Chronik | Provinzwahlen

Perpetuum demokratikum talianum

Die Schauergeschichte der anstehenden „Provinzwahlen“ zeigt in erschütternder Weise das wahre Gesicht der Reform des fünften Verfassungsartikels.

Die Rahmenbedingungen

Da war dieser eine Blog-Eintrag von Beppe Grillo neulich unter #balladopoballa:

Il gattopardismo del Governo Renzi ha già fatto scuola. Nella conversione in legge del Dl Pubblica Amministrazione del 7 agosto 2014 è stata inserita una postilla (all'articolo 23, comma 84 del paragrafo f-bis) grazie alla quale le Province, mai abolite e tuttora attive, dovranno continuare ad erogare ricchi rimborsi spese a consiglieri e a Presidenti peraltro non più eletti ma nominati dalla politica stessa.

Bezogen hatte sich das auf eine kleine Änderung im Gesetzestext, die nach dem Treffen der Regionen mit dem Staat eingefügt wurde:

(Lettera così modificata dalla legge di conversione 11 agosto 2014, n. 114 f-bis) al comma 84 è aggiunto, in fine, il seguente periodo: “Restano a carico della provincia gli oneri connessi con le attività in materia di status degli amministratori, relativi ai permessi retribuiti, agli oneri previdenziali, assistenziali e assicurativi di cui agli articoli 80, 84, 85 e 86 del testo unico”

Abgerundet wird das Bild mit einer von Lanzetta vor wenigen Tagen unterschriebenen Vereinbarung:

Wir erinnern uns: Delrio hat die Italienischen Provinzen abgeschafft. Vor der Reform des Artikels V der Verfassung waren die Provinzen mit Normalstatut einige wenige Themen lokal verantwortlich. Jetzt, nach langem Hin und Her und renzianischer Reformschlagkraft wurden die Provinzen zu Aree Vaste degradiert, sind aber immer noch fürs Gleiche zuständig wie vorher. Dass selbst offizielle Dokumente immer noch von „Province“ sprechen, sei ein Sinnbild für die Absurdität des Vorhabens.

Massimo Garavaglia von der Lombardischen Lega prophezeit das Scheitern der Reform “Si è sentito di fatto il fallimento della riforma Delrio”. Der zuständige Lombardische Sottosecretario Daniele Nava vom Ncd („si celebra il funerale della legge Delrio“) versucht sich mit pragmatischer Konstruktivität:

Il nostro obiettivo fondamentale deve essere, oggi più che mai, quello di fare in modo che l'applicazione della Legge Delrio abbia un impatto il meno negativo possibile sui cittadini. Su questo ci deve essere la massima unità d'intenti. […] Per quanto riguarda le funzioni delegate negli anni da Regione Lombardia, d'accordo con il presidente Maroni, si è deciso di lasciare alle Province le competenze attuali, monitorando attentamente la situazione. È chiaro che bisognerà vedere se le Province saranno in grado di esercitare senza problemi queste deleghe.

Non va dimenticato inoltre che, parallelamente, si sta discutendo una riforma del Titolo V della Costituzione, per cui non sappiamo cosa succederà tra un anno. Se la volontà del Governo verrà esaudita, le Province non ci saranno più.

Dass die Reform keine Kosteneinsparung einbringen wird, hatte die UPI (Unione Province d’Italia) schon immer protestierend vorgerechnet, aber dass die Quadratur des Kreises so dreist versucht wird, ist neu. In keinster Weise sollen den Provinzen Verwaltungspflichten entzogen werden. Es geht nur darum, Provinzen politisch klein zu halten. Das Subsidiaritätsprinzip beschränkt sich auf ausführende Elemente, wie das Beheizen von Schulen und das Räumen von Schneefahrbahnen.

Provinzwahlen

Inmitten dieser Rechtssicherheit sollen in den Aree Vaste Wahlen abgehalten werden. Wir erinnern uns: Der große Wurf in Sachen Subsidiarität, Demokratisierung und Krisenbewältigung bezieht sich schließlich auf das kostensparende Verwaltungssystem der Aree Vaste samt zugehörigem Wahlsystem.

Das, was früher einmal die Provinzregierung war, ist heute eine Versammlung einiger auserkorener Bürgermeister. Das, was wir Landeshauptmann nennen würden, ist eben ein ganz normaler Bürgermeister, den die Bürgermeisterversammlung zu ihrem Alpha-BM erklärt. Genau: Gewählt werden auserkorene BMs und Alpha-BM von allen Bürgermeistern der ehemaligen Provinzen. Damit kein Alpha-BM Wurzeln schlägt, kommt nach zwei Jahren der nächste dran.

Also, die selben Zuständigkeiten wie vorher, aber weniger Poltrone, sprich weniger Bezüge. Die Bürgermeister, die vorher bestimmt ganz unterbeschäftigt waren, bekommen jetzt einen Freizeitjob oben drein. Ein Stündchen am Abend noch schnell in die Rolle des Landesrats schlüpfen. Im Ehrenamt verdient man sich eben Lorbeeren und nicht die Brötchen. Selbstverständlich wird am Arbeitspensum des bisherigen, regulären 8-Stunden-Tages nicht genagt. Sonst würden ja auf Gemeindeebene neue Kosten, sprich Poltrone entstehen und das wundersame Perpetuum Mobile würde sich dem Impulserhaltungssatz verweigern.

Theorie ist bekannt und simpel und als renzianisches Naturgesetz unwiderlegbar. In der anstehenden Umsetzung in die Praxis kommen die Vorteile des neuen Systems erst so richtig zur Geltung: Man könnte sich ja erwarten, dass der Bürgermeister der jeweiligen Landeshauptstadt am meisten Stimmgewicht um sich scharen könnte und somit per Definition Spitzenkandidaten für die Alpha-BM-Rolle wäre. Weit gefehlt: Da die Bürgermeister der größeren Ortschaften tendenziell als gut beschäftigt gelten und der Tag auch dort nur 24 Stunden hat, lässt man sich in der Praxis erst den Bauch bepinseln, um dann notgedrungen dem Bürgermeister eines Kuhdorfes den Vorrang zu lassen. Letzterer hat vielleicht die Ausbildung zum Personal Time Management oder jene zum Work-Life Balance Management noch nicht besucht und könnte sich auf das Abenteuer einlassen.

Die dramatischen Geschehnisse im Belluno

Folgerichtig war Jacopo Massaro, BM der Stadt Belluno, nie ernsthaft als Kandidat im Gespräch. Nichtsdestotrotz versuchte er natürlich die Fäden in der Hand zu halten und bei der Bestimmung des Alpha-BM ein Wörtchen mitzureden. Ja richtig gelesen. Bestimmung. Nicht Wahl. Massaro hat nämlich die auf ersten Blick vernünftige Losung ausgegeben: „presentare un fronte unito e un programma altrettanto unitario“. Will heißen: Wir wollen nach außen geschlossen auftreten und einigen uns bereits im Vorfeld der Wahlen auf einen einzigen Kandidaten, der dann 100% der Stimmen erhält. In Richtung Rom und der Region kann ein einstimmiges Votum wohl tatsächlich Stärke und Entschlossenheit demonstrieren. Im Inneren gibt es im Vorfeld die Möglichkeit auch mit nicht rein demokratischen Mitteln ordentlich mitzumischen.

Genug des Maskulinums: Im Bellunesischen wurde man sich schnell einig, dass der ideale Alpha-Bürgermeister zwei Bedingungen erfüllen sollte. Erstens sollte er weiblich sein und zweitens Bürgermeisterin einer Gemeinde der sogenannte Terre Alte. Letzteres lässt sich daraus ableiten, dass selbst im Delrio-Gesetz die Montagna eine leichte Sonderrolle zugestanden bekam. Eine Welle, die man jetzt auch entsprechend reiten will.

Was Massaro aber wohl nicht bedachte, war, dass die römische Allianz zwischen PD und Forza Italia auch in der lokalen Area Vasta den Großteil der Bürgermeister stellt. So öffnete seine Losung weniger ihm selbst, sondern vielmehr dem langen Arm Roms die Möglichkeit durchzugreifen. Und genau dies wurde in den letzten Wochen immer offensichtlicher. So offensichtlich, dass es sogar einigen PD-Bürgermeistern zu viel wurde. Ihrer zehn, die sogenannten „saggi“ scherten aus und machten sich auf die Suche nach einer eigenen Kandidatin.

Unter den Revoluzzern findet sich Massaro selbst, aber auch Daniela Larese Filon, Bürgermeisterin Auronzos, dessen Referendum zum Wechsel nach Südtirol gerade „gescheitert“ war. Sie wurden fündig und fanden in Vania Malacarne, Bürgermeisterin von Lamon, eine geeignete Kandidatin. Allerdings fielen Malacarne Aktivisten der eigenen Gemeinde in den Rücken. Sie wurde mit einer Unterschriftensammlung daran erinnert, dass sie dafür gewählt wurde, um den Wechsel ihrer Gemeinde ins Trentino anzuführen, und nicht um in der Bellunesischen Area Vasta Karriere zu machen.

So bekamen die Autonomisten des BARDs (Belluno Autonoma Regione Dolomiti) Panik. Der BARD ist ja nicht als Partei organisiert und stellt somit keine Bürgermeister. Obwohl etwa zwanzig Bürgermeister offen mit dem BARD sympathisieren, hat der BARD keinen direkten Einfluss auf die Selektion der Alpha-Bürgermeisterin. Seine moralischen Aufrufe klatschten bei der PD/FI-Allianz mit schallenden Gelächter ab. Um doch noch eine Gegenkandidatin aus dem Hut zu zaubern, verbündete er sich in Ultima Ratio überraschend mit der Lega. Die Wahl fiel auf die Bürgermeisterin von Santo Stefano di Cadore, Alessandra Buzzo

Allerdings scheiterte das Vorhaben an einem äußerst smarten Schachzug der PD/FI-Allianz: Sie nominierten oben genannte „saggia“ Daniela Larese Filon zur Alpha-Bürgermeisterin-Kandidaten. Der BARD musste erkennen, dass weitere, hartnäckige Manöver einen Keil in die Belluneser Politszene treiben würde. Buzzo und Malacarne zogen ihre Kandidatur zurück. Der BARD fühlte sich bemüßigt, in einer Presseaussendung der zukünftigen Präsidentin die volle Unterstützung zuzusagen.

Die Privatmeinung des BARD-Gründungsmitglieds Tomaso Pettazzi verdeutlicht indes das Zähneknirschen:

Quanto alla Larese Filon, l’unico giudizio che posso dare è che con lei a capo dell’area vasta si porrà la pietra tombale sull’idea autonomistica bellunese, se mai i Bellunesi l’avessero coltivata.“

Neueste Pressemeldungen, nach denen der beschädigte BARD sich trotzdem noch einmal aufraffen will, klingen schon fast trotzig. Das Schicksal scheint besiegelt, aber dass der PDler Marco Reato aus Sovramonte nach wie vor unterstützt, zeigt, welche innerparteilichen Bruchlinien gerade entstehen. Der PD wird's wohl überstehen, der BARD zeigt aber ernste Auflösungserscheinungen: Neben Pettazzi wirft ein weiteres Gründungsmitglied, Adolfo Bortoluzzi, das Handtuch.

So darf Belluno nach drei Jahren kommissarischer Verwaltung am 12. Oktober endlich wieder den Präsidenten demokratisch wählen. Der langersehnte Tag wird nichts weiter als das formale Abnicken der schon lange gefallenen Würfel.

Area Vasta di Valtellina e Valchiavenna

Der Blick nach Sondrio ist nicht weniger ernüchternd: Die dortige Autonomistenbewegung Autonomia Valtellina Valchiavenna ließ die Mitbürger wissen„aperti a tutti, alleati di nessuno“. Eine diplomatische Formulierung des Misstrauens gegenüber den beiden zur Verfügung stehenden Kandidaten. Es ist schon paradox: Die Rätischen Autonomisten hatten die gleiche Losung ausgegeben wie der Belluneser Kollege Massaro: Ein im Vorfeld bestimmter gemeinsamer Kandidat sollte nach außen Stärke und Entschlossenheit demonstrieren.

Die Rechnung ging aber nicht auf. Zwei Kandidaten werden demokratisch gegeneinander antreten: Luca Della Bitta (centro destra, BM von Chiavenna, ehemals BM Verceia) und Franco Spada (PD, BM von Tirano). Keiner hatte sich allerdings bis dato als ausgeprägter Autonomist erwiesen. Beide müssen erst von oben genanntem Nava, also seitens der Region Lombardei (sic!) auf die Specificità montana eingestimmt werden. Gegen den Einfluss der großen Parteien hatten die Autonomisten eben auch im Sondrio keinen Meter. Mit Blick auf die Ereignisse im verbündeten Belluno postete Autonomia Valtellina Valchiavenna auf Facebook nachdenklich:

In realtà anche avere un candidato unico può creare del malcontento….Ogni realtà ha degli aspetti degli assetti e degli esiti auspicabili a se stanti. Ma forse se le liste sono 'uniche' devono solo essere istituzionali, inclusive e non tenere fuori dalla porta nessuno.

Die neue Demokratie all’Italiana

Und so müssen wir erfahren, dass unsere beiden nächsten Nachbarn einer unheilvollen Zeit entgegensehen. Die großen Verlierer in Sondrio wie Belluno stehen fest: Es sind die dortigen Autonomiebewegungen. Wir lernen die Genialität des indirekten Wahlsystems kennen: Die politische Kaste kann sich mit Leichtigkeit behaupten und nationale Interessen bei der Bestimmung der Alpha-Bürgermeister durchsetzen. Renzi und Berlusconi regieren bis in den letzten Winkel des Landes. Jede neue politische Kraft muss erst in etlichen Gemeinden den Bürgermeister stellen, bevor sie auf Provinzebene ernsthafte Impulse setzen kann. Weiterer Disagio ist somit vorprogrammiert. Was auch immer Renzi mit seinen Reformen bezweckt, dass motivierte Bevölkerung den Italienischen Karren aus der Krise zieht, kann sein Ziel jedenfalls nicht sein.