Wirtschaft | Quo vadis?

Der Visionär

Gespräch mit Christian Girardi, dem Gründer und Organisator des Global Forum Südtirol. Zum siebten Mal fand die Zukunftsplattform heuer statt.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Herr Girardi, wie wichtig ist es heute bereits, sich bereits mit Fragen zu beschäftigen, die in Zukunft auf unser Land zukommen werden? Wäre es nicht naheliegender, sich mit aktuellen Problematiken auseinanderzusetzen?
Christian Girardi: Wir haben uns als Forum zum Ziel gesetzt, Impulse für die Zukunft von Südtirol zu generieren, für die Mitgestaltung einer Vision. So wie in jedem Unternehmen auch. Das kann man runterbrechen auf Familien, auf Einzelpersonen, auf Institutionen. Wichtig ist, dass man sich eine Vision gibt.

Warum?
Eine Vision gibt eine gewisse Orientierung: Wo will ich in 10, 20, 30 Jahren sein? Und dann hat man meistens noch eine Mission und eine Strategie dazu. Ich glaube, Südtirol tut gut daran, sich Gedanken darüber zu machen, was unsere Vision für die Zukunft ist. Sie bietet eine Basis, um wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Denn jede Entscheidung, die ein Unternehmen oder eine Regierung, aber auch der Landtag heute trifft, wird sich in 10 bis 15 Jahren erst richtig auswirken. Deswegen ist es umso wichtiger, dass man in die Zukunft blickt. Vorhersagen machen kann man ja leider nicht. In diesem Kontext ist auch das Thema des heurigen Forums zu sehen.

Das da lautete “Südtirol 2030 – einzigartig oder austauschbar?”
Genau. Vergangenes Jahr hatten wir das Thema “Kanton Südtirol - Utopie oder Modell?”. Da ging es nicht darum, Südtirol an die Schweiz anzugliedern. Sondern herauszufinden, was Kantone besonders macht, Governance-Modelle, Entscheidungsprozesse und direkte Demokratie. Dieser Bottom-Up-Ansatz ist faszinierend.

Sie können Direkter Demokratie etwas abgewinnen?
Ich bin ein Verfechter der direkten Demokratie. Man kann das Schweizer Modell aber nicht eins zu eins auf Südtirol übertragen. Ich vergleiche das gerne mit dem Südtiroler Lagrein: Es funktioniert nicht, die heimischen Reben einfach ins Wallis umzupflanzen, dann wird der Wein nicht gut, zumindest nicht auf kurze Sicht. Dazu braucht es den richtigen Boden. Und der ist in diesem Fall die politische Kultur um auch die direkte Demokratie leben zu können.

Es ist viel schwieriger, etwas zu bewahren als etwas zu kopieren. Dafür muss man viel mehr Energie aufwenden.

Direkte Demokratie – eine Ihrer Visionen für Südtirol 2030?
Eine Vision für 2030 ist sicherlich Mitbestimmung, die wird immer wichtige und bietet die Basis, damit der Wandel, die Veränderung, die ja von innen kommen muss, vonstatten gehen kann. Und von innen kann der Wandel nur kommen, wenn man Ideen und Kreativität zulässt. Wenn man Systeme schafft, die diese Kreativität auch fördert. Ein großes Thema ist in diesem Zusammenhang die Eigenverantwortung. Wenn man Verantwortung überträgt, überträgt man in gewissem Sinne eine Gestaltungsmöglichkeit. Und gleichzeitig auch eine neue Einstellung: Was kann ich beitragen, um die Gesellschaft besser zu machen? Und nicht, was kann die Politik für mich tun.

Das Global Forum Südtirol fand am 2. Oktober an der Freien Universität Bozen statt.

Im Rahmen des heurigen Forums wurde auch über Megatrends und Gegentrends gesprochen.
Immer im Zusammenhang mit den Fragen: Wo will Südtirol in 20, 30 Jahren sein? Wo wollen wir uns differenzieren? Wie bewahren wir unsere Authentizität, unsere Einzigartigkeit? Wir haben auf der einen Seite die Megatrends, denen wir uns nicht entziehen können: Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung und Urbanisierung etwa. Alles Megatrends, die nicht an Südtirol spurlos vorbeigehen. Sie lassen aber auch Gegentrends entstehen: Regionalität, Authentizität, die Suche nach Ruhe zum Beispiel.

Also nicht nur negative Gegentrends, als Widerstand zu den Megatrends?
Keinesfalls. Südtirol hat einige Dinge, die das Land prägen. Von unserer Geschichte geprägt und tief eingeprägt besitzt Südtirol einige Faktoren, die uns einfach unterscheiden. Wir waren ein Bauernvolk, haben mit widrigen Verhältnissen leben müssen. Durch die Geschichte sind wir dann Italienier geworden, haben mit dem auch umgehen müssen. Und die Summe von dem Ganzen gibt uns einen Menschenschlag, der viele Dinge beinhaltet, die andere nicht kopieren können. Weil um das geht es.

Um die Einzigartigkeit?
Gute Sachen in der Welt werden schnell kopiert. Aber wenn du etwas kopieren kannst, dann ist es nicht authentisch. Die Kunst wird sein, es zu schaffen, die einzigartigen Dinge, die Südtirol auszeichnet, so in Einklang zu bringen mit den globalen Trends, dass wir in dieser globalen Welt wahrgenommen werden, dass wir unsere Authentizität bewahren und sie noch schärfer herausheben. Denn wenn man versucht, bildhaft gesprochen, aus einem runden Tisch Ecken und Kanten zu machen, sprich, vielleicht irgendwelchen Trends nachzulaufen, wo wir diese Ecken und Kanten nie im Leben in punkto Einzigartigkeit erreichen können, weil wir das nicht verinnerlichen, dann riskieren wir, dass wir von diesem Tisch viel Substanz wegschneiden. Und Substanz wegschneiden ist genau das, was nicht das Ziel sein sollte. Aber ich muss sagen, dass es viel schwieriger ist, etwas zu bewahren als etwas zu kopieren. Dafür muss man viel mehr Energie aufwenden. Und wenn Südtirol das Einzigartige, was es hat, bewahren möchte, dann muss man sich anstrengen, wirklich herauszufinden, was wir eigentlich sind, was uns von anderen unterscheidet. Und zu überlegen, wo ist unser Platz auf unser Welt? Und dahingehend Visionen und Strategien entwickeln.

Südtirol wird multikultureller, Gott sei Dank. Wir haben Platz. So wie andere Staaten Platz gehabt haben für uns, unsere Ahnen, die ausgewandert sind.

In große Kontexten denken fällt nicht allen leicht. Ist es nicht schwer, eine gesamtheitliche Sicht wie es eine Vision für Südtirol ist, den Menschen zu vermitteln?
Es ist natürlich nicht leicht. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass eine Vision ein Bild von dem, wo man in Zukunft sein könnte, schafft. Ich erinnere mich an die Worte von Norbert Niederkofler am Forum. Er wäre dafür, alle Südtiroler zwischen 18 und 25 Jahren per Gesetz zu einem zweijährigen Aufenthalt im Ausland zu verpflichten. Diesen Vorschlag von Niederkofler kann ich nur bejahen, auch wenn ich eigentlich ein liberal denkender Mensch bin. Doch es würde den jungen Menschen helfen, zu erkennen, wo ihre Werte, wo ihre Wurzeln sind, und was man eigentlich hat an dem Land, an den Werten, an der Identität. Wir müssen über die Grenzen hinaus schauen um uns bewusst zu werden, was wir eigentlich schon haben.

Welche Megatrends kommen abgesehen von den bereits erwähnten auf Südtirol zu?
Die Migration beispielsweise. Migration gibt es seit Jahrhunderten, Jahrtausenden, sie hat nicht vor drei Wochen oder drei Monaten begonnen. Und Südtirol wird auch multikultureller, Gott sei Dank. Wir haben Platz. So wie andere Staaten Platz gehabt haben für uns, unsere Ahnen, die ausgewandert sind. Und wenn wir heute schon wissen, dass unser Land immer älter wird – der demografische Wandel ist ja sehr gut studier- und quantifizierbar – und dass Südtirol – zum Glück – bunter wird, dann muss man aber auch Strategien haben, Antworten auf dieses Phänomen.

Christian Girardi mit David Bosshart, CEO des Gottlieb Duttweiler Institute, Zürich.

Wie könnte eine solche aussehen?
Sicherlich nicht, zu sagen, den brauchen wir nicht und den brauchen wir nicht. Der Tourismus trägt ja dazu bei, dass wir internationaler werden, dass wir mehr Kulturen zulassen und das ist eine Bereicherung. Man muss ja nicht das, was man ist, aufgeben. Aber die Auseinandersetzung und auch die Integration von anderen Kulturen hilft, dich auch selber weiterzubringen. Davon bin ich fest überzeugt.

Ich glaube, Südtirol tut gut daran, sich Gedanken darüber zu machen, was unsere Vision für die Zukunft ist. Sie bietet eine Basis, um wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Denn jede Entscheidung, die ein Unternehmen oder eine Regierung, aber auch der Landtag heute trifft, wird sich in 10 bis 15 Jahren erst richtig auswirken.

Viele Menschen befürchten aber, dass durch die stetige Migration althergebrachte Gleichgewichte aus dem Lot geraten könnten, ja, dass unsere Einzigartigkeit in Gefahr ist?
Gleichgewichte müssen zerstört werden. Wie der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter bereits sagte: “Nur wer Gleichgewichte zerstört, kann wachsen”. Wachstum ist ja immer eher negativ belegt, aber es kann Innovationen mit sich bringen.

In welchem Sinne?
Wo Gleichgewichte in einem System zerstört werden, versucht dieses dann wieder, zum Gleichgewicht zu gelangen. Das ist nicht nur in Wirtschaft so, sondern in allen Systemen. Alle möglichen Theorien und Gesetze der Natur, aber auch der Wirtschaft, sind in einem systemökologischen Kontext zu sehen. Und deswegen ist auch das, was Schumpeter sagt, richtig. Man muss manchmal den Mut haben, zu verändern, Gleichgewichte zu zerstören. Ein Unternehmer macht das tagtäglich wenn er überleben will. Ich bin zum Beispiel felsenfest davon überzeugt, dass es nur jene Unternehmer schaffen, im Ausland erfolgreich zu sein, die mit ihrem Produkt oder ihrer Dienstleistung Authentizität im Rucksack mitbringen und sich damit differenzieren.

Welche sind für Sie nun die Herausforderungen für die kommenden Jahre?
Es ist unbestritten, dass Südtirol eine Riesen-Entwicklung gemacht hat. Wir gehören vom Bruttosozialprodukt pro Kopf zu den reichsten Regionen Europas, haben verhältnismäßig wenig Arbeitslosigkeit und ein soziales System, das funktioniert. Im Vergleich zu anderen stehen wir super da. Wir haben eine Top-Lebensqualität, wir haben Wohlstand. Die Kunst wird es sein, diesen Wohlstand in Wohlbefinden umzumünzen, also in Glück. Und genau das ist das Schwierige: Wie kann ich durch den Wohlstand, den ich habe, mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu diesem Wohlbefinden kommen? Für mich ist das eine Vision, die Geltung haben kann, um die Lebensqualität zu erhöhen. Für alle.

Interview: Lisa Maria Gasser