Politik | Analyse

"Zeit des Umbruchs"

Der Politologe Günther Pallaver analysiert im Morgenmagazin die Wahlen. Über Personalisierung der Politik, Bedeutungsverlust der Parteien und eine postethnische Ära.

Mit drei Tagen Abstand wirft der Politikwissenschaftler Günther Pallaver einen Blick zurück auf die Gemeinderatswahlen. Sinkende Wahlbeteiligung, viele ungültige Stimmzettel, erstarkte Bürgerlisten und abgewatschte Traditionsparteien. Eine zunehmende Personalisierung der Politik, die immer weniger von ethnischen als vielmehr von rationalen Überlegungen der Wähler geprägt wird. So die Kernpunkte seiner Analyse im Morgengespräch auf RAI Südtirol.


Personen vor Parteien, ethnische Bruchlinien verblassen

“Die Stammwählerschaft gibt es so gut wie nicht mehr”, ist sich Pallaver sicher. Die Entwicklung gehe hin in Richtung einer sehr fragmentierten Parteienlandschaft, in der Personen und nicht mehr die Partei im Mittelpunkt stehen. Inhalte werden immer stärker an Personen aufgezogen. Entscheidungsfreudigkeit, Rationalität und Vertrauenswürdigkeit und weniger die Parteibindung werden von den Wählern honoriert. Das führt dann dazu, dass ein Wähler auch schon mal einen Kandidaten einer anderen Sprachgruppe wählt. Der Politologe wagt einen für viele vielleicht unangenehmen Ausblick: “Ich behaupte mal, dass wir uns in Richtung einer postethnischen Ära bewegen. Die ethnische Bruchlinie wird durch andere Bruchlinien überlagert.” Sympathie und Vertrauenswürdigkeit zählen, sprengen sprachliche und kulturelle Ketten. “Und das ist für das Land sicherlich nicht schlecht.”


Parteien lassen Blick weiter schweifen

“Man denke an Salurn, Branzoll oder auch Toblach”, erinnert Pallaver. Insgesamt kandidierten auf vielen Bürgerlisten Deutsche, Italiener und Ladiner gemeinsam. Und in den großen Städten ist man sowieso aufeinander angewiesen. In Meran etwa gibt es deutsche Parteien, die italienische Koalitionspartner brauchen, in Bozen sind es die italienischen Parteien, die sich deutsche Verbündete suchen müssen, um regieren zu können. Dabei schaut man sich immer öfter auch außerhalb der eigenen Parteifamilie um. Wie in Bozen, wo sich der PD eine Bürgerliste aus dem Mitte-Rechts-Lager ins Boot geholt hat.

Im Gegensatz zu den kleineren Gemeinden gehe es in den Städten jedoch weniger um Personen, als vielmehr darum, Koalitionen zu bilden, um Mehrheiten einzufahren, so Pallaver. Denn das aktuelle Wahlsystem – gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht – garantiere zwar eine breite Vertretung aller Parteien und Wähler, doch “wird es immer schwieriger, eine stabile Regierung herbeizuführen”. Andere Länder würden das Wahlsystem ändern, um dieses Problem in den Griff zu kriegen. Für Südtirol erwartet sich der Politologe jedoch keine allzu rasche Änderung: “Auch 2020 wird noch mit dem alten Wahlsystem gewählt werden”, so die Prognose.


Abstinenz bedeutet nicht automatisch Unzufriedenheit

Und dann ist da noch die niedrige Wahlbeteiligung. Für Pallaver keineswegs nur ein Ausdruck der Unzufriedenheit der Wähler. “Die Bindekraft der Parteien hat sicher abgenommen, aber für die geringe Beteiligung gibt es noch eine andere Erklärung, die Mehrfachbindung. Personen, die aus einem bestimmten politischen Milieu kommen und zu einem anderen überlaufen wollen, sind unsicher. Und die Konsequenz daraus ist, man wählt nicht. Das hat aber nichts mit Parteiunzufriedenheit zu tun”, erklärt der Politologe.

“Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs”, so das Fazit des Politikwissenschaftlers. Festgefahrene Parteistrukturen werden aufgebrochen, die Parteien selbst verlieren zunehmend an Bedeutung. Den Wählern geht es um Vertrauenswürdigkeit, Rationalität und Persönlichkeiten. Und nicht um die Zugehörigkeit zur richtigen Partei oder Sprachgruppe.