Politik | Genozide

Wenn nicht Völkermord, was dann ?

Vor 100 Jahren ermordeten die osmanischen Jungtürken hunderttausende von Armeniern. Dass über die Definition dieser Ausrottung gestritten wird, ist ungeheuerlich.

Das Gezeter hoher türkischer Regierungsvertreter wegen der Worte von Papst Franziskus über den Völkermord an den Armeniern reißt nicht ab. Diesmal ist das Gemaule und Gedrohe mehr als die übliche Reflexhandlung türkischer Behördenvertreter, wenn sie auf die Armenier angesprochen werden. Denn Parlamentswahlen stehen vor der Tür und der 100. Jahrestag des Massenmordes an den Armeniern.

Laut türkischer Regierung ist der Tod der 1,5 Millionen Armenier auf einen Bürgerkrieg und die damaligen schrecklichen Hungersnöte zurückzuführen. In den europäischen Geschichtsbüchern steht dagegen, dass die Armenier zu Beginn des Ersten Weltkriegs aufgrund ihrer Volksgruppe deportiert und ermordet wurden. Also: ein Völkermord, und zwar der erste des 20. Jahrhunderts, wie Papst Franziskus richtig präzisiert hat.

Historiker haben auch belegt, dass sich Adolf Hitler an diesem Genozid "inspiriert " hat, als er die Vernichtung der Juden beschloss. Deutschland und Österreich waren im ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet, in dem die Jungtürken unter Kemal Atatürk zunächst militärische Erfolge verbuchten. Hitler hatte also Gelegenheit, die Ausrottung der Armenier in der Türkei mitzuerleben und - nachzuahmen.

Deutschland hat die Schuld für den Holocaust anerkannt und - wenn auch nur teilweise - dafür gebüßt. Dass es der Türkei nicht gelingt, eine Schuld anzuerkennen und mit anderen Volksgruppen entspannt umzugehen, gehört zu den großen Schwächen der aufstrebenden Nation. Nicht nur die Armenier sind den Türken ein Dorn im Auge. Den Kurden, die den armenischen Völkermord als Handlanger Atatürks sozusagen " erledigt haben", ging es in der Nachkriegstürkei nicht besser.   

Bis heute gelten die Kurden in der Türkei als "Fremdkörper", der zu entschärfen, beziehungsweise auszuschalten ist. Daran ändern auch die jüngsten "Annäherungsversuche " durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan nichts. Er bemühte sich um ein Abkommen mit den Kurden, um sie im Gegenzug an seine AKP-Partei zu binden. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen.

Vor einem Jahr unternahm Erdogan auch einen Versöhnungsversuch mit Armenien.  Er sprach den Enkeln der Opfer sein Beileid aus,  fügte aber im selben Atemzug hinzu, 1915 hätten alle gelitten. Auch Muslime seien von Armeniern unterdrückt worden. Das erinnert an die Naziparolen gegen die Juden, denen vorgeworfen wurde, das deutsche Volk auszupressen....

Tatsache ist, dass die Armenier eine bessere Schulbildung als die durchschnittliche osmanische Bevölkerung hatten und deshalb entsprechend höhere Positionen einnahmen. Das reichte, um Jagd auf eine Volksgruppe zu machen und sie auszurotten.

Dass die Türkei aber derart insistiert mit der Behauptung, bei der Deportation und Ermordung der Armenier handle es sich nicht um Genozid,  hat einen Grund.  Am 17.12. 2013  veröffentlichte der Europäischen Gerichtshofs ein Urteil, in dem es heißt,  dass die Leugnung des Völkermords an den Armeniern ein "Ausdruck der Meinungsfreiheit" sei . Die Leugnung dieses Völkermordes sei darum gerichtlich NICHT zu ahnden. Die Leugnung des Holocaustes dagegen sei weiter gerichtlich zu belangen.

Und was heißt das? Ab wann darf eine Massentötung als Genozid bezeichnet werden? Nur wenn allierte Mächte wie die USA und Russland direkt vor Ort, also in einem Konzentrationslager, den Völkermord feststellen? Auch die Armenier haben Fotos und sogar ein blasses Filmmaterial über ihre Vertreibung und das grausame Verhungern von Alten und Kindern in Höhlen und in der Wüste.

Oder hängt die Definition von Völkermord und die Ahndung der Leugnung  von den Zahlen der Vernichteten ab? Sechs Millionen ermordete Juden gegen 1,5 Millionen getötete Armenier? Und wie wird die Ausrottung der Stämme, beziehungweise der Volksgruppen  in afrikanischen Staaten klassifiziert?   

Dieser Streit über die Definition von Genozid ist eine Schande. Mir fehlen die Worte.  

 

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gorgias Sa., 18.04.2015 - 17:17

Was ist der Unterschied zwischen Deutschland und der Türkei?

In Deutschland bekommt man Konflikte mit dem Gesetz wenn man die Schoa verleugnet, in der Türkei wenn man über den Völkermord an die Armenier spricht.

Die Türkei gehört nicht zu Europa, nicht in erster Linie weil es nicht christlich ist, sondern, weil dort keine Aufklärung stattgefunden hat, wie in Europa und weil es mit seiner unreflektierten und unkritischen nationalistischen Haltung unfähig ist den Geist der europäischen Projekts aufzunehmen.

Sa., 18.04.2015 - 17:17 Permalink
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Sepp.Bacher Sa., 18.04.2015 - 18:00

"Und wie wird die Ausrottung der Stämme, beziehungsweise der Volksgruppen in afrikanischen Staaten klassifiziert?" Welche Stämme und Volksgruppen, bzw. welche Staaten sind da gemeint?
Es scheint Parallelen zwischen den Armeniern im Osmanischen Reich und den Juden in Deutschland zu geben was die gesellschaftliche Stellung betrifft. Ich habe gelesen, dass die Armenier im Krieg mit den Russen bandelten und die Jungtürken das als Verrat, als Feindschaft auslegten. So schlimm auch beide Tragödien sind: die Armenier wurden nicht systematisch in Vernichtungs-Fabriken gekarrt und vergast. Darin besteht ein kleiner Unterschied. Ich könnte mir vorstellen, dass der Europäischen Gerichtshofs auch ähnlich argumentiert hat. Aber ein Massaker bleibt es allemal.
Übrigens Frau Brugger, wie nennt man die Massaker die z. B. Stalin, Mao, oder andere "Schlächter" zu verantworten haben?

Sa., 18.04.2015 - 18:00 Permalink
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Philipp Trafojer Sa., 18.04.2015 - 19:43

Antwort auf von Sepp.Bacher

Die Reaktionen auf einen klaren Artikel sind gelegentlich etwas seltsam: "Übrigens, wie nennt man die Massaker...".
Es gibt eine klare Definition für Völkermord, die jedem geschichtlich Interessierten bekannt sein sollte. Viele der Verbrechen von Stalin, Mao und Konsorten erfüllen klar diese Definition.

Die Liste der Völkermorde des Zwanzigsten Jahrhundert ist sehr lang. Wer einen raschen Einblick in die Thematik erlangen will, dem sei Daniel J. Goldhagens Buch "Schlimmer als Krieg" empfohlen. Darin geht der Autor auch auf die Frage ein, warum klar erkennbare Völkermorde nicht als solche anerkannt werden.

Kommt es zu einem Völkermord wären die Mitglieder der UNO zur Intervention verpflichtet, aber wer will heute schon gegen den IS in den Krieg ziehen? Der Völkermord an den Jesiden fand und findet vor unser aller Augen statt!

Übrigens, mit welchen Mitteln ein Völkermord begangen wird, ist irrelevant: ob mit der aus China importierten Machete (Ruanda), ob mit der Schaufel und dem Plastiksackerl (Kambodscha), ob durch Hungermärsche (Aghet), ob durch Draht (Indonesien) oder durch Gas, Genickschuss ....... das spielt nur eine unwesentliche Rolle und ändert nichts an der Verantwortung der Täter: jener die den Völkermord begehen, wie auch jener die ihn geschehen lassen. Es ändert übrigens wenig an der Effizienz des Tötens (siehe Babij Jar).

Es geht in einem Völkermord um Menschen, die allein wegen ihrer Existenz zielgerichtet getötet wurden und werden. Tote gegen Tote aufzurechnen, Gas gegen Hunger, Platiksackerl gegen Machete ist schäbig und nicht mehr....

Sa., 18.04.2015 - 19:43 Permalink