Politik | Türkei

Unterwegs zum autoritären Staat von Erdogans Gnaden

In der Türkei geht die Rede von der Wiedereinführung der Todesstrafe. Sollte sie kommen, droht die EU mit Aussetzung der Beitrittsverhandlungen. Und die Kurden?
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Die Wiedereinführung der seit 2003 in der Türkei abgeschafften Todesstrafe wäre nur der Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Akt, der das schon laufende staatliche Töten halt legalisiert. Denn in der Praxis gibt es heute schon extralegale Tötung von Oppositionellen aller Art durch das Regime. Im Zuge der blutigen Unterdrückung des Aufstands kurdischer Jugendlicher in Türkisch-Kurdistan sind laut Türkischer Menschenrechtsstiftung seit August 2015 338 Zivilisten umgekommen. Die tatsächliche Opferzahl soll viel höher liegen. Die Gewalt der Spezialeinheiten von Polizei und Militär gegen unbewaffnete Zivilisten und einige bewaffnete Jugendliche in den kurdischen Städten war völlig überzogen, eigentlich ein Krieg.

Etwa 15.000-20.000 Soldaten haben ganze Stadtviertel in Silopi, Sirnak, Cizre, Yüksekova, Diyarbakir usw. mit schweren Waffen beschossen und anschließend Haus für Haus zerstört. Eine Form der Repression, die von Israel übernommen worden ist. Demonstranten und jugendliche Aufständische sind zur Tötung freigegeben worden. Mit Kampfpanzern sind mehr als ein Dutzend Städte zerstört worden, eine Million Menschen obdachlos und zu Vertriebenen in der eigenen Heimat geworden. Mit solchen Politikern nehmen dann EU-Regierungschefs am nächsten Tag auf goldenen Thronsesseln Platz, um über die Flüchtlingsfrage zu verhandeln oder begrüßen sie auf NATO-Gipfeltreffen.

Erdogan hat schon im März 2015 jeder konstruktiven Lösung der Kurdenfrage in der Türkei den Rücken gedreht. Die Verhandlungen zwischen der Regierungspartei AKP und der Kurdenpartei HDP waren damals mit einem 10-Punkte-Programm abgeschlossen worden, die der Machthaber nicht anerkannt hatte, im Gegenteil. Er ordnete aus seinem Machtkalkül heraus neue Angriffe auf die PKK an, die Polizeiwillkür gegen Kurden nahm zu und nach dem Wahlerfolg der HDP schritt Ankara zur Eskalation der Gewalt in den kurdischen Städten. Damit hat Erdogan schon ein Jahr vor dem Putsch von voriger Woche gegen die Kurden der Türkei eine Gewaltkampagne sondergleichen eröffnet. Unter den jetzigen Bedingungen der systematischen „Säuberung“ des Staats von allen irgendwie nicht linientreuen Personen kann dies nur noch schlimmer werden.

Nachdem die Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben ist, droht ihnen jetzt Verhaftung und Gefängnis. Die kurdisch verwalteten Kommunen werden vermutlich unter staatliche Aufsicht gestellt. Die Androhung der Einführung der Todesstrafe wird Millionen von verfolgten Kurden nicht sonderlich beeindrucken, sie leiden heute schon unter massivem Staatsterror mit extralegaler Tötung. Bemerkenswert, dass Mogherini, Steinmeier und Co. erst jetzt mit Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei drohen, während der seit einem Jahr andauernde Staatsterror gegen die Kurden der EU und die gesamte Menschenrechtslage in der Türkei keine solche Drohung wert ist.

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Christian Mair So., 24.07.2016 - 15:56

Wer auch immer den Putsch in der Türkei angezettelt hat. Interessant und lohnend ist eine Auseinandersetzung mit der Gülen- Bewegung. Hier ein Artikel aus dem Jahre 2012:
"In der Türkei finde laut Çetin der “moderate” Islam vor allem in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen seinen Ausdruck. Die Ideologie dieser Sekte, die ein islamisches Großtürkentum propagiert und deren Mitglieder weite Teile des Sicherheitsapparates besetzen, habe in der Türkei den Säkularismus des Republikgründers Kemal Atatürk abgelöst. In der Folge würde man nunmehr darangehen, unter Berufung auf den sunnitischen Islam die Kurden endgültig zu türkisieren. Ähnliche Entwicklungen ließen sich in den Ländern des Nahen Ostens beobachten, wo mit Hilfe der zum Teil verbotenen Moslembruderschaft der Widerstand der Menschen gegen die neoliberale Wirtschaftslogik im Keim erstickt werden soll. Deswegen erfährt Gülen die starke Unterstützung der USA, wo er seit 1999 residiert." aus http://civaka-azad.org/der-gemaessigte-islam-nur-eine-maske/

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Thomas Benedikter So., 24.07.2016 - 18:51

Hier kann ein Appell an die EU unterzeichnet werden, der die EU auffordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort aussetzen. Sie muss entschlossene Schritte unternehmen, um sicher zu stellen, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gewahrt werden. Mögliche Maßnahmen können unter anderem sein, eine EU-Beobachtermission zu entsenden, die die Entwicklung der Grundrechte und des Rechtsstaats verfolgt. Es gilt die türkische Zivilgesellschaft zu stärken, aber auch den Dialog mit der türkischen Regierung über Verbesserungen der Lage aufrecht zu erhalten: https://act.wemove.eu/campaigns/erdogan-genug?utm_source=campact&utm_me…

So., 24.07.2016 - 18:51 Permalink
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Thomas Benedikter So., 24.07.2016 - 18:57

Vielen Dank, Oliver, für den Link zum lesenswerten Beitrag in DIE PRESSE zur russisch-türkischen "Versöhnung". Sehr treffend der Abschluss: "Was Erdoğan mit der türkischen Gesellschaft treibt, dürfte Putin eher kaltlassen. Zumal er sich in seinem Russland ebenso Einmischung verbittet. Die Repression nach Innen ist ein Punkt, an dem sich Autokraten verschiedener Couleur treffen und in dem Putin und Erdoğan tatsächlich ihren historischen Vorbildern, Zar und Sultan, gleichen."

So., 24.07.2016 - 18:57 Permalink