Politik | Gebietsreform

Triveneto oder aufräumen?

Es scheinen sich ja alle einig zu sein, dass die jüngsten Vorschläge zur Schaffung einer Region Nordest nur Hirngespinste sind.

Ein Hirngespinst ist in dieser Definition wohl alles, was gerade nicht auf der politischen Tagesordnung steht. Es sollte uns also nicht nervös machen – und ja – macht es uns ja auch nicht. Nichtsdestotrotz ist dieses Triveneto ein Spiegel, dass die Gebietsreform alla Delrio trotz schmerzvoller Abschaffung von Provinzen Italien nicht in einem aufgeräumten Zustand hinterlassen wird. Genauso wie Renzis Stabilitätsreform nur ein akut notwendiger Zwischenschritt ist, ohne ernsthaft das Fundament für langfristig stabile Strukturen schaffen zu wollen.

Verlassen wir doch – nur für die Dauer der Lektüre dieses Beitrags – den Südtiroler-Autonomie-Verteidigungs-Schützengraben, ziehen uns den Schuh eines verantwortungsbewussten, europavisionären Italienpolitikers an und überlegen uns, was denn in unseren Breiten wirklich Not tut.

Was offensichtlich ist, ist, dass die norditalienischen Regionen, Lombardei und Venetien allen voran, bessere Werkzeuge zur Eigenstaltung benötigen. Föderale Konzepte, die der lokalen Wirtschaftsleistung gerecht werden. Soll man also Italien zu einem Bundesstaat umbauen? Vielleicht. Vielleicht ist aber unter Gerechtigkeit nicht immer Gleichmacherei zu verstehen. Was für Ventien und Lombardei gut ist, kann auch für die Basilicata gut sein, aber das ist nicht zwangsläufig so. Das weiß ich genauso wenig, wie ein Morassut die Südtiroler Situation versteht. Will heißen: Italien sollte den Mut zur Ungleichheit aufbringen. Individuelle Pakete für Venetien, Lombardei und Piemont aushandeln und – vielleicht in einem zweiten Schritt – Modelle für den Rest des Stiefels entwickeln. Das mag ungerecht klingen, ist aber unterm Strich immer noch besser als Renzis Art, den Umweg über den Zentralismus zu nehmen, der keiner Region groß etwas bringt und dazu noch den Norden in Sezessionissmus und Rechtslager zwingt. Gute Resultate für den Süden lassen so und so auf sich warten.

Sagen wir, wir hätten diesen einen großen Schritt geschafft, Piemont, Lombardei und Veneto wären föderal aufgestellt, vielleicht mit vergleichbarer Autonomie wie Friaul-Julisch-Venetien. Ja, ich weiß, letztere tun sich sehr schwer mit einer überfälligen Reform ihrer Autonomiestatuten. Zum Vorbild reicht es jedenfalls nicht. Alle diese föderalen Regionen bräuchten komplett neue Reglements. Da gehören Bürgerbeteiligung, das Europa der Regionen mit auf den Tisch, genauso wie die Makroregionen der Alpen und Adria und diverse Europaregionen. Ein schwieriger, ein langer Prozess. Aber notwendig, spannend, konstruktiv und vor allem: Bottom Up.

Vielleicht ist auch dieser Schritt irgendwann bewältigbar. Vermutlich würde Venedig dann aufhören, uns unsere Autonomie zu neiden und ein imperialistisches Großvenedig im Nordwesten domestizieren zu wollen. Nur ein Problem wäre damit immer noch nicht adressiert; leider ein sehr akutes Problem und auch eines, das uns Südtirolern am meisten auf dem Herzen liegen sollte: Die Schieflage zwischen Metropoletane und den Gebirgstälern. Sosehr sich die heutigen Regenten Maroni und Zaia ihren regionalen Thron vergolden lassen möchten, sowenig juckt sie die teils akute Abwanderung aus den Gebirgstälern, das Schwinden der Minderheiten als unaufhaltbare Folge der Verarmung, die durch Nichtbeachtung seitens der Regionalpolitik verschuldet wird. Auch eine Serracchiani im autonomen FVG hat kein Rezept gegen die Abwanderung aus Tolmezzo und den karnischen Tälern. Ein Chiamparino bemüht sich um ein Halten der Bevölkerung in den piemonteser Westalpen genauso wenig, wie er sich um die Umsetzung der Delrio’schen Idee in Verbania-Cusio-Ossola schert. Es ist keine Parteifrage. Es ist erschreckendende Realität, die sich am besten dadurch veranschaulichen lässt, dass die flächengrößte Provinz Venetiens im Regionalrat gerade einmal 2 der 49 Räte stellen darf: Belluno.

Deshalb schauen unsere Nachbarn ja so neidvoll auf uns und unsere Autonomie. Einen historischen Trumpf haben sie zwar nicht im Ärmel, aber tausend gute Gründe der Gegenwart in Zukunft ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, ohne nach Brüssel, Rom, Regionalhauptstadt am Ende der Nahrungskette zu verhungern. Wer es wirklich ernst meint mit einem Fundament für langfristig stabile Strukturen, der muss eine Gebietsreform in Angriff nehmen, die die Alpentäler schützt. Damit meine ich nicht einen Fleckenteppich von lokalen Miniautonomien an etwas längerer Leine der Metropoletane. Damit meine ich echte Strukturen auf Augenhöhe.

Schauen wir uns um: Die acht Gemeinden von Asiago wollten zum Trentino, aber wir haben sie verhindert. Belluno orientiert sich an unserer Region, auch an der Euregio und etliche Gemeinden haben Referenden für einen Provinzwechsel (gemeint war wohl eher ein Regionwechsel) gewonnen.  Tolmezzos Versuch, innerhalb FVG eine Lokalautonomie per Referendum zu erzwingen, wurde verwässert. Das Valcellina zählt in seinem Dornröschenschlaf wohl gerade das Jahr 97. Valcamonica ist Peripherie von Brescia, so wie Veltlin, Valchiavenna und Alto Como, die in Mailand und Bergamo eigentlich nur von den Schwammerlsuchern wahrgenommen werden. Es hat schon diverse Vorschläge gegeben, den Bogen zwischen Como- und Iseo- bzw. Idrosee in einer Provinz zu vereinheitlichen, aber halt immer unter dem Mantel eines Gran Bergamasco, also mit Bergamo als Hauptstadt. Wie soll man da die Alpenbevölkerung begeistern?

Jetzt nicht erschrecken, wenn ich das Pferd von hinten aufzäume. Wäre es so schlimm, das Trentino um die Hochfläche von Asiago zu erweitern? Wäre es so schlimm, wenn wir unsere immer weiter ausgehölte Region Trentino-Südtirol zu einer Region Trentino-Südtirol-Belluno ausbauen würden, natürlich vorausgesetzt, dass wir als Südtirol unseren heutigen Schutz und heutigen Rechte (nennen wir sie ruhig Privilegien) nicht schmälern müssten. Gerade dann, wenn Belluno sich aktiv in der Euregio engagiert? Wenn es hinter dem Stilfser Joch eine Region geben würde, die sich bis zum Comosee aber halt nicht bis nach Bergamo erstreckt? Was, wenn wir als Euregio den karnischen Tälern gemeinsam mit den öberkärntner Tälern ein freundschaftliches Angebot zu machen hätten?

Südtirol hat sich vom Opferland zum Vorzeigeland entwickelt. Natürlich sind wir noch nicht dort angekommen, wo wir vielleicht hinwollen, wollen mehr. Und das ist gut so. Nur kann es heute nicht mehr unsere Rolle sein, passiv Vorschläge von außen abzuwehren. Wir sind es der Welt schuldig, zu gestalten. In Vorleistung gehen, Vorschläge machen, zusammenarbeiten. Besser als ein Morassut können wir es allemal. Dann können wir uns auch die Kompromisse selber aussuchen, die man auf dieser Welt wohl immer eingehen muss.
 



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36 Regioni

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Das Bild der Società Geografica Italiana aus dem Jahr 2013 reflektiert zwar nicht unbedingt meine Meinung, zeigt aber teils überlappende Überlegungen.

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Entvölkerung entlang des italienischen Alpenbogens (Quelle: EURAC)

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Als Nachtrag ein Zitat aus dem Blog La Terra Vista da Cesio:

Separare con confini rigidi i popoli alpini da quelli di pianura a lungo termine è controproducente per tutti. Se la logica è quella di mettere insieme i popoli alpini allora la regione prospettata va esattamente in questa direzione, ma non lo fa con un'ottica "curtense" e di piccolo cabotaggio, bensì con una visione aperta ed inclusiva. Non si tratta qui di ricalcare l'attuale modello regionale, ma di costruire un modello tutto nuovo, il modello di una "regione delle autonomie e delle specificità". Una regione fatta di comunità e di identità diverse, che sia modello per un'Europa dei popoli che ancora non si è mai vista.

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Martin Federspieler So., 01.11.2015 - 20:25

Dass bei uns die Abwanderung aus den peripheren Tälern erst beginnt, und ihre Auswirkungen noch nicht so sichtbar sind, ist auf politische Grundsatzentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte zurückzuführen.
Im Zweifel wurden eben die finanziellen Notwendigkeiten in den umliegenden Gemeinden jenen der Städte vorgezogen.
Die Normalität sieht anders aus: normalerweise konzentriert sich in den Zentren die politische Macht, und somit auch das Geld. Es war wohl bei uns die ethnische Komponente, die den Unterschied gemacht hat.
Und das ganze gehört wohl der Vergangenheit an.
Denn die ethnische Komponente ist ja kaum noch von Bedeutung (was wohl so sein soll), somit sind auch wir in der Normalität angekommen, und die heißt:
Institutionelle Reformen = Zentralisierung = Aufwertung der Zentren zu Lasten der Peripherie.
Nicht, dass damit insgesamt Geld eingespart würde (was oft gesagt wird, aber von der Realität lange widerlegt ist). Viel mehr konzentrieren die zentralen Machtapparate das verfügbare Geld auf ihre direkten Wirkungsbereiche.
Ich habe auch den Verdacht, dass man kleine, gut funktionierende Verwaltungseinheiten deshalb ausschalten will, weil sie eben viel effizienter zu verwalten sind, also große und somit für diese eine lästige Konkurrenz darstellen.
Aber wie gesagt: nur die Kleinheit garantiert auch keine gute Verwaltung, es braucht immer auch gute Verwalter (siehe Waidbruck bis Niederdorf...).

So., 01.11.2015 - 20:25 Permalink
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Benno Kusstatscher So., 01.11.2015 - 23:12

Antwort auf von Martin Federspieler

Naja, als Bozner kann ich diese Normalität noch nicht wirklich erkennen. Wo jedes Dorf seine Umfahrung bekommt und wir Stadtler vom Hörtenbergtunnel höchstens träumen dürfen. Die ganzen schönen Schulen im Land, während in Bozen die Kids in baufälliger Substanz pauken müssen (siehe Aufschnaiter). Lass mich da ein bissel neidisch sein, aber demografisch gesehen ist da vieles richtig gemacht worden. Das muss man, auch wenn so ein Satz zur Zeit nicht wirklich chic ist, dem Durnwalder schon anrechnen. Jetzt, wo alle Schulen, Umfahrungen und Kulturhäuser gebaut wurden, vertragen wir sicher etwas mehr Normalität in der Provinz. Andere haben halt keine Provinz, bzw. keine Verwaltungsmöglichkeiten derselben, um Geldflüsse derart steuern zu können.

So., 01.11.2015 - 23:12 Permalink
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Michael Keitsch So., 01.11.2015 - 22:19

Sehr guter Beitrag, ich teile deine Ansichten. Eine über-territoriale Zusammenarbeit mit dem Belluno und dem Veltlin (wie du es immer wieder forderst) wäre sicher ein großer Vorteil für die Entwicklung des Alpenraums.

So., 01.11.2015 - 22:19 Permalink