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Der weite Blick. Il pensiero libero

Dem verstorbenen Christoph von Hartungen ist ein Buch gewidmet, das ihn als Lehrer, Historiker, politisch Engagierten und Philantropen zeigt.

Mit "Hommage an einen Unangepassten" haben die beiden Autoren Martha Verdorfer und Günther Pallaver ihren Essay zu Christoph von Hartungens Leben und Werdegang überschrieben. Eine persönliche wie detailgetreue Beobachtung und Charakterisierung eines Menschen, der gerne gelebt hat, "in Fülle, authentisch und frei". Mit 58 Jahren starb Christoph von Hartungen, während eines Rodelausflugs mit den Lehrerkollegen. Wir veröffentlichen hier das folgende Kapitel aus dem Buch:

Forscher, Aufklärer und Lehrer

Christoph war ein passionierter Historiker und Archivbesucher. Nicht von ungefähr führten ihn seine ersten beruflichen Schritte in Richtung Archiv. Er absolvierte die Ausbildung zum Archivar am Staatsarchiv von Bozen, die er mit dem Diploma in Archivistica, Paleografia e Diplomatica abschloss. Anschließende archivalische Praktika machte er im Stadtarchiv München und im Archivamt der Gemeinde Bozen. Ende der 1980er-Jahre gab es in der Gemeinde Bozen noch keine hauptamtlichen Archivare. Christoph legte gewissermaßen den Grundstein für diese heute so wichtige Einrichtung. Die Stadtgemeinde betraute ihn zwischen 1990 und 1992 immer wieder mit Archivarbeiten, aber sie schrieb keine Stelle aus. Dies geschah erst 1992, als das 1990 offiziell errichtete Stadtarchiv erstmals fixes Personal aufnahm. Bis dahin hatte Christoph immer wieder gehofft, seiner Leidenschaft als Archivar auch hauptberuflich nachgehen zu können, aber die Gemeinde Bozen ließ sich mit ihrer Entscheidung eine Weile Zeit. Allzu lange wollte Christoph aber nicht in einer beruflichen Prekariatslage zuwarten, zumal er 1988 Dorothea Vieider geheiratet hatte und bald darauf Vater von Charlotte wurde. Eine Zeit lang bedauerte er im Stadtarchiv nicht zum Zuge gekommen zu sein. Trotzdem arbeitete er auch später immer wieder mit dieser Institution zusammen und war Mitglied verschiedener Arbeitsgruppen, so etwa von 1996 bis 1998 der Arbeitsgruppe für die Orte der Erinnerung.

Am 1. September 1988 trat Christoph in den Schuldienst am Humanistischen Gymnasium Walther von der Vogelweide in Bozen ein, zuerst als Lehrer für die Fächer Deutsch und Latein, ab 1995 für die Fächer Geschichte und Philosophie. Nach Absolvierung des ordentlichen Wettbewerbs wurde er am 1. September 1992 ins definitive Beamtenverhältnis übernommen.

Als Lehrer war Christoph sehr beliebt, bei seinen SchülerInnen genauso wie bei seinen KollegInnen. Die Schulführungskräfte, die mit ihm zu tun hatten, schätzten ihn wegen seiner menschlichen und fachlichen Qualitäten, auch wenn sie wiederholt mit ihm als konsequenten Bürokratieverweigerer zu hadern hatten.

Von einer Berufung zum Lehrer im engen Sinn lässt sich bei Christoph nicht sprechen, dafür stand er dem System der Südtiroler Schule zu kritisch gegenüber. Berufen war er aber zum Aufklärer und Wissensvermittler – und gerade deshalb war er ein begeisterter und guter Lehrer. Er besaß die Fähigkeit, sein breit gefächertes Wissen in Geschichte (und Philosophie und Germanistik) im Unterricht in meist amüsanten Geschichten verpackt darzulegen. Dabei zeigte er einen Widerwillen gegen den einfachen Satz, die gerade Aussage. Christophs Welt war der Nebensatz und im Nebensatz der Exkurs. Er liebte die Sprache und misstraute ihr zugleich.

Er versuchte nicht durch Zwang, sondern durch Neugier zu motivieren. Sein Umgang mit den SchülerInnen war beispielhaft: Da gab es keine böse Bemerkung, keine bissige Ironie, keine Bloßstellung, mit der sich LehrerInnen zuweilen vor fachlicher oder sozialer Überforderung zu schützen versuchen. Für Christoph waren die einzelnen SchülerInnen wichtig, er begegnete ihnen mit väterlicher Nachsicht und gleichzeitig mit Offenheit und Respekt. Mit oft mild-ironischem, aber stets weichem Blick hörte er sich ihre Sorgen an, antwortete feinsinnig, kompetent und klug. Seine SchülerInnen sprachen ihm in ihrem Nachruf wohl das höchste Lob aus, das sich ein Lehrer wünschen kann: „Er hat uns nicht nur Geschichte und Philosophie gelehrt, sondern auch Offenheit, Toleranz, Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen.“

Christoph hatte seine eigene Art im Umgang mit dem System Schule, etwa wenn er seinen SchülerInnen die praktischen Grundregeln für eine erfolgreiche Schulkarriere erläuterte: „Schwätzen ohne gehört zu werden, schwindeln ohne erwischt zu werden, und so tun, als wäre das Fach, das man gerade hat, das Interessanteste, aber besonders der Lehrer, der es unterrichtet, der Beste.“ Es kam auch vor, dass er einen Schüler vor die Tür schickte und ihn dann einfach vergaß. Christoph war kein Freund von Korrekturen, sodass die SchülerInnen oft sehr lange auf die Rückgabe von Tests oder Klassenarbeiten warten mussten. Bestimmten Anforderungen der Schulrealität stand er eben mit einer ironischen Distanz, die manchmal auch zu einer partiellen Verweigerung führte, gegenüber.

Christoph hielt auf Stil und Etikette. Er siezte seine SchülerInnen, nannte sie Herr oder Fräulein und hatte trotzdem ein größeres Vertrauensverhältnis zu ihnen als manche der legeren KollegInnen. Sein äußeres Markenzeichen war die Krawatte. Er verließ so gut wie nie das Haus ohne sich eine seiner zahlreichen Krawatten umgebunden zu haben. In Zeiten, in denen das offene Hemd und die Jeans den Alltag erobert hatten, kam Christoph mit gebügelter Hose, Hemd, Rock und Krawatte daher, als wollte er seinem Berufsstand etwas von seiner Würde zurückgeben. Ein weiteres äußeres Markenzeichen, zumal in den kälteren Monaten, war seine dunkelgrau-schwarz karierte Schirmmütze, sein „Chapeau“.

Christoph war als Lehrer nicht betriebsblind, für ihn war es wichtig, die Schule in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen und zu beurteilen. Deshalb sah er die Arbeit als Lehrer nicht nur unter einem didaktischen, sondern ebenso unter einem gewerkschaftlichen Aspekt.

Er engagierte sich seit Beginn seiner Unterrichtstätigkeit in der Schulgewerkschaft im SGB-CISL. Ab dem Schuljahr 2003/04 hatte er eine Stundenreduzierung für seine gewerkschaftliche Arbeit, die sich sowohl schulintern (z. B. als Mitglied der einheitlichen Gewerkschaftsvertretung EGV-RSU) als auch schulextern (Landesschulrat) niederschlug.

Seit 1998 war Christoph ununterbrochen Mitglied des Landesschulrates der Provinz Bozen. Von 2006 bis 2008 war er dessen Vorsitzender, danach wegen der ethnischen Rotation stellvertretender Vorsitzender. Die Funktion als Vorsitzender des Landesschulrates übernahm er erneut 2010 bis 2011, dann kam es wieder zur ethnischen Rochade mit seinem italienischen Kollegen Carlo Runcio und Christoph war bis 2012 wieder dessen Stellvertretender. Im September 2012 wurde er dank der allgemeinen Wertschätzung für seine kritische, aber auch ausgleichende Rolle – er ließ die Gegensätze nie zu groß werden und den Dialog nie zu kurz kommen – erneut zum Vorsitzenden des Landesschulrates gewählt. Das Gremium sollte bis zum Schuljahr 2015/16 im Amt bleiben.

Christoph Hartung von Hartungen war ein Historiker, der zu verschiedenen historischen Epochen geforscht und sich als Kenner sehr unterschiedlicher geschichtlicher Aspekte erwiesen hat. Neben der Wirtschafts-, Sozial- und Alltagsgeschichte beschäftige er sich auch mit der Diplomatie- und Militärgeschichte und verfolgte dabei stets einen interdisziplinären Ansatz. Er setzte sich mit historischen Persönlichkeiten wie Michael Gaismair, Sepp Innerkofler oder Josef Noldin auseinander. Er schrieb über das Bozner Stadtbürgertum ebenso wie über die Tiroler Standschützen während des Ersten oder die Südtiroler Polizeiregimenter während des Zweiten Weltkriegs.
Die Auswahl seiner in Zeitschriften und Sammelbänden erschienenen Aufsätze und Abhandlungen zu Südtirol wird ergänzt durch einen bis dato unveröffentlichten Beitrag zur Schulgeschichte.

Im Landesschulrat setzte sich Christoph mit der Verteilung der Schulen im Land, mit zusätzlichen Bildungsangeboten, mit dem SchülerInnentransport und Mensadiensten auseinander. Die beiden großen Themen in diesen Jahren waren aber der dienstrechtliche Übergang der Lehrpersonen zum Land (1996) sowie die Reform der Oberschule (2011–2015). Beiden Prozessen stand Christoph äußerst kritisch gegenüber. Er war einer der ganz wenigen, die sich mit dem dienstrechtlichen Übertritt zum Land ein Jahr Zeit ließen. Mehr Autonomie, mehr Geld – das klang gut, aber Christoph befürchtete auch mehr Kontrolle, mehr Gängelung und vor allem mehr Bürokratie – und er lag mit dieser Befürchtung wohl auch nicht ganz daneben.

Provinzialismus in der Schule war ihm verhasst. Obwohl er als großer Kenner der Regional- und Lokalgeschichte davon überzeugt war, dass sie einen Platz im schulischen Geschichtsunterricht haben müsse – und er hatte durch seine Fortbildungs- und Publikationstätigkeit ja ganz wesentlich dazu beigetragen –, wollte er seine SchülerInnen auch den „weiten“ Blick lehren, den Blick über die Landesgrenzen hinaus in die Welt. Unter dem Titel „Lied der Einfallslosigkeit“ polemisierte er im Juni 2004 in einem Kommentar in der Wochenzeitung „ff“ gegen die Redundanz der historischen Maturathemen, die seit den 1990er-Jahren vom Schulamt in Südtirol ausgearbeitet werden:

„Es sind letztlich immer dieselben (Erfolgs-)Geschichten, die gefragt sind, die (erfolgreiche) wirtschaftliche Entwicklung, das (musterhafte) Beispiel des Zusammenlebens verschiedener Sprachgruppen, die (schwierige, aber letztlich beispielgebende) Entwicklung der institutionellen Autonomie. […] Es ist eine Zumutung für Südtirols Maturanten, dass sie seit Jahren auf ein historisches Thema mit Abwandlungen reduziert werden. Sie interessieren sich für mehr, sie wissen mehr, sie wollen über andere Themen schreiben.“

Auch in der Diskussion über die Reform der Oberschule und die Einführung des „kompetenzorientierten“ Unterrichts nahm Christoph eine skeptische Haltung ein. Was ihn wirklich in Rage bringen konnte, waren hochtrabende und hohle Phrasen von Menschen, die von der Schulrealität meilenweit entfernt waren. Darauf reagierte er mit bissiger Ironie. Er litt aber auch unter den Verhältnissen und versuchte dies zu verbergen. Sein Zugang zur Realität war ein humoristischer, wie er üblich ist bei Menschen, die sich einmal für das Lächeln und gegen die Verzweiflung entschieden haben.

Lehrer sein bedeutete für Christoph, sein Wissen weiterzugeben und aufzuklären. In diesen Tätigkeiten beschränkte er sich nicht auf die Schule. Er engagierte sich im zivilgesellschaftlichen Sinne auch in der „Volksbildung“, sowohl in der Erwachsenenbildung als auch in der schulischen Fortbildung. Noch vor Abschluss seines Studiums beteiligte er sich in den Jahren 1983 und 1984 gemeinsam mit Reinhold Staffler an der von der Urania Meran organisierten Kursfolge über die Geschichte Südtirols. Ergebnis des Kurses war das Buch „Geschichte Südtirols“, das vom Jugendkollektiv Lana herausgegeben wurde. Laut Arbeitskreis Südtiroler Mittelschullehrer (ASM) war es „wohl das Beste, was wir zum 20. Jahrhundert über unser Land haben“. Seine Bücher und wissenschaftlichen Arbeiten, so der ASM, „gehören zum Handwerkszeug jedes Geschichtslehrers“.

Christoph übte neben seinen schulischen Verpflichtungen eine umfassende Referententätigkeit aus, hielt zahlreiche Seminare und leitete eine Reihe von Exkursionen für das Deutsche, Italienische und Ladinische Pädagogische Institut, den Arbeitskreis Südtiroler Mittelschullehrer (ASM), für den er auch im Vorstand war, den Bodenseekreis der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik, die Volkshochschule Bozen, die Urania Meran und andere Einrichtungen mehr. Seine Themenbereiche umspannten die allgemeine Geschichte, die Geschichte Italiens, die österreichische und Tiroler Geschichte und die Südtiroler Zeitgeschichte. Seine Exkursionen führten zu den Frontlinien und den Stellungsbauten des Ersten Weltkrieges an der Gebirgs- und Dolomitenfront. Die Seminare und Exkursionen, die Christoph für den ASM anbot, waren immer als erste ausgebucht, die Warteliste lang und am Ende stets mit TeilnehmerInnenlob „evaluiert“ – ein Begriff, den Christoph im schulischen Zusammenhang nicht mochte.

Christoph war kein Karrieretyp, aber er hatte Ambitionen. Manchmal stand er sich allerdings selbst im Weg: Bei aller Freundlichkeit blieb er sperrig und eigensinnig, redete niemandem nach dem Mund und beugte sich nicht. Er hätte sich berufliche Alternativen zum Lehrersein durchaus vorstellen können und sich wohl auch gewünscht. Trotz der Wertschätzung, die ihm von vielen Seiten entgegengebracht wurde, fühlte er sich manchmal auch verkannt.

Der weite Blick. Il pensiero libero. 1955 - 2013, Edition Raetia, Hrsg. Società Michael Gaismair Gesellschaft, 512 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN: 978-88-7283-518-0