Gesellschaft | Cannabis

Schmerzliche Missstände

Die Versorgung mit medizinischem Cannabis ist seit Jahren prekär. Weil das Gesundheitsministerium schweigt, bittet man nun die Südtiroler Parlamentarier um Hilfe.
Cannabis als Therapie
Foto: Cannabis Social Club

“Wir wissen nicht mehr weiter und müssen zusehen, wie schwerkranke Personen mit chronischen Leiden völlig im Regen stehen gelassen werden.” Der Appell, festgehalten in einem Schreiben an die Südtiroler Parlamentarier, kann zu denken geben. Lanciert hat ihn der Cannabis Social Club Bozen. Die Patientenorganisation ruft die politischen Vertreter in Rom auf, “alles in Ihrer Macht stehende zu unternehmen und Druck auf den Gesundheitsminister auzuüben”. Denn die Situation vieler Patienten, die auf medizinisches Cannabis angewiesen sind, sei dramatisch.

 

Realität voller Hürden

 

Seit 2006 ist es in Italien möglich, medizinisches Cannabis zu verschreiben. Jeder Arzt, der in das Berufsalbum eingetragen ist, darf medizinisches Cannabis verschreiben, wenn ein Minimum an wissenschaftlich akkreditierter Literatur dafür vorliegt. “Die Patienten, die am meisten von medizinischem Cannabis profitieren, sind jene mit chronischen Erkrankungen, vor allem Schmerzpatienten, Krebspatienten und Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen”, weiß man beim Cannabis Social Club Bozen (CSC Bozen).

Seit Jahren kämpfen Patientenorganisationen italienweit für eine bessere Versorgung mit medizinischem Cannabis – dazu fand am Mittwoch ein Sit-In vor dem Gesundheitsministerium in Rom statt. Denn es gebe eine Reihe an Missständen, wie Peter Grünfelder, Koordinator von CSC Bozen, erklärt: “Die meisten Ärzte kennen sich mit medizinischem Cannabis nicht aus. Sie wissen weder rechtlich noch medizinisch Bescheid und somit werden hilfesuchende Patienten mit ihren Anfragen meistens abgewiesen. Die Verschreibung von Medikamenten ist bereits bürokratisch genug, sodass die weiteren bürokratischen Auflagen bei der Verschreibung von medizinischem Cannabis viele Ärzte davon abhalten, es zu verschreiben. Seit 2016 wurde nachweislich dokumentiert, dass medizinisches Cannabis in den Apotheken periodisch wiederholt nicht verfügbar war. Wir selbst haben die  Erfahrung gemacht, dass die Verantwortlichen im Ministerium nicht auf anwaltschaftliche Abmahnungen antworten, die wir ihnen senden. Lediglich Anfragen des Amtes für Gesundheitssteuerung der Autonomen Provinz Bozen werden lapidar mit dem Versprechen beantwortet, sich mehr zu bemühen, aber trotzdem geschieht nichts!” Dazu komme, dass das sogenannte “Decreto Lorenzin” Apotheken verpflichtet, medizinisches Cannabis für einen Höchstpreis von 9 Euro pro Gramm abzugeben. “Sie müssen es jedoch den Pharmazuliefern meistens für einen Bruttopreis abkaufen der über diesen Betrag liegt”, weiß Grünfelder. “Die wenigen Apotheken, die trotzdem Cannabis führen, machen das aus ethischen Gründen und aus Solidarität zu den Patienten.”

 

Schweigendes Ministerium

 

Die Tragweite dieser Missstände für Schwerkranke schildert der CSC-Koordinator folgendermaßen: “Stellen Sie sich vor, ein Schmerzpatient, der mit Cannabis endlich einen Ausweg aus seinen Schmerzen gefunden hat, steht mit Therapieplan und Rezept vor der Apotheke und bekommt seine Medizin nicht. Er ist gezwungen, seinen Therapieplan zu unterbrechen und muss zu Arzneimitteln greifen, mit denen er bereits in Vergangenheit nicht den angestrebten Erfolg erzielen konnte.” Für Grünfelder, wie auch für zahlreiche andere Patientenorganisationen ist klar: “Die Verantwortung dafür liegt einzig und allein beim Ministerium für Gesundheit, das zwar Gesetze und Verordnungen eingeführt hat, sich selbst aber nicht daran hält.”

 

In Südtirol hat der Landtag 2019 mit großer Mehrheit beschlossen, das Versuchszentrum Laimburg zum Anbau von Cannabis zu therapeutischen Zwecken zu ermächtigen – auch, um die Versorgung zu garantieren. Den Antrag dazu hatte Diego Nicolini (M5S) eingereicht. Vor Kurzem erkundigte er sich bei Gesundheitslandesrat Thomas Widmann nach dem Stand der Dinge. Widmann teilte mit, dass das Land am 4. November 2019 in einem Schreiben das Gesundheitsministerium über die Option Laimburg informiert habe. Bisher habe das Ministerium – trotz erneuter Aufforderung – keine Stellung dazu bezogen. Und an Rom vorbei könne das Land kein medizinisches Cannabis anbauen, erklärt Widmann.

 

Die Forderungen der Patientenorganisationen

 

An das Gesundheitsministerium sind folgende Forderungen gerichtet:

  • Erteilung von Genehmigungen an Privatpersonen, privaten oder öffentlichen Einrichtungen für die nationale und regionale Produktion von medizinischem Cannabis, einschließlich der Genehmigung experimenteller Projekte für den Zugang zu medizinischem Cannabis für Patientenorganisationen.
  • Vereinfachung der Bürokratie für Patienten mit Cannabistherapie
  • unbürokratische Genehmigungsverfahren für die Einfuhr von medizinischem Cannabis
  • Berechnung des nationalen Bedarfs an medizinischem Cannabis auf der Grundlage aktueller Daten
  • obligatorische Schulung von medizinischem, gesundheitlichem, sozialem und pflegerischem Personal öffentlicher Einrichtungen, um sie auf den neuesten Stand in der Cannabistherapie zu bringen. 
  • Förderprogramm zur Ausführung von Forschungsprojekten
  • Ausweitung des medizinischen Einsatzgebietes von Cannabistherapien auf Kosten des Gesundheitssystems