bin ich Optimist...ich meine man sollte die Ohren immer etwas gespitzt halten.
Zum Thema Toleranz...das lässt hier zu Lande auch zum Wünschen übrig.Wenn man sich politisch korrekt verhaltet,wird man toleriert.(weil man eben den Richtlinien u.Vorgaben von "Oben"folgt) aber wehe man kritisiert,dann wird man gleich in die rechte Schublade gesteckt. Übrigens,ich war vor einigen Wochen innerhalb der EU mit einem Flugzeug unterwegs...Kontrollen,Kontrollen bis zum geht nicht mehr,im Gegensatz dazu die Zuwanderungssituation in Deutschland,Österreich u.s.w. das meine ich mit dem offen sein und dicht sein. :-)

Di., 06.10.2015 - 18:06 Permalink
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Sepp.Bacher Di., 06.10.2015 - 19:47

Antwort auf von Lupo Cattivo

Ja, ich musste mich auch schon - auf diesem Portal - massiv wehren, nicht in die rechte Schublade gesteckt zu werden. Ich hatte mir die Frage erlaubt, warum einerseits die syrischen und afghanischen Flüchtlinge nicht bei ihren sunnitischen Brüdern in den reichen Golfstaaten Schutz und Hilfe suchen bzw. diese das gar nicht anbieten. Es wäre näher, weniger gefährlich und ihrer religiösen Kultur und Sprache näher. Andererseits wundere ich mich warum die westlichen Länder ihre Verbündeten am Persischen Golf nicht in die Pflicht nehmen.

Di., 06.10.2015 - 19:47 Permalink
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Klaus Griesser Mi., 07.10.2015 - 15:05

Ich kann mir gut vorstellen dass es stimmt, was Oktavia Brugger im Beitrag http://www.salto.bz/article/30092015/eine-farce behauptet, nämlich dass die IS sich in der Türkei frei und in Uniform bewegen kann, weil sie für Erdogan ein erstklassiges Mittel sind, die unterjochten Kurden zu eliminieren. Wenn nun die EU- Regierungen ein Bündnis mit Erdogan über "freien Verkehr" (sprich Herumschieberei) der Flüchtlinge schließen wollen, so haben die IS-Banden alle Möglichkeiten über die Türkei ihre Killer einzuschleusen. Und auf dem Altar dieses Bündnisses werden die Kurden geopfert. Oder?

Mi., 07.10.2015 - 15:05 Permalink