Kultur | Salto Weekend

In Gesundheit und Krankheit

Die Meinung, dass zeitgenössische Kunst nicht für alle sei, haben viele. An mangelnder Barrierefreiheit soll das nicht liegen, meint mit „Kingdom of the Ill“ das Museion.
Acid Rain for Museion von P. Staff
Foto: Luca Guadagnini
Der zweite Teil der groß angelegten, von Bart van der Heide lancierten Recherche-Trillogie „Techno Humanities“ ist ab heute Abend und bis 5. März 2023 Teil der Südtiroler Kulturlandschaft. Die über den musealen Teil hinausgehenden Neuerungen - etwa Ausstellungshefte in Großdruck und Leichter Sprache und Führungen in Leichter Sprache, sowie für Personen mit eingeschränktem oder fehlendem Sehvermögen - sollen bleiben. Die Eröffnung der Ausstellung gestern Abend wurde zudem in Deutsche und Italienische Gebärdensprache simultan übersetzt. Gleichzeitig betonte man, dass das sich einer neuen Community Zuwenden, nicht die Abwendung von einer anderen bedeute: Das Museion versteht sich weiterhin als Inkubator für die elektronische Musik Szene in Südtirol. Beides seien andauernde „Lern-, Networking- und Talent-Entwicklungs-Prozesse“, sagte van der Heide. Mit symbolischer Wirkung fand daher im Anschluss zur gestrigen Eröffnung das 3. Occupy Museion statt.
„Kingdom of the Ill“ möchte einen Diskurs über die Dichotomie „gesund“ und „krank“ einleiten, anhand der Positionen von 20 verschiedenen Künstler:innen. Oder, wie es einleitend im Heft in Leichter Sprache heißt: „Was bedeutet krank? Was bedeutet gesund? Was ist normal? Und wer entscheidet: Das ist normal?“ Dabei werden die Begriffe nicht als etwas absolutes, sondern als Pole eines Spektrums behandelt: Wir sind nie „ganz“ gesund oder krank.
Räumlich eröffnet wird die Arbeit durch die auch im Marketing der Ausstellung aufgegriffene Arbeit des Geschwisterprojekts Brothers Sick. Die jüdisch-queeren und chronisch kranken Künstler Ezra und Noah Benus aus New York haben für das Museion ihre bis Dato größte Arbeit geschaffen. Als Tapete, in Wiederholung gedreht und gespielt dominiert eine in den Raum gestellte Wand.
 

 
„לעולם ועד / for the world eternal“ formt mit Hilfe einer Geste, der ausgestreckten Hand in zweifacher Variation, einmal mit Infusionsschlauch umwickelt und einmal mit einem Tefillin, den bei Werktags-Gebeten von Gläubigen getragenem Leder-Riemen. Der Titel des Werkes in Hebräischer Schrift ist einem Morgengebet entnommen und findet sich, wie bei den Brüdern üblich, auch im Bild wieder: „(Gesegnet sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches) für immer und ewig“. Die Hände lenken unsere Aufmerksamkeit auf ein fast unsichtbares, schwarz-graues Dreieck, welches dort, wo sie zusammen laufen, nach unten weist. Ein Symbol, welches im Nationalsozialismus in verschiedenen Einfärbungen zur Kennzeichnung von Lager-Gefangenen verwendet wurde, im späteren Verlauf aber eine Wiederaneingnung von Behinderungsgruppen (schwarz) oder als Rosa Winkel des Silence=Death Projects, welches während der AIDS Krise sensibilisierte.
Eine lokale Position findet in der Passage Platz, Ingrid Hora verweist mit „Collective Effort“ auf die CHRIS-Studie (Kooperative Gesundheitsforschung in Südtirolder) der Eurac im Vinnschgau mit mehr als 13.000 freiwilligen Teilnehmern. Die räumliche Installation, welche mit Handabdrücken in Tonzylindern durch schließen der Hand zur Faust entstanden sind, erwecken spielerische Assoziationen, etwa mit Seil zu einer Art Springseil verknüpft, oder als eine Art Mobile. Ergänzt wird der Fingerzeig durch ein vertikales Video, welches die Entstehung der Abdrücke zeigt. Durch das Schließen zur nach oben orientierten Faust, die dritte Assoziation: Protest. Hora bespielt mit Ausstellungsbeginn auch die Micro-Dependance des Museion, den Cubo Garutti in der Sassari-Straße, mit Zeichnungen welche einen Bezug zur COVID-19 Pandemie herstellen.

 
 
 
Im ersten Stock nimmt eine Videoarbeit (wie bei allen anderen Videoarbeiten in der Ausstellung laufen drei Fassungen mit Deutschen, Italienischen und Englischen Untertiteln in Schlaufe) mit Computergenerierten Bildern am Boden und an der zur Talfer blickenden Wand einen, vom Kuratorenduo Sara Cluggish und Pavel Pyś großzügigen bemessenen Raum ein. Es entsteht dadurch ein starker Kontrast zur verwinkelten, größtenteils Analog gefüllten Architektur des Erdgeschosses. „UKI Virus Rising“ ist eine hoch konzeptuelle Wiederaufnahme von ihrem 2000 auf dem Sundance-Filmfestival uraufgeführten Film „I.K.U.“ von Shu Lea Cheang. Die abstrakte, futuristisch-dystopische Handlung des Films muss man sich erlesen, im Raum entsteht eine bedrohliche Stimmung, die durch die am Boden projizierten Blutkörperchen einen unwirklichen Kontrast.
Weniger sichtbar, per Design, aber nicht weniger sehenswert ist die Arbeit von Enrico Boccioletti „It takes a lifetime to recover from the cringe of growing up.“, die der Künstler im dunkeln lässt, damit sie im Licht des eigenen Smartphones erkundet werden muss, ein Hinweis auch auf digitale Abhängigkeit: Google Suchergebnisse zur Frage „Wenn alles zu viel wird, wie können wir selbst jemals genügen?“, die hauptsächlich zu Suizid-Präventions-Webseiten führen weiten den Blick der Ausstellung in digitaler Form auf das Feld Psychischer Gesundheit/Erkrankungen. Zwischen der Recherche-Dokumentation bevölkern vage menschlich geformte Objektskulpturen und Stimmen aus Theaterstücken (Sarah Kanes „4:48 Psychose“, Jon Fosses „Da kommt noch wer“ und Samuel Becketts „Aufs Schlimmste zu“) den Raum, kreieren ein parasoziales, halbmenschliches Umfeld.
Im zweiten Stockwerk sind es zwei Positionen, die in Verbindung zu einander stehen, denen besondere Aufmerksamkeit gilt: P. Staffs „Acid Rain for Museion“ (im Titelbild) ist eine, die Etage umfassende räumliche Arbeit bei welcher eine Säurelösung aus an der Decke geführten Rohren in Stahltonnen tropft. Die Arbeit, welche aus der Serpentine North Gallery in Londo adaptiert wurde, die bis 2019 als Sackler Gallery bekannt war, nimmt mit ihrem Titel und der giftig (oder: Urin-) gelben Beleuchtung eines Korridors im speziellen Bezug auf den sauren Regen der 70er bis 90er verweist. Gleichzeitig ist, gerade durch die unmittelbare Nachbarschaft zu den Werken von Nan Goldin und den Protestmaterialien der von der Künstlerin mitbegründeten Plattform P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), eine Zersetzung im Gange.
 

Die Position aus dem von den Sackler Familie zur Selbstlegitimation finanziell mitgetragenen Galerie findet sich direkt neben einem Schwerpunkt zur Amerikanischen Opiat-Krise, an welcher die Familie, deren Mitgliedern auch Perdue Pharma, die Hersteller des Schmerzmittels OxyContin, besitzen. Die Proteste von P.A.I.N. richteten sich in besonderer Weise gegen diese Form des Mäzenatentums und waren mit der Forderung der Tilgung des Namens Sackler aus Kunsträumen verbunden. Beim Opiat handelt es sich um das in den Staaten (sowie in Kanada und Australien) am häufigsten auf Grund ihrer euphorisierenden Wirkung missbrauchte Medikament. Die katastrophalen Auswirkungen dieser Sucht dokumentiert Nan Goldin in ungeschönten Bildern, die berühren und verstören: auch als projizierte Slide-Show mit Erfahrungsberichten aus New Yorker Underground Szenen, in einem der Seitenräume.
Im obersten Stockwerk abermals ein Öffnung: Über den Raum verteilt finden sich künstlerische Positionen, die sich aus schulmedizinischen und alternativmedizinischen Ansätzen zusammenwürfeln. Im lichtgefluteten Raum führen viele Wege zur Besserung, oder versuchen es: Sharona Franklins „Wish You Well“, zentral platziert, nimmt die Form eines Wunschbrunnens ein, der aus Ziegeln transparenter Gelatine besteht. In diesen eingelassen finden sich medizinische Abfälle, Medikamentenwerbungen, homöopathische Mittel. Auch hier lässt sich, wie in der Fotodokumentation um Brescia, „Land of Holes“ von Mattia Marzorati im ersten Stock bereits eingeführt, auch der Gesundheitszustand eines Ökosystems lesen. Wasser als Essenz des Lebens, die Besserung als irrationaler Wunsch.
 
 
 
Die Arbeit von Mary Maggic hat ebenso einen ökologischen Hintergrund: „Genital( * )Panic“ blickt mit Bezug auf ein medizinisches Prinzip, den Anogenitalabstand (Abstand zwischen Geschlechtsteilen und After), welcher mit wachsender Verschmutzung unserer Umwelt laut Studien im Schrumpfen begriffen ist. Der Blickwinkel, den sie dabei für ihre aus Installation, Wandgemälde und Video bestehende Arbeit wählt ist queer-feministisch und spekulativ, die Fragen die sie aufwirft sind es nicht. Ob nun das Patriarchat oder der Beitrag von allen unsere Umwelt zerstört, es dürfte im Endresultat einerlei sein.
Die Ausstellung „of the Ill“ versucht zu sensibilisieren, was nur gelingen dürfte, wenn man die Bereitschaft mitbringt, sich auch darauf einzulassen, das Begleitheft mitzuführen und von diesem Gebrauch zu machen. Das fordert sicher einiges an Zeit, kann sich aber lohnen. Wer sich darauf eingelassen hat und wer sich weiter in die Thematiken vertiefen möchte, für den stehen der Reader (Eine Sammlung mit Essays in Deutscher, Italienischer und Englischer Fassung) bereit, eine Tagung in Vorbereitung: Von 17. bis 19. November will man sich in „Opening the pill“ mit der Beziehung zwischen verschiedensten Pillen und der psychischen Gesundheit auseinandersetzen.
Mit dem zweite Kapitel der „Techno Humanities“ hat man sich also noch einmal mehr vorgenommen als mit dem ersten. Mehr Barrierefreiheit könnte sicher auch anderen Museen in Südtirol nicht schaden.