Kultur | Bücherregal

Entknotungen

Die Arunda Nr. 16 trägt den Titel „Verknüpfungen“ und besteht aus losen Bögen, welche von einer Metallklammer zusammengehalten werden.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Und weil ich nun nach über dreißig Jahren einen Beitrag davon heraushole, muss ich eine „Entknotung“ vornehmen. Mir ist ein Beitrag von Stanislav Zgaga aufgefallen mit dem Titel „ Mein Canossa – Sommer 1983 „

 

Ich bin dreiundvierzig. Im Krieg geboren, gehören ich jener Generation an von der Alice Miller in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ sagt: „Das Drama des begabten, das heißt sensiblen, wachen Kindes besteht darin, dass es schon sehr früh Bedürfnisse seiner Eltern spürt und sich ihnen anpasst, indem es lernt, seine intensivsten, aber unerwünschten Gefühle nicht zu fühlen“.

So war's bei mir und so muss es schon bei meiner Mutter gewesen sein. Die Verewigung des Dramas. Jetzt denke ich manchmal, dass ich vielleicht deswegen nie eigene Kinder haben wollte, um diesen teuflischen Kreis zu brechen.

Als Kind merkte ich natürlich zuerst vom Drama nicht viel. Der Körper wächst scheinbar gesund, aber die Persönlichkeit entwickelt sich nicht harmonisch; sie ist wie ein junger Baum, der krumm bleibt oder in dem der Wurm steckt. Wenn man es merkt, ist es schon ein Baum mit verkrusteter Rinde und der Specht muss viel bohren, um den Wurm zu vertreiben. Ein sehr schmerzvoller Prozess, genauso wie beim Mensch, dem die emotionale oder seelische Entwicklung nicht voll gelungen ist. Sehr oft äußert sich diese Einseitigkeit, diese emotionale Verunsicherung und Verarmung in der Depression.

Ja, ich bin dreiundvierzig. Ich fühle mich jung, aber wahrscheinlich ist es nur Einbildung; wenigstens das war meine Erfahrung im letzten Sommer. Ich brauchte Geld und deswegen suchte ich eine Arbeit. An und für sich etwas ganz Normales. Ich bin Künstler, aber da ich von meiner Kunst, der Malerei, nicht leben kann, habe ich schon öfters andere Arbeiten ausüben müssen, um mein Brot zu verdienen. Ich beklage mich auch deswegen nicht, weil mir das Spaß macht, mich bereichert und übrigens ein Künstler, der nur seiner Kunst nachgeht, sich oft dem Leben entfernt und steril wird.

Ich kann slowenisch, italienisch, deutsch, englisch französisch, habe eine Büroerfahrung, weil ich zehn Jahre als Bankbeamter gearbeitet habe und kann Erfolge aufweisen auch in anderen Bereichen. „Kein Problem“, dachte ich ahnungslos. Und ich fing an, die Anzeigen in den Zeitungen zu lesen und mich zu bewerben für Posten, die meiner Ausbildung und Fähigkeit entsprechend waren. Bald merkte ich, dass es nicht so leicht ging, wie ich es mir gedacht hatte.

Die erste Frage, die die meisten Arbeitgeber stellen, ist die: „Wie alt sind Sie?“ Ab fünfunddreißig ist man schon alt und also nicht brauchbar. Es ist unglaublich, was für Ansprüche in vielen Fällen gestellt werden. Der ideale Typ ist zwanzig Jahre alt, kreativ, positiv eingestellt, gut aussehend und strebsam, hat eine akademische Ausbildung, beherrscht mindestens drei Fremdsprachen und hat eine internationale Erfahrung. Und das alles womöglich für einen Kellnerposten in irgend einem abgelegenen Tal bei einem Wirt, der selbst kaum seine Muttersprache gut spricht.

Die zweite Frage lautet: „Was haben Sie bis jetzt getan?“ Ja, und da erzählt man halt, was man so alles gemacht hat: Bankbeamter, Lehrer, Künstler, Kaufmann, Handwerker, Landwirt, Schafhirt: ein schönes rundes Leben! Die typische Reaktion aber nachher: „Aha, schon wieder so ein Versager!“ oder „Nein, so einen labilen Menschen können wir nicht einstellen!“ Das Renaissance-Ideal vom allseitig gebildeten Menschen, das uns in den Schulen als erstrebenswert eingeimpft wurde, scheint nicht mehr gefragt zu sein.

Das Schlimmste, was ich erlebt habe, war bei einem dicken, fetten Hotelier, wo ich mich für einen Posten als Nachtportier beworben hatte. Nicht nur, dass er mir keine Arbeit gab, sondern er versuchte mir ganz billig seine Weltanschauung zu verkaufen. „Was, Sie haben in der Bank gearbeitet? Ja, warum haben Sie einen so guten Posten aufgegeben? Was wollen Sie jetzt? Recht geschieht Ihnen!“ Ich war ganz verwirrt. Zorn, Hass auf diesen „neuen Mächtigen“, in dem ich den Ungeist der heutigen Zeit verkörpert sah: das waren meine Gefühle. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er nie Hermann Hesse gelesen hat, ober er nie von einer Selbstverwirklichung gehört hat. Aber nein, dachte ich, es ist doch nur verlorene Zeit. So ein arrivierter, reicher Mensch wird nicht leicht an seiner mit Fleiß aufgebauten Anschauung rütteln lassen. „Oh Herr, vergib diesem bösen Tiroler!“

Ich ging wieder.

Früher habe ich gedacht, es wären persönliche, private Entscheidungen, die einer trifft, wenn er einen Arbeitsplatz wechselt. Seit dem letzten Sommer weiß ich, dass es nicht so ist. Es sind politische, schwerwiegende Taten mit bösen Folgen, die einem das ganze Leben lang vorgeworfen werden. Ich weiß nicht, ob es anderswo auch so ist, aber in Südtirol scheint das die Realität zu sein.

Ich habe dann doch eine Arbeit gefunden als Auslandskorrespondent bei einem italienischen Faschisten, der mit mir Erbarmen hatte und mir nur das gab, was ich brauchte: eine Arbeit.

Bozen, den 2. April 1984

Stanislav Zgaga

 

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Sebastian Felderer Mi., 08.10.2014 - 07:49

Antwort auf von Alfonse Zanardi

Danke Alfons, ich biete sie dir gerne, denn ich bin sicher einer der Wenigen, die von Anfang an dabei sind und alle Ausgaben besitzen. Die Herausgabe der Kulturzeitschrift über eine solche Zeitspanne ist eine grandiose Leistung. Und misteriös sind manche Ausgaben allemal, dazu hat sich das System der lockeren Autorenauswahl zu eindeutig bewährt. Weiterhin viel Freude.

Mi., 08.10.2014 - 07:49 Permalink
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Profil für Benutzer Alfonse Zanardi
Alfonse Zanardi Mi., 08.10.2014 - 09:58

Antwort auf von Alfonse Zanardi

Danke Sebastian. Die Arunda hat mir damals (ich war ca. 10) ein sehr ernsthaften Eindruck gemacht. Meine Position war: "OK, das sind Dinge die ich nicht immer vollständig kapiere, aber offenbar werden diese Dinge irgendwo mit Nachdruck betrieben." Auch die Inhomogenität der Themen und Aufmachungen war für mich eine neue Erfahrung in dem Sinne "diese Hefte gehören schon zusammen aber offenbar ist es gewollt dass sie alle anders ausschauen und dass die Themen nicht nach einem striktem System definiert sind". Auch der lokale Kontext war wichtig: "Aha, Literatur wird auch hier gemacht, nicht nur in Deutschland oder England." Ich werde wieder in die alten Hefte schauen.

Mi., 08.10.2014 - 09:58 Permalink