Kultur | Tanztheater

Nessuno sa di noi

Eine der letzten Aufführungen des Bozner Tanzsommers wurde von Julie Stanzak vom Wuppertaler Tanztheater und Mattia Peretto, einem Performer mit Down-Syndrom getanzt.

Es ist wahr: Wenige wissen von der schönen und wertvollen Arbeit des Teatro la Ribalta und seinen Darstellern mit verschiedenen Beeinträchtigungen. In langjähriger Aufbauarbeit hat der Regisseur Antonio Viganò gemeinsam mit der Südtiroler Lebenshilfe ein kulturelles Projekt geschaffen, das Theater, Werkstätten, eine „Akademie der Vielfalt“ und mittlerweile auch ein eigenes Jahresprogramm umfasst.

Theater und Tanz also im Stück "Nessuno sa di noi" der Pina-Bausch-Wegbegleiterin Julie Stanzak, die mit Regisseur Viganò bereits zwei Theaterstücke erarbeitet hatte.  Sie sagt: "Beide Stücke, „Minotauro“ und "Il suono della cadua" haben wir mit Menschen mit besonderen Fähigkeiten erarbeitet, aber bisher stand ich noch nie mit den Tänzern von Teatro la Ribalta auf der Bühne. Bei Mattia, einem großartigen Darsteller, habe ich das Bedürfnis verspürt, mit ihm zu tanzen, ihm auf der Bühne zu begegnen."

Diese Begegnung ist, so heißt es im Programmheft, ein Duett über das Muttersein und das Ideal des Menschen. Doch dieser Tanzabend zeigt natürlich mehr. Mutter und Sohn, Mann und Frau, zwei Wesen, die sich annähern, aber den Weg zueinander nicht genau kennen. Tastend und werbend geht sie, Julie Stanzak auf ihn, Mattia zu, mit all den kunstvollen Bewegungen die ausgebildete Tänzer im kleinen Finger haben, sie spielt die ganze Klaviatur ihres Tanzkörpers.

Mattia Peretto gehört zu jenen Darstellern, die bereits seit längerer Zeit mit Regisseur Antonio Viganò arbeiten. In Stücken wie „Spuren der Seele“ über die Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten oder im bereits erwähnten „Minotaurus“. Mattia Peretto zeigte von Anfang an große Bühnenpräsenz, er bewegt sich mit graziler Kraft und Musikalität, die im aktuellen Tanzstück sogar etwas gestört scheint durch die flatternden Bewegungen der Stanzak. Sie ist sein Konterpart, seine Motte, die um ihn kreist und sich gern verbrennen möchte. Er hingegen gibt ihr immer wieder zu verstehen: Stopp! Bis hierher, und den Kuss geb‘ ich dir auf die Stirn und nicht auf den Mund!

Wenige gesprochene Sätze begleiten die Choreografie: „Gib mir die Hand - ich helfe dir - ich warte auf dich - ich bringe dir das Fliegen bei!“ Das versichert die Tänzerin ihrem entfliehenden Tänzer, doch Worte sind Schall und Rauch, besser „Mann“ glaubt ihnen nicht und versteckt sich im Schrank. Eine der schönsten und berührendsten Szenen ist die nun folgende: Julie Stanzak beginnt kleine Zettel zu beküssen und klebt sie an ihr Kleid, zwei, drei, viele Kussmünder hängen an ihr und mit jedem dieser Zettel erobert sie sich ein Stück Zuversicht in die Liebe zurück. Genug Kraft, um die Schranktür zu öffnen und das Tanzspiel von neuem zu beginnen.

Choreografin Julie Stanzak und Dramaturg Antonio Viganò haben genau darauf geachtet, keine allzu repetitiven Handlungen einzubauen, das Thema Annäherung läuft gerne Gefahr, dies in unzähligen und ausufernden Varianten darzustellen. Mattia Peretto tanzt eine klare und ausdrucksstarke Abfolge von Zeichen, er ist der Darsteller und Erzähler, er beginnt und beendet das Stück. Das gelingt gut, denn Stanzak hält sich zurück, ohne ausdrücklich Rücksicht zu nehmen, sie nimmt viel eher seine Bewegungsfäden auf und variiert sie mit tänzerischen Elementen. Berührend, heiter und eindringlich.