Kultur | Debüts

Der Tumler-Preis 2015

Alles Frauen. Die nominierten Autorinnen für den Tumler-Preis stehen fest. Diese fünf Bücher gehen im September ins Rennen. Textauszüge.
  • Kristine Bilkau: Die Glücklichen. München: Luchterhand Literaturverlag 2015
  • Sandra Gugić: Astronauten. München: C.H. Beck Verlag 2015
  • Petra Hofmann: Nie mehr Frühling. Wien: Picus Verlag 2015
  • Margit Mössmer: Die Sprachlosigkeit der Fische. Wien: Edition Atelier 2015
  • Gesa Olkusz: Legenden. Salzburg: Residenz Verlag 2015
Die Glücklichen von Kristine Bilkau


"es ist dunkel und der abendverkehr schiebt sich langsam durch die straße vor dem Haus, die lichter der autos schimmern hinter dem Plastikvorhang, die gesamte außenwelt verschwimmt hinter der Plane und dem Baugerüst. ein Zustand, der sie nicht sonderlich stört, im Gegenteil, der gar nicht so schlecht ist, wie die nachbarn finden, die im treppenhaus nörgeln, wie lange denn noch. Die milchige Hülle macht die Wohnung zu einem verborgenen raum, sie verbreitet ein Höhlengefühl. tagsüber filtert sie das licht und lässt es geschwächt in die Zimmer, nachts ist sie wie ein schützender Mantel. isabell stellt sich ihren ahornbaum hinter dem Gerüst vor. Die feinen anzeichen der Jahreswechsel bemerkt sie an ihm zuerst; wenn sich an den Zweigen Knospen bilden und tage später hellgrüne spitzen, wenn sich die Blätter rot und gelb färben und nach drei, vier stürmischen nächten die Äste kahl sind, und sie Georg mitteilen kann: Wir haben Frühling; bald ist Winter. Während sie die Plane betrachtet, sieht sie den Baum in all seinen Details vor sich. Das handtellergroße, gezackte ahornblatt löst sich wie zufällig von seinem Zweig und fällt langsam, kreiselnd, vom Wind getragen. sie hat ihre straße vor dem auge, die Fassaden in Hellblau, lindgrün und aufreizendem Himbeerrot mit weißen Ornamenten, nach und nach herausgeputzt während der letzten Jahre. Dazwischen, wie kümmerliche Provisorien, Häuser aus stadtschmutzigem Gelbklinker. Gegenüber die Hutmacherei und der Feinkostladen mit seinem Bistro, daneben das kleine Geschäft, in dem es überteuerte, schöne Dinge gibt: rosenseife aus Portugal, alpakaDecken aus norwegen, strickpullis einer südfranzösischen Manufaktur. Die hohen Fenster des Yogastudios im ersten stock, darin am späten nachmittag die umrisse der Körper, ihre synchronen Bewegungen im warmen licht. Die Zweige der hochgewachsenen Bäume über den Dächern der parkenden autos. alles, ihr Zuhause. sie reißt einen kleinen Zettel in Hälften und beginnt zu schreiben. Meine Hände werden nicht zittern. …"

Aus Die Glücklichen von Kristine Bilkau. Roman. München: Luchterhand Literaturverlag 2015

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Kristine Bilkau, 1974 geboren, war 2008 Finalistin des Literaturwettbewerbs Open Mike in Berlin und 2009 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. 2010 erhielt sie das Stipendium des Künstlerdorfes Schöppingen und 2013 nahm sie an der Bayerischen Akademie des Schreibens des Literaturhauses München teil. Sie arbeitet als Journalistin für Frauen- und Wirtschaftsmagazine und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. „Die Glücklichen“ ist ihr erster Roman.

 

Astronauten von Sandra Gugić

"I. DARKO «Gott ist ein Astronaut», sagt Zeno und tritt seine Zigarette aus. Wir stehen vor der roten Ziegelmauer, die den Park zur Straße hin begrenzt, und betrachten eine Weile schweigend das noch unbeschriebene Stück Mauer vor uns. Die Stadt gehört uns steht rechts davon, links Meine Mutter nennt mich Hurensohn. Beides Werke von Zeno, auch wenn er darauf besteht, dass er nur den Hurensohn gesprayt hat, weil ihm das mit der Stadt mittlerweile peinlich und abgegriffen vorkommt, sprayt doch jeder, außerdem gehört uns die Stadt nicht. Wenn sie einem gehört, dann nicht uns, nur der Park, der Park ist unser.
Der Park liegt nur dreihundert Meter vom Casino entfernt hinter dem lang gezogenen Gebäudekomplex des Theaters. Also auf der einen Seite, Schulter an Schulter, Theater und Casino mit dem verschnörkelten Springbrunnen und dem akkurat gemähten Rasen davor und auf der anderen der Park. Im Festsaal des Casinos finden die Partys und Abschlussbälle der Privatschulen statt, Unterrichtssprachen Französisch und Englisch, dort sitzen abends die Mädchen kichernd auf den Treppen, in Cocktail- oder Ballkleidern, je nachdem, ein Martiniglas in der Rechten, Zigarette in der Linken, nein, andersrum, nur das Kleid nicht ansengen, also die Zigarettenhand weit weghalten, ein leichtes Schwanken und Tänzeln auf den zu hohen Absätzen, Frisur und Make-up gegen Ende des Abends, wie alles, an der Grenze zur Auflösung. Die Jungs in Anzügen, die Haare mit Gel nach hinten gekämmt oder kunstvoll verstrubbelt, die älteren fahren in den Autos der Väter vor, der Lack glänzend, die Wagen frisch aus der Waschanlage, Fenster heruntergekurbelt, Zigarette im Mundwinkel. Die Mädchen zücken ihre Kameras, schürzen die Lippen und posen angestrengt sexy für das perfekte Bild, quetschen sich zu dritt vor die Linse, fallen lachend auf den Rasen, nur das Kleid und die Schuhe nicht ruinieren, Zeno sagt, dabei sollten sie, sowieso und erst recht. Minuten, Stunden später wird das Geknutsche und Gefummel vor dem Springbrunnen losgehen, auf dem Parkplatz und zwischen den Säulen. …"

Aus Astronauten von Sandra Gugić. Roman. München: C.H. Beck Verlag 2015

 
Sandra Gugic, geboren 1976 in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien und dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt als freie Autorin in Berlin und Wien.

 

Nie mehr Frühling von Petra Hofmann
 
"Auf dem Küchenboden liegt sie, vor dem Herd, zusammengekrümmt.
Sie regt sich nicht.
Mutter?, sagt Paul.
In den Kleidern liegt sie da, die dünnen Beine in den Gummistiefeln.
Paul hält den Türgriff fest umklammert. Er kann nicht weitergehen und nicht umkehren. Er schließt die Augen.
Bevor er sie wieder öffnet, dreht er den Kopf weg, und dann fällt sein Blick auf den Strohhaufen neben dem Herd. Einzelne Halme und Büschel und die Wolldecke liegen zerwühlt daneben.
Paul lässt den Türgriff los, macht einen Schritt auf die Mutter zu.
Er sieht in ihr Gesicht, verzerrt ist es, der Mund aufgerissen, die einzelnen dunkelgelben Zähne darin sind übergroß, die Augen verdreht, blicklos.
Dass er jetzt über ihr steht, kommt ihm falsch vor. Und müde ist er auf einmal, unendlich müde, auf eine Weise, die ihm fremd ist. Er sinkt in die Hocke, legt beide Hände auf den Mund, reibt sich die Stirn, die Wangen. Ihm wird übel. Und doch muss er hinsehen, muss ihre Fratze betrachten, die kurzen grauen Fusseln auf ihrem Schädel, ihre schmale Gestalt in den zerlumpten Kleidern.
Ihre Arme auf dem Steinboden. Die Finger gebogen wie eingezogene Krallen, blaue Flecken an den Innenflächen der Hände. Packen möchte er die Mutter jetzt, sie schütteln, wach auf, möchte er schreien, verfluchtes Weibsstück, du elende Kreatur! Aber er hockt nur da und ballt die Hände zu Fäusten. Soll es das jetzt gewesen sein, will er schreien, und unerträglich ist ihm jetzt ihr Gestank, dieser widerliche Gestank nach Urin und altem Schweiß und Moder. Ihn ekelt, und in seine Abscheu, sein Entsetzen drängt sich auf einmal mit Wucht ein unbändiges Verlangen nach seiner Frau. Er möchte sich zu ihr legen, ihren lebendigen Körper spüren, ihre warme Haut. Er möchte sich ausruhen, schlafen. …"

Aus Nie mehr Frühling von Petra Hofmann. Roman. Wien: Picus Verlag 2015

 
Petra Hoffmann wurde in Süddeutschland geboren, ist 56 Jahre alt. Sie ist Lektorin und freie Regisseurin und lebt seit vielen Jahren in der Schweiz.

 

Die Sprachlosigkeit der Fische von Margit Mössmer

"Gerda in London
Gerda hatte das West End schon immer verabscheut. »Diese heuchlerische Gegend«, sagte sie gerne, »die einem ein London vorspielt, das es nie gegeben hat, nie geben wird. Diese schicken Häuser von Notting Hill, deren rote, blaue, türkise Türen ja nur in die Bedeutungslosigkeit einladen.« Darum hielt sich Gerda seit Jahren im Osten der Stadt auf. Authentizität, sagte sie sich, Authentizität. Zum Jahreszeitenwechsel ging sie zu Anoop Akhtar, dem Schneider. Anoop war nicht der beste Schneider in Whitechapel, aber er hatte die schönsten Stoffe. Gerda liebte deren Geruch und unterschiedliche Beschaffenheit. Samt, Spitze, Besticktes, weich fließende Baumwolle und Leinen.
Anoops Geschäft lag am Ende der Brick Lane, in einem kleinen aus Backstein gebauten Haus, das zur Straße hin keine Fenster hatte, nur eine Tür mit bunten Glasscheiben. Anoop ließ das Maßband von Gerdas Schulter bis zur Hüfte hinunterhängen und fasste ihre Taille damit ein. »You lost weight«, sagte er. »Lost?«, fragte Gerda. Er ging ins Lager, um die neuen Stoffe, die er gerade erst aus Bangladesch bekommen hatte, zu holen. Gerda schaute sich in der Zwischenzeit um. Staubig war es. Richtig verdreckt. In der Ecke saß unter der Schneiderpuppe Anoops Leguan. Er sah viel größer aus als sonst. Und warum konnte sie ihn hören? Die knackenden Geräusche, die er machte, weil er gerade einen Wurm verschlang?
An der Garderobenstange, die von der Tür bis zum Verkaufstisch reichte, hingen fertige Kleidungsstücke zur Abholung. Gerda ging die Stange entlang, streifte mit ihren Fingern über die Anzüge, Kleider und Blusen. Mrs. D’Antal, Mr. Ryosuke Ho, Mrs. Brown. Anoop hatte jedes Kleidungsstück sorgfältig mit einem kleinen Zettel gekennzeichnet. Sie zog ihre Hand von Miss Deedles Leinenhose. Ihre Finger waren völlig verschleimt. Die Masse rann schneller als Wasser zu ihrem Ellbogen hinab. Sie warf einen Blick zu der zum Lager hin offenstehenden Tür. Eine Maschine hatte angefangen zu arbeiten. Taktaktaktaktak. Zu laut für eine Nähmaschine. Mit ihrer linken Hand griff sie nach einem roten Samtkleid. Das Namensschild fehlte. Es war ein klassisch geschnittenes Etuikleid, an den Rändern des Dekolletés mit dunkelblauer Baumwolle eingefasst.
Wie von selbst legte sich der Stoff an Gerdas Haut, bewegte sich das Kleid über ihren Kopf, ihren Körper hinab. Sie blickte an sich herab, als sich der Saum am Dekolleté zu öffnen schien. Ihr Gesicht, dann ihr Kopf, dann ihr ganzer Körper wurden durch eine angenehm mächtige Sogwirkung in den Saum verschlungen. Es war nun ganz dunkel. Nur in einer Ecke, vielleicht am Boden, sah sie verkümmerte, weinerlich schreiende Lipizzaner. Die Pferde waren dicht aneinandergedrängt und auf ihren strahlend weißen Körpern flossen Blut und Eidotter hinab. Sie gab einem der Ekel Zucker. Das Tier verschlang ihre Hand, und schließlich Gerda selbst. …"

Aus Die Sprachlosigkeit der Fische von Margit Mössmer. Roman. Wien: Edition Atelier 2015

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Margit Mössmer, 1982 in Hollabrunn (NÖ) geboren, lebt und arbeitet in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie der Hispanistik. Redakteurin und Ressortleiterin beim Freien Magazin FM5. Seit 2007 arbeitet sie im quartier21/MuseumsQuartier Wien. Veröffentlichungen in Magazinen. 2010 wurden Texte aus Die Sprachlosigkeit der Fische beim Ö1 Literaturwettbewerb WÖRTER.See prämiert und mit Burgschauspielerin Dorothee Hartinger vertont.

 

Legenden von Gesa Olkusz

"Teil 1
»Der Mann will sich töten«, hatte das kleine Mädchen gesagt, und mit dem nassen Daumen, den es sich zu diesem Zweck aus dem Mund gezogen hatte, auf mich gezeigt. Ich verharre in der Hoffnung, das Missverständnis werde sich aufklären, die Eltern den Irrtum des Kindes durchschauen und zügig weiterspazieren. Doch Eltern und Großmutter starren mich stumm an, während ich versuche, leger zu wirken und dabei das Gleichgewicht zu halten.
»Brauchen Sie Hilfe, junger Mann«, fragt schließlich die Großmutter, und das Kind setzt nach, »Warum will der Mann sich töten, Mama?«
Die Mutter weiß nicht recht, was zu antworten ist, da sind wir uns ähnlich.
»Lass ihn doch springen«, ruft der Vater, unnötig scharf, als verletze ich sein Feingefühl. Er ist etwa so alt wie ich, das stößt mich ab, er wirkt schon so gesotten.
Unbestreitbar befinde ich mich in fragwürdiger Position auf dem Brückengeländer der M-Brücke, und zwar ziemlich mittig. Mühsam halte ich mich in einer primatenähnlichen Hockstellung, ich habe in dieser Nacht zu viel getrunken, um noch vollkommen Herr meines Gleichgewichts zu sein. Bei dieser Hundskälte hatte ich keine Gesellschaft erwartet und geglaubt, auf Grazie und Anstand verzichten zu können.
»Weshalb will der Mann sich töten?«, fragt das Kind erneut, und obwohl ich einsehe, dass meine Lage solche Irrtümer ermutigen mag, fühle ich mich nicht genötigt, mich zu verteidigen. Ich bemühe mich, auf dem eisigen Geländer die Balance zu finden, und tatsächlich gelingt es mir, mich langsam zu erheben, noch sind die Knie gebeugt und die Arme horizontal um Ausgleich bemüht, doch ein Fortschritt ist da.
»Ich werde ihn herunterholen«, beschließt der Vater. Ich hebe den Blick und ziehe drohend die Brauen zusammen, sodass die Mutter ihren Mann mit einem kleinen Laut zurückhält, das Kind schlägt sich die Faust vor den Mund und keucht erschrocken. Es gelingt mir, einen Finger zu heben, um ein wenig Geduld zu fordern. Sie scheinen zu verstehen, lassen mich aber nicht aus den Augen. Ich atme aus, langsam drücke ich die Knie durch und den Oberkörper in die Höhe, bis ich so gut wie gerade stehe. In dieser Position überrage ich die Familie um einiges, das gibt mir Selbstbewusstsein, und ich stoße hervor: »Die Schuhe, verdammt!« …"

Aus Legenden von Gesa Olkusz. Roman. Salzburg: Residenz Verlag 2015

 
Gesa Olkusz, geboren 1980, studierte Philosophie und Interkulturelle Fachkommunikation in Amsterdam und Berlin. Sie hat in einigen Zeitschriften publiziert und lebt in Berlin.

 

*PreisträgerInnen bisher:

  • 2007 Emma Braslavsky Aus dem Sinn
  • 2009 Lorenz Langenegger Hier im Regen
  • 2011 Joachim Meyerhoff Alle Toten fliegen hoch. Amerika
  • 2013 Björn Bicker Was wir erben

www.tumler-literaturpreis.com