Kultur | Kommentar

Ha bisogno di ritrovare se stessa

Italien antwortet auf Terrorismus mit dem Gegensatzpaar "Kultur" und "Sicherheit".

Was zählt wirklich? Und was zählt in der Kultur? Zählt die Kultur überhaupt. Wenn ja, für wen, und wie zahlt sie sich aus und für wen? Und wie lässt sich sich zahlen?

Ministerpräsident Matteo Renzi hat am Dienstag bei dem Event "Italia, Europa. Una risposta al terrore" in Rom verkündet, dass er für jeden in die Sicherheit investierten Euro auch einen Euro für die Kultur, die in einem anderen Satz mit humaner Bildung gleichgesetzt wird, aufbringen will.

"Per ogni intervento sulla cybersecurity, deve crescere una startup. Per ogni telecamera nuova che viene installata, ci deve essere un videomaker o un regista teatrale che sperimenta."

150 Millionen sollen in die Sicherheit im Cyberspace investiert werden, 50 Millionen in die Erneuerung der Polizeistrukturen (mehr Straßenpolizei, weniger Leute in den Büros, die Auflassung leerer oder unterbesetzter Kasernen), 50 Millionen für die Verteidigung usw. Insgesamt 1 Milliarde Euro für Sicherheit und eine Milliarde Euro für die Kultur will Renzi klarmachen, und zwar durch die Senkung der IRES (der Steuer auf das Einkommen der Körperschaften).
Seine Vorschläge zur Förderung des Kulturlebens in Italien: die zwei Promille der Einkommenssteuer IRPEF sollen zukünftig auch an kulturelle Institutionen, nicht nur an Parteien, gespendet werden können. 500 Millionen sollen zum Zweck der "Rehabilitation" der Periferien von Großstädten eingesetzt werden. Nur noch bis zum 31. Dezember können diesbezüglich Vorschläge eingereicht werden, die bis Ende 2016 ausgeführt sein werden müssen. 150 Millionen gehen an Italiener und Italienerinnen, die 2016 volljährig werden: sie sollen ein Ticket erhalten, einen Bonus von 500€, um kulturelle Veranstaltungen besuchen zu können. Vergleichsweise wenig wirken die versprochenen 50 Millionen für Studienbeihilfen für StudentInnen aus einkommensschwächeren Familien.
Dass viele KünstlerInnen hierzulande auswandern, weil sie einfach nicht genug verdienen, um überleben zu können und weil es zu wenig Förderungen (Südtirol ist im Vergleich zum Rest Italiens eh gesegnet) gibt, wird verschwiegen. An die Einführung eines "artist status", den es u.a. in Belgien oder Frankreich gibt, und der KünstlerInnen einen Angestellten-Status zum Zweck von Sozialschutz und Sozialleistungen bietet, denkt hier niemand.

Das Ganze hat Renzi, wie auf Fotos zu sehen ist, vor dem martialischen Fresco "Combattimento degli Orazi e Curazi" von Cavalier d'Arpino in den Musei Capitolini, vorgetragen. In ebendiesem Saal wurde 2004 auch die europäische Konstitution unterschrieben. Renzi bezeichnet ihn deshalb auch als ein Symbol für Italien und für ganz Europa.
Die Europäische Union sollte damals dadurch eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit erhalten und gegenüber dem bisher gültigen Vertrag von Nizza mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet werden. Außerdem sollte ihr institutionelles Gefüge geändert werden, um sie demokratischer und handlungsfähiger zu machen. Ironischerweise wurde er zwar wie oben erwähnt, unterzeichnet, aber durch gescheiterte Referenden nie rechtskräftig, und schließlich 2009 durch den Vertrag von Lissabon ersetzt. Natürlich verschweigt Renzi diese Wendungen der Geschichte.

"Tenere insieme sicurezza e identità, polizia e cultura è la proposta che l'Italia avanza con determinazione."

Die Kultur soll also in Italien neuerdings gleich neben Sicherheitsdiskursen und Polizei stehen. Sie muss herhalten, um das geplante Übel abzufedern: Onlineüberwachung, Kameras, Polizeiaufstockung, Waffen. Braucht ein Land, das sich einerseits als tolerant, frei, pluralistisch und dialogbereit erklärt, solche Maßnahmen? Was haben Überwachungskameras und Polizeiuniformen mit der Schönheit zu tun, von der Renzi palavert? Und überhaupt: Welche Kultur, welche humane Bildung, meint er eigentlich? Geschwafel an Allgemeinplätzen: "Noi non accetteremo mai di odiare la musica, che è bellezza, incanto, profondità e leggerezza allo stesso tempo: l'Italia è la patria della musica, non dell'Odio." (1)

Schon ganz am Anfang der online abrufbaren Rede steht das Bedürfnis danach, nach den Anschlägen in Paris Antworten geben zu wollen und zu müssen. Demgegenüber erscheint mir jemand wie der deutsche Fernsehmacher Jan Böhmermann um Welten klüger, wenn er am Tag danach auf seiner Facebookseite stattdessen 100 Fragen stellt.
Oder wenn er ein ziemlich schräges Video postet, das wohl direkt aus dem Polizeiwahn dieser Tage geboren wurde, und das sogar mit einer gewissen Polizeiästhetik spielt, wo aber alle Seiten ihr Fett abkriegen.

Italiens Außenminister Gentiloni hat letztens verkündet, dass Italien schon "viel" im Kampf gegen Terrorismus macht, aber dass es mehr machen könnte. Es geht um Wortklaubereien: Italien fühle sich nicht im Krieg, sondern in erster Linie gegen den Terrorismus involviert. Mehr als 1000 italienische Soldaten sind derzeit in Libyen, sowie weitere in Afghanistan. Es sollten jedoch keine Bodentruppen nach Syrien entsendet werden, bevor es kein politisches Projekt der Stabilisierung gäbe. Trotzdem sprach Renzi Hollande heute in Paris zu, Teil seiner international angestrebten Koalition im Kampf gegen Daesh zu werden.

Am Ende sind wir angegriffen, manche mehr, manche weniger, und da kommen diese Sehnsüchte wieder auf, ein gemeinsames "Wir" zu formen gegen "die Anderen". Aber dass es eine europäische (Identitäts)Krise gibt, das gibt auch Renzi in seiner Rede zu. Ob es Europa, die europäische Staatenunion überhaupt noch gibt, ist eine andere Frage, die wir uns derzeit stellen müssen.


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(1) Auch hier: welche Musik meint Renzi denn? Welche Musik hört er, unterstützt er? Bin um jeden Hinweis dankbar. Bei meinen Recherchen bin ich nur darauf gestoßen, dass er sich in diesem Jahr kurz vor seinem Urlaub eine Prepaid-Karte im Wert von 487,86€ von I-Tunes hat kaufen lassen, mit der man Musik, Filme, Spiele und Apps herunterladen kann und zwar nicht als Privatperson, sondern in seinem Auftrag als Präsident.