Kultur | Schule

Kleinschulgipfel

Um Kleinschulen in entlegenen Gebieten hier und anderswo geht es bei einem Kongress, den die Uni Bozen ab Donnerstag veranstaltet. Ein Gespräch mit Annemarie Augschöll.

Frau Augschöll, was ist denn heutzutage eine Kleinschule, wie definiert man das und gibt es solche Kleinschulen in Südtirol überhaupt noch?

Annemarie Augschöll Blasbichler: Der Begriff Kleinschule ist in der Tat eine Bezeichnung, die Erklärung bedarf. In vielen Ländern Europas werden heute Schulen unter 100 Schulkindern als Kleinschulen bezeichnet. In Südtirol hatten wir im vergangenen Schuljahr (2013/14) sechs Grundschulen mit weniger als 10 Kindern, 17 weitere Grundschulen mit 10 bis 15 Schulkindern und weitere 38 mit 16 bis 26 Schulkindern. Sie sehen, dass hier andere Maßstäbe bei der Definition von kleinen und großen Schulen anzusetzen sind.

Annemarie Augschöll Blasbichler ist Professorin an der Bildungsfakultät der Freien Universität Bozen. Sie organisiert und betreut den Internationalen Kongress zum "Leben und Lernen in Kleinstschulen" an der Uni vom 28. bis 30. August 2014.

Wo in Europa gibt es sonst noch ähnlich kleine Schulen und warum?

Die Gründe für das Bestehen kleiner Schulen sind unterschiedlich. Für den Kongress habe ich versucht, mehrere dieser Kontexte aufzuzeigen. Dabei werden Referenten aus vier Kontinenten unterschiedliche Kleinschul-Realitäten präsentieren und auf die besonderen Ressourcen und Restriktionen derartiger kleiner Einrichtungen eingehen. Auch wie sich das Leben und Lernen für die Schulkinder und für die Lehrpersonen gestaltet.

Die Notwendigkeit der Organisation von kleinen Schulen ergibt sich in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern aus den geographischen und verkehrstechnischen Bedingungen. Aber manchmal bleiben die kleinen Schulen als „Herz“ kleiner Ortschaften auf intensives Betreiben der Bewohner auch dann noch bestehen, wenn in unmittelbarer Nähe eine nächste Schule erreicht werden könnte.

Können Sie konkret einige derartiger „Kleinschulrealitäten“ skizzieren?

Neben Südtiroler Kleinschulen werden beim Kongress verschiedene Aspekte dieser Schulrealitäten in peripheren Bergregionen im Wallis, in Graubünden, Aosta, Tirol und Vorarlberg vorgestellt, analysiert und diskutiert; ebenso werden kleine Schulen in Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte, wie beispielsweise in Kanada, Neuseeland, Äthiopien und Norwegen sowie Schulen auf den kleinen italienischen und finnischen Inseln beleuchtet.

Spielt bei diesen Darstellungen auch die Vergangenheit solcher Kleinschulen eine Rolle, wie es früher war?

Ja, sicherlich. Neben dem aktuellen Fokus geht die Tagung auch auf die Genese dieser Schulen ein. In Südtirol waren die kleinen Schulen in entlegenen Weilern bis Ende der 1970er Jahre betreffend Strukturen und Ressourcen gegenüber den Schulen in den Zentren stark benachteiligt. Vielerorts wurden Schulzimmer in Ermangelung eines Schulgebäudes in provisorisch adaptierten Privaträumen eingerichtet. Damit nicht immer derselbe Bauer die „Last“ der Schule im einzig beheizbaren Raum, der Stube, hatte, wanderte die Schule von Jahr zu Jahr weiter.

Nachdem im Zuge des Zweiten Autonomiestatutes die Schulbauten in die Kompetenz des Landes kamen, wurden große Anstrengungen getätigt und auch in den entlegenen Ortschaften eigene und neue Schulgebäude gebaut. Mittlerweile wurden diese Schulgebäude vielerorts ein weiteres Mal neu errichtet und entsprechen nun den modernsten pädagogischen und klimatechnischen Anforderungen.

Wie war es denn für die Kinder, die solche Kleinschulen besucht haben, dann auf weiterführende Schulen zu kommen, ein Bildungsschock?

Derartige Schulrealitäten allein mussten keineswegs immer Hindernis für weitere Bildungskarrieren sein. Vielmehr war die geographische Entfernung zu weiterführenden Schulen der Grund dafür, dass die Schulkarriere nach der Pflichtschule aufhörte. Das ergab natürlich auch eine Distanz in den Köpfen der Eltern, bzw. die Beispiele, dass ein besseres Leben durch Bildung möglich sei, waren eben kaum vorhanden. Ein weiteres Hindernis waren die Kosten, mit denen der Besuch einer weiterführenden Schule in der Stadt für die Familie verbunden gewesen wären. In meiner Forschung konnte ich belegen, dass Kinder aus Familien, in denen in der Eltern- oder Großelterngeneration ein Mitglied einem Orden beigetreten war oder Priester wurde,  leichter diese genannten Schwellen überwinden konnten und mehr Chancen für eine weiterführende Ausbildung hatten.

Einschränkungen, die Kinder aus entlegenen Gebieten definitiv benachteiligten, waren zum einen die vielfach weiten, gefährlichen und beschwerlichen Schulwege, die insbesondere kleinen und geschwächten Kindern sehr zusetzten. Zum anderen finden wir bis in die Mitte der 1970er Jahre verkehrstechnisch nicht erschlossene Schulorte, die aufgrund geringer Kinderzahl nur ein halbes Schuljahr Unterricht hatten (Oktober bis Februar oder Februar bis Juni). Die Kinder in diesen Schulorten konnten in der Mittelschule ihre Lücken nicht mehr auffüllen und beendeten zumeist ohne Abschlussprüfung ihr Pflichtjahre. Ebenso erging es Kindern, die aufgrund weiter Schulwege nicht die seit 1962 vorgeschriebene Mittelschule besuchten, sondern noch in den 1980er Jahren ihre Schulpflicht in der Grundschule absaßen.

Unter welchen Bedingungen mussten die Lehrpersonen dort arbeiten?

Im Zuge meiner Recherchen zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Lehrpersonen in entlegenen Kleinschulen habe ich einen großen Respekt vor ihren Leistung in den genannten Jahrzehnten gewonnen. Neben den genannten rudimentären Rahmen, in dem Unterricht organisiert werden musste, fehlte es vor allem an didaktischen Hilfsmitteln und Schulbüchern. Für die Lehrpersonen galt es täglich Programme für bis zu acht Jahrgänge vorzubereiten, die im Unterricht mit selbst gestalteten Materialien und Aufgaben weitergebracht werden sollten. So erzählt beispielsweise Sepp Pfattner, dass ihm 1969 in der Kleinschule im adaptierten Rossstall von Schloss Garnstein (damals noch nicht renoviert!) lediglich drei faschistische Wandkarten als Hilfsmittel zur Verfügung standen.

Matthias Thöni aus Trafoi (2.v.r.), Lehrer in der Kleinschule Run im Matschertal (1956-68), beim Abendessen mit der Bauernfamilie, bei der er als Untermieter während des Schuljahres lebte.

In entlegenen Weilern waren die Lehrpersonen zudem gezwungen, auf einem Bauernhof in Untermiete zu gehen und dort mit Hausleuten und Dienstboten das Zimmer zu teilen. Die Möglichkeit selbst ein Essen zuzubereiten oder in einem eigenen Raum die Vorbereitungen zu machen, bildeten in derartigen Kontexten rare Ausnahmen.

Was sind nun die Ziele Ihres Kongresses?

Der Kongress zielt zum einen auf eine breite und internationale Auseinandersetzung mit Belangen, die Kleinschule betreffen. Dazu gehören sozialpädagogische, didaktische und organisatorischen Aspekten von kleinen Schulen, die als räumlicher, sozialer und pädagogischer Kontext für Leben und Lernen der Adressaten sowie für Leben und Arbeiten der dort tätigen Lehrpersonen stehen. Ebenso werden methodologische Herangehensweisen für die Erforschung dieser schulischen „Wirklichkeiten“ diskutiert.

Zum andern möchte der Kongress einen Rahmen für einen Austausch zwischen den Schulen der genannten Realitäten, den Akteuren auf den verschiedenen Aktionsebenen sowie Wissenschaftlern über „Kleine Schule als Lebens-, Lern- und Arbeitsraum“ initiieren. Ebenso soll er als Plattform für das Knüpfen unterschiedlicher Kontakte und Netzwerke fungieren.

Der Kongress an der Bildungsfakultät in Brixen ist für alle frei zugänglich und richtet sich an alle Interessierten und Akteure in diesem Feld: Lehrpersonen, Eltern, Schulführungskräfte, Gemeindeverwalter, Lehrpersonen in Pension.