Politik | Parlament

Wendehälse, Dissidenten, Überläufer

Eine Rekordzahl von Parlamentariern hat in 20 Monaten Partei gewechselt. Die Verabschiedung von Gesetzen wird immer mehr zum Spießrutenlauf.

Er ist der stolze Spitzenreiter: der auf der Liste der Lega Nord gewählte kalabresische Senator Paolo Naccarato hat das Kunststück geschafft, in 20 Monaten vier Mal Partei zu wechseln. Er befindet sich freilich in guter Gesellschaft: 79 Parlamentarier haben seit der Parlamentswahl ihrer Fraktion den Rücken gekehrt - ein Viertel des gesamten Senats. Damit haben sie das Wahlergebnis massiv verfälscht - ein kleiner Denkanstoß für jene, die glauben, auch der neue Senat müsse unbedingt direkt vom Volk gewählt werden. Das Phänomen erreicht nie dagewesene Ausmaße. Hatten in Kammer und Senat in der gesamten letzten Legislatur 60 Parlamentarier Partei gewechselt, so sind es nun noch vor der Halbzeit 154 - eine Zahl, die schon im kommenden Jahr auf über 200 steigen könnte.

Besonders im rechten Lager zeigen sich zunehmende Auflösungserscheinungen. Doch auch die Fünfsterne-Fraktion ist von 54 auf 39 abgemagert  - weitere Austritte sind angesichts der Dauerquerelen  vorprogrammiert. Während die Linke des Partito Democratico eine "Aktionseinheit" mit Nichi Vendolas SEL anpeilt, haben gerade 12 Parlamentarier die linksalternative Partei verlassen. Und während im rechten Lager an der Gründung neuer Parteien gebastelt wird, nutzt die Lega den Freiraum, um auch nach Süditalien vorzustoßen.

Auf sichere Mehrheiten kann sich die Regierung angesichts dieser Entwicklungen kaum noch stützen. Auf dem Papier verfügt Premier Matteo Renzi derzeit über eine Mehrheit von zehn Stimmen. Doch vor wenigen Tagen war es der abtrünnige Fünfsterne-Senator Luis Orellana, der den Regierungschef  mit seiner Stimme vor einer peinlichen Niederlage bewahrte. Bleibt die Vertrauensfrage als einziger sicherer Rettungsanker. Am Freitag sah sich Renzi gegen die zornigen Proteste der Opposition gleich zweimal gezwungen, sie zu stellen. 77 Prozent aller Gesetze hat Renzi bisher mit Vertrauensvoten verabschiedet - eine Anomalie. Angesichts des gewaltigen Staus von Gesetzen und Dekreten wird er auch in Zukunft zu dieser Waffe greifen müssen. Bei geheimen Abstimmungen wächst die Zahl der Dissidenten, die gegen ihre Parteiführung rebellieren. 20 gemeinsame Sitzungen von Kammer und Senat reichten nicht, um zwei Verfassungsrichter zu wählen, deren Namen von oben diktiert waren. Nun muss Renzi eine Einigung mit dem ungeliebten M5S suchen. Fazit: die Verabschiedung von Gesetzen wird im Senat immer mehr zum Spießrutenlauf.

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Willy Pöder Mo., 03.11.2014 - 09:28

Betrachtet man das Foto, welches den Artikel von G. Mummelten eindeckt, dann kommt man nicht zum Schluss, dass viele Onorevoli und 'Onorevolesse' (um die geschlechtliche Gleichwertigkeit nicht zu verletzen) im Laufe der Legislaturperiode das Lager gewechselt hätten. Die leeren Stühle lassen vielmehr die Vermutung zu, eine stattliche Anzahl von Senatoren/-innen haben sich im Hinblick allenfalls bevorstehender Wahlen schon mal bei voller Bezahlung in den Wartestand versetzen lassen, auf dass es ihnen zeitlich gestattet sei, den Weg für eine erneute Kandidatur vorab von Stolpersteinen zu befreien. Ein reiner Fraktionswechsel würde die leeren Sitzreihen nämlich keineswegs rechtfertigen. Zwecks Rechtfertigung der gähnenden Leere gibt es freilich noch eine weitere Erklärung. Sie liefert uns vor jeder Sitzung der jeweils amtierende Präsident mit der Verlesung einer nie enden wollenden Liste von Volksvertretern "Auf Mission". Wie man sieht, tut sich die Politik mit Missionaren leichter als die Kirche.

Mo., 03.11.2014 - 09:28 Permalink