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Außer Brexit nichts gewesen?

Die EU-Kommission stößt mit ihren Alleingängen in Sachen Glyphosat und CETA, so kurz nach dem Brexit-Votum, viele vor den Kopf. Es regt sich Widerstand. Auch in Südtirol.

“Die EU ist der Versuch, demokratische Selbstbestimmung durch eine ständige Verwaltung nach dem Gusto von Großkonzernen zu ersetzen.” So hatte die britische Parlamentarierin Kate Hoey von der Labour-Partei für den Austritt Großbritanniens aus der EU geworben. Neben Wirtschafs-, Finanz- und Sicherheitspolitik war die angebliche Fremdregierung durch Brüssel eines der Hauptargumente der Brexit-Befürworter gewesen: Maßgebliche Entscheidungen werden nicht mehr in den nationalen Parlamenten und von demokratisch gewählten Volksvertretern gefällt, sondern von Bürokraten, Kommissaren und Beamten in Brüssel. Daher sei die einzige Möglichkeit, um Souveränität zurückzuerlangen: “Leave” – raus aus der EU. Mit ihrem Ja zum Austritt haben sich knapp 52 Prozent der Briten vergangenen Donnerstag somit auch gegen eine in ihren Augen undemokratische Europäische Union ausgesprochen. Ein Weckruf für die EU, mehr Bürgernähe zu zeigen – das waren die mehr als 17 Millionen “Leave”-Stimmen vom 23. Juni auch gewesen.

Die EU-Kommission setzt sich aus einem Präsidenten, sieben Vize-Präsidenten und 20 Kommissaren zusammen. Sie ist das Exekutivorgan der EU und vertritt deren Interessen insgesamt, also nicht die Interessen einzelner Länder. Gewählt werden die Kommissionsmitglieder in Abstimmung zwischen Europäischem Rat und Parlament.

Eine Woche sind seit dem Brexit-Referendum vergangen. Fassungslosigkeit und Unverständnis über das Ergebnis sind auf Insel und Kontinent noch nicht verflogen. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb kann man sich nun die Frage stellen, ob die Briten am Ende nicht doch irgendwo Recht gehabt haben. Denn die EU scheint gerade jetzt, da sie bürgernäher werden wollte, die falschen Signale an die Menschen in ihren Mitgliedsstaaten zu senden. Erst gestern (29. Juni) hat die EU-Kommission im Alleingang entschieden, die Zulassung für das Pflanzenschutzmittel Glyphosat zu verlängern. Und nun soll eine weitere, nicht weniger einschneidende und kontrovers diskutierte Entscheidung über die Köpfe der Mitgliedsstaaten hinweg gefällt werden. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat angekündigt, im Falle des Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA, die nationalen Parlamente nicht befragen zu wollen.


Glyphosat

Vier Mal hatten Vertreter der 28 Mitgliedsstaaten in Fachausschüssen über die Verlängerung der Zulassung für das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat in der EU abgestimmt. Vier Mal hatte es keine Mehrheit gegeben. Als es zur fünften Abstimmung kommen sollte, bevor die Zulassung am heutigen 30. Juni automatisch ausgelaufen wäre, sagte die EU-Kommission den Termin kurzerhand ab. Mit einem Verweis auf den Brexit. Wenig später dann die Nachricht: Glyhposat wird für weitere 18 Monate zugelassen. Ursprünglich war eine Verlängerung für 15 Jahre vorgesehen gewesen, nach Protesten aus einzelnen EU-Staaten war die Zeitspanne dann nach und nach verkürzt worden.

Kommissionssprecher Enrico Brivio auf Twitter: “Die Mitgliedsstaaten haben versäumt, Verantwortung zu übernehmen (...) ”.

Beschlossen hat die EU-Kommission obwohl es vonseiten der Mitgliedsstaaten kein eindeutiges Votum gegeben hatte. Dazu war die Kommission berechtigt, weil es auch für die Ablehnung ihres Vorschlags keine Mehrheit gegeben hatte. Als “wenig überraschend aber dennoch enttäuschend” bezeichnen große Umweltschutzorganisationen, darunter die österreichische Global 2000, die Entscheidung. Bis 31. Dezember 2017 bleibt Glyphosat nun in der EU weiter zugelassen. Bis zu diesem Stichtag soll die EU-Chemikalienagentur ECHA eine europaweit harmonisierte Risikobeurteilung durchführen. Sprich, die ECHA wird erneut untersuchen, inwieweit Glyhposat krebserregend ist und somit über das Schicksal des Unkrautvernichtungsmittels befinden. Enttäuscht über die Entscheidung der EU-Kommission zeigt sich auch PAN-Italia. Sprecher Koen Hertoge kündigt an, nun direkt in Rom zu intervenieren, um ein Verbot von Glyphosat-basierten Produkten zu erzwingen.


CETA

“CETA soll rasch als ausschließliches EU-Abkommen ratifiziert werden”, erklärte Jean-Claude Juncker am Dienstag (28. Juni) Nachmittag. In Brüssel war der EU-Gipfel am Laufen, ganz im Zeichen des Brexit. Und doch hatte der EU-Kommissionspräsident Zeit gefunden, sich mit den Staats- und Regierungschefs zu einem anderen Thema zusammenzusetzen: das Handelsabkommen zwischen Kanada und der EU, CETA. Dieses falle  ausschließlich in die Zuständigkeit der EU und nicht in jene der Mitgliedsstaaten und soll deshalb ohne Zustimmung der nationalen Parlamente beschlossen werden. Demnach soll CETA in Kraft treten, nachdem EU-Ministerrat, EU-Parlament und Kanada grünes Licht gegeben haben. Soweit der Plan der EU-Kommission. Doch es regt sich Widerstand.

Der Streit droht nun zu eskalieren – ausgerechnet in einer Frage der Volksbeteiligung und ausgerechnet kurz nach dem Austrittsreferendum der Briten.
(der Brüsseler SPIEGEL-Korrespondent Markus Becker)

Der deutsche Vize-Kanzler Sigmar Gabriel warnte am Mittwoch davor, dass das “dumme Durchdrücken von CETA” bei anderen Freihandelsabkommen wie TTIP “alle Verschwörungstheorien explodieren” lassen werde. Die Grünen im EU-Parlament sprachen von “Egotrips der EU-Kommission”, die “Futter für die EU-Skeptiker” seien. Und der österreichische Bundeskanzler Christian Kern mahnte: “Das hier in einem schnellen Ruckzuck-Verfahren durchzusetzen, kostet die Europäische Union viel an Glaubwürdigkeit.”

Der deutsche Grünen-Politiker Sven Giegold bringt es bei Twitter auf den Punkt.

Auch in Südtirol wurde ein politisches Zeichen gesetzt, wenn auch ungleich kleiner. Der Landtag hat sich am Mittwoch einstimmig dafür ausgesprochen, dass sich das italienische Parlament verpflichtend mit einer Abstimmung über das kanadisch-europäische Handelsabkommen befassen muss. Das hatten die Freiheitlichen in einem Begehrensantrag an Parlament und Regierung gefordert. Ebenso ist darin die Erstellung einer unabhängigen Studie über die zu erwartenden Auswirkungen von CETA und die Verbreitung der entsprechenden Ergebnisse vorgesehen. Auch diese Punkte segnete der Landtag einstimmig ab. Der Freiheitliche Fraktionssprecher Pius Leitner zeigt sich zufrieden, denn er hat dieselben Befürchtungen wie Kate Hoey: “CETA will genauso wie TTIP den europäischen Verbraucher- und Umweltschutz aufweichen und nützt lediglich den Konzernen.” Daher könne die EU-Kommission die EU-Einwohner und ihre Volksvertreter nicht unberücksichtigt lassen. Zumal ‘“solche Verträge massiv in unser Alltagsleben eingreifen”, wäre es “das Mindeste, dass sie in den nationalen Parlamenten zur Abstimmung kommen”, so Leitner.