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"Bozen musste ich erst auf der Landkarte suchen"

Die Franko-Kanadierin Lucie Courteau ist Dekanin der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
an der Freien Universität Bozen. In Südtirol landete sie rein zufällig.

"Wie ich nach Bozen gekommen bin ? Fast durch Zufall", lächelt Lucie Courteau. Von ihrem Arbeitszimmer im fünften Stock des Universitätsgebäudes genießt die  Professorin einen beneidenswerten Blick auf den verschneiten Rosengarten. "Nach dem Auszug unseres erwachsenen Sohnes haben mein Mann und ich das Bedürfnis nach einem Kulissenwechsel verspürt. Unser bevorzugtes Ziel war Europa. Eine Art Wechselwirkung: so wie es viele Europäer nach Amerika zieht, werden wir eben von  Europa angelockt." Die erste Etappe führte das Paar nach Zypern, wo ihr Mann Jean Michel Boulay einen Lehrauftrag für Musiktheorie annahm. "Es war wunderbar", schwärmt Corteau, "vom Fenster fiel der Blick auf den Strand, der nur einen Steinwurf entfernt lag." Doch der Auftrag war befristet und nach zwei Jahren musste sich das Paar nach neuen Zielen umsehen.

Auf die Ausschreibung einer Professur in Bozen sei sie im angesehenen higher education journal der Londoner Times gestoßen. Aber Bozen?  "Da mussten wir zunächst auf der Landkarte nachsehen, wo die Stadt überhaupt liegt", schmunzelt die Professorin für International Accounting. Sie erhielt  den Zuschlag und trat gespannt die Reise nach Südtirol an. "Mein Mann und ich waren uns einig, dass wir auch hier nur zwei, drei Jahre bleiben und dann erneut wechseln würden, diesmal nach Frankreich". Doch es kam ganz anders: "Jetzt bin ich das elfte Jahr hier, wurde  zur Dekanin meiner Fakultät gewählt und werde bis zur Pensionierung bleiben." Was sie an Bozen so faszinierend findet? "Ich lebe seit elf Jahren ohne Auto - in Kanada absolut unvorstellbar.  Ich bewege mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln, schätze die wunderbare Landschaft und die Esskultur, die 1000-jährige Geschichte, die Berge, die kurzen Wege - kurzum: die hohe Lebensqualität.  Natürlich haben wir auch in Kanada viel Natur, aber es sind vorwiegend Wälder, keine gewachsene Kulturlandschaft mit Weinbergen so wie hier."

Weniger begeisternd gestaltete sich die Aufnahme durch die  nicht gerade überschwänglichen  Bewohner. Doch dafür kann Courteau Verständnis aufbringen: "Hier hat jeder schon seinen Freundeskreis, Familie, Kinder, einen geregelten Alltag - da bleibt wenig Freiraum für neue Kontakte und Bekanntschaften." Die Diskussionen um Autonomie oder Selbstbestimmung  in Südtirol erinnern sie an frühere Jahrzehnte, als ihre Heimatregion Quebec die Unabhängigkeit von Kanada forderte. Aufgeheizt sei das Klima damals gewesen - ähnlich wie in Südtirol zur Zeit der Anschläge. "Doch wenn sich die wirtschaftliche Lage bessert, verschwinden auch die Konflikte", gibt sie sich überzeugt. 

Ihr Mann fand in Bozen keinen Arbeitsplatz, aber singt in verschiedenen Chören und ist dabei, einen eigenen zu gründen. Sein Geld verdient er mit der Übersetzung von englischen und französischen Fachtexten über Musik. Aufgewachsen ist Lucie Courteau in einem rein französischen Elternhaus. "Englisch habe ich gelernt, weil meine Eltern öfter englische TV-Programme anschauten. Das war eine absolute Ausnahme." In der Zwischenzeit spricht die Professorin auch gut Italienisch. "Mit dem Deutschen habe ich noch Schwierigkeiten", gesteht sie. Aber ich werde mir im kommenden Jahr eine Auszeit nehmen und in Berlin meine Sprachkenntnisse verbessern", versichert sie.

Fakultät mit fast 900 Studenten           

An der von ihr geleiteten  Faculty of Economics and Management sind fast 900 Studenten inskribiert,  250 davon in der Außenstelle Bruneck.  Wärend die Studenten aus Deutschland nach der Senkung der dortigen Studiengebühren abnehmen, wächst die Zahl der Italiener aus anderen Regionen. Zehn Prozent  kommen aus osteuropäischen Ländern. Angezogen werden sie nicht zuletzt vom der ausgezeichneten Position der Fakultät für Wirtschftswissenschaften in den nationalen und internationalen Ranglisten. Im Bereich Forschung etwa hat ihre Fakultät bereits Italiens angesehenste Wirtschaftsuniversität Bocconi überrundet, im Hochschulranking der ZEIT ist sie gut platziert. Die Vorlesungen werden zu gleichen Teilen auf Englisch, Deutsch und Italienisch gehalten. Jeder Professor muss mindestens zwei der drei offiziellen Uni-Sprachen beherrschen, wie es das Uni-Statut vorsieht.  "Für viele Südtiroler Studenten sind wir das Tor zur Welt", versichert die Dekanin. "Fast die Hälfte unserer Absolventen sind die ersten Akademiker in ihrer Familie. Wir ermuntern sie, einen Master im Ausland zu absolvieren, obwohl das den Eltern nicht immer recht ist."

Diese Universität sei "ein ausgesprochen schöner und dankbarer Arbeitsplatz", versichert Courteau - "auch wenn viele Südtiroler davon kaum Notiz nehmen". Obwohl sich die Universität mit Initiativen wie der Langen Nacht der Forschung und weiteren Veranstaltungen der Bevölkerung öffne, sei sie vielen Südtirolern noch immer weitgehend unbekannt. Eine negative Begleiterscheinung ist mit ihrer Professur in Bozen freilich verbunden. Als Ausländerin müsse sie bis 70 arbeiten. "Ich bin schließlich eine extracomunitaria", lächelt Courteau.