Gesellschaft | Debatte

"Wir wollen mehr schaffen"

So der Appell des runden Tisches zur Flüchtlingsfrage am Samstag. LH Kompatscher gesteht Versäumnisse des Landes ein: "Es wäre richtig, wenn wir mehr Menschen aufnähmen."

“Wir wollen uns an diesem Tag an alle Tragödien erinnern”, mit diesen Worten eröffnete Arno Kompatscher, bevor er am Samstag Nachmittag in der Bozner Schlachthofstraße zu einer denkwürdigen Rede ansetzte. Dort, in dem Viertel, das in den vergangenen Wochen zum Schauplatz von fremdenfeindlichen Aufmärschen und “Flüchtlinge raus”-Rufen wurde, genau dort waren am vergangenen Wochenende ganz andere Töne zu vernehmen. In der Bahnhofsremise fand die Veranstaltung “Bozen, Grenze Europas” statt. Am 3. Oktober 2013 ertranken knapp 400 Menschen auf ihrer Überfahrt vor den Küsten Lampedusas. Auch in Bozen wollte man den Opfern des Bootsunglücks gedenken. Den Auftakt machte um die Mittagszeit der italienische Jazzmusiker Paolo Fresu. Am Abend ging das musikalische Programm weiter, unter anderem mit dem Flüchtlingschor vom Hotel Alpi und dem Liedermacher Paolo Rossi.

Am Nachmittag wurde hingegen an einem runden Tisch über die aktuelle Flüchtlingslage in Südtirol, Italien, Europa und darüber hinaus gesprochen. In die Schlachthofsstraße geladen hatte Senator Francesco Palermo, der das Gespräch leitete. Neben ihm hatten sein römischer Kollege vom Ausschuss für Menschenrechte des Senats Luigi Manconi, die Sprecherin des UNHCR, Carlotta Sami, Roger Hopfinger von Trenitalia, Landeshauptmann Arno Kompatscher sowie Monika Weissensteiner von der Alexander Langer Stiftung und Eliana Murano für die freiwilligen Helfer vom Bahnhof Bozen Platz genommen. Auch der Verein Volontarius war vertreten. Zahlreiche Menschen waren gekommen, um den Gastrednern zu lauschen.


“Es ist richtig, dass wir mehr Menschen aufnehmen”

“Nachdem die Tränen um das tote Kind am türkischen Strand getrocknet sind, geht alles gleich weiter”, warnte Luigi Manconi. Es sei endlich an der Zeit, ein gemeinsames Asylrecht für ganz Europa zu schaffen. “Dublin darf kein Alibi für das, was aktuell passiert, sein, sondern gehört überwunden”, zeigte sich der Senator überzeugt. Er erinnerte gleichzeitig aber auch daran, dass die Dublin-Regelung durchaus positive Züge beinhalte. Diese Möglichkeiten sollten die EU-Mitgliedsstaaten ausnützen, wie es etwa Deutschland tat, als Angela Merkel die Grenzen für syrische Flüchtlinge öffnete.

Am Wochenende wurde die "Charta von Bozen" verabschiedet, in der vier Forderungen niedergeschrieben wurden:
1) Eine europäische Asylgesetzgebung
2) Überwindung des Dublin-Reglements
3) Humanitäre Aufenthaltsgenehmigungen und weitere legale und sichere Mittel, um Flüchtlinge in der EU aufzunehmen
4) Neue Migrationspolitik und legale Einreisemöglichkeiten

Als Landeshauptmann Kompatscher an der Reihe war – er hielt seine Rede wie alle Anwesenden in italienischer Sprache –, bedankte er sich auch im Namen von Landesrätin Martha Stocker, die im Publikum saß, bei all jenen, die das Land in den vergangenen Monaten so tatkräftig unterstützt hätten. Das Lob, das er eingangs von Manconi und Palermo für das Bemühen der Provinz Bozen erhalten hatte, wies er allerdings strikt zurück: “Es stimmt nicht, dass die Provinz viel gemacht hat. Es waren Einzelpersonen, die vorgemacht haben, wie es geht. Die Gesellschaft im Land ist leider – noch – nicht bereit. Daher bin ich sehr stolz darauf, was Einzelne geschafft haben.” Kurz darauf wiederholte der Landeshauptmann seine Worte: “Es ist die Wahrheit wenn ich sage, dass wir als Gesellschaft und als Provinz nicht viel getan haben. Auch als Bayern uns um Unterstützung gebeten hat, haben wir nicht das geschafft, was wir eigentlich wollten.” Nämlich die Menschen auf ihrer Durchreise nach Norden überzeugen, etwas in Südtirol zu verweilen, damit sich die Bayern um die unzähligen Flüchtlinge dort hätten kümmern können. 126.000 Personen haben das süddeutsche Bundesland allein im September erreicht. Tirol betreut derzeit etwa 5.000 Menschen.

“In Südtirol haben wir derzeit 826 Asylbewerber untergebracht. Dazu kommen 150 bis 200 Personen, die täglich durch unser Land Richtung Norden reisen”, berichtete Kompatscher. Diesen Vergleich solle sich vor Augen führen, wer sich beschwere, dass Südtirol “zu gastfreundlich” sei, so der Landeshauptmann sinngemäß. Etwas Hoffnung für die Zukunft gibt dem Landeshauptmann der “Klimawandel”, den er in letzter Zeit im Land festgestellt habe. “Die Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen sind stolz darauf und sehen es nicht mehr als Last oder sogar als Strafe, wie das anfänglich der Fall war.” Er selbst sei überzeugt, dass Südtirol in Zukunft noch mehr leisten könne. “Immer wieder haben wir um eine gerechte Verteilung der Menschen, die nach Europa kommen auf die einzelnen EU-Staaten gebeten. Wir sind uns bewusst, dass wir – Italien und dementsprechend Südtirol – dann mehr Menschen aufnehmen müssten. Aber das ist richtig so”, lauten die klaren Worte des Landeshauptmanns. “Es wäre eine Gelegenheit für Europa zu zeigen, dass es existiert. Das eigentliche Problem sind nach wie vor die nationalen Egoismen der einzelnen Mitgliedsstaaten.” Diese gelte es schleunigst zu überwinden, schloss Kompatscher.


Eine selbst gemachte Krise

Mit dem Landeshauptmann einverstanden zeigte sich Carlotta Sami. Die Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge für Südeuropa prangerte die fehlende Koordination der EU-Staaten bei der Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge an. “Wenn alle von einer ‘Krise’ sprechen, dann ist diese hausgemacht. Dass derzeit so viele Menschen nach Europa kommen, hätte die EU nicht überraschen dürfen. Bereits 2012, als der Syrien-Konflikt zu eskalieren begann, haben wir darauf hingewiesen, dass diese Migrationsströme bevorstehen.” Nun würde die unzulängliche Vorbereitung und die nicht vorhandenen Aufnahmestrukturen in den einzelnen EU-Ländern dafür sorgen, dass der Großteil der Flüchtlinge Deutschland oder Schweden als Wunsch-Zielland auserkoren hätten. Denn dort gebe es, so Sami, die effizientesten Systeme für Erstaufnahme, Asylanträge und Integration.

Daher ihr dringender Appell: “Es müssen legale Möglichkeiten geschaffen werden, damit Menschen auf der Flucht in Europa einreisen können. Wenn Grenzen wie ein Wasserhahn je nach Ermessen der einzelnen Staaten geöffnet oder geschlossen werden, riskieren die Leute ein zweites Mal ihr Leben.” Auch sollten sich die Institutionen eine Scheibe von ihren Bevölkerungen abschneiden, forderte Sami. “Die große Solidaritätswelle europaweit hat gezeigt, dass die Bürger viel pragmatischer zur Tat schreiten, sie haben schneller verstanden, was gebraucht wird.”


Ohne sie geht nichts

Wie etwa der Fall von Binario 1 in Bozen zeigt. Unter diesem Namen haben sich die freiwilligen Helfer, die seit Frühling dieses Jahres ihren Dienst am Bahnhof versehen, inzwischen zusammengeschlossen. Zu einer kleinen Berühmtheit ist Eliana Murano herangewachsen. Selbst Nachkomme von italienischen Auswanderern – “Wirtschaftsflüchtlinge”, wie Eliana selbst erzählt – war sie von Anfang an dabei als es galt, den Flüchtlingen am Bozner Bahnhof ein Mindestmaß an Verpflegung und Menschlichkeit zuteil werden zu lassen. Am Samstag war Eliana zum runden Tisch geladen, um über ihr Engagement und jenes von Binario 1 zu berichten. Sie zeichnete nach, wie die Freiwilligen Tag für Tag an den Bahnhof kamen, unermüdlich für bessere Bedingungen für die durchreisenden Flüchtlinge kämpften und wie jeder so langsam seinen Platz im Solidaritätsnetzwerk fand. Nun fordern die Freiwilligen von Binario 1: “Die Institutionen sollen ihrer Verantwortung nachkommen und wieder die Menschen und ihre fundamentalen Rechte in den Fokus rücken. Am Bahnhof und in den Aufnahmestrukturen im ganzen Land.”

Die Menschen im Visier hat unter anderem der Verein Volontarius, der in Bozen und am Brenner aktiv ist. Laut Auskunft des Vereins wurden zwischen 1. Jänner und Anfang Oktober 2015 insgesamt 22.368 Menschen am Brenner gezählt, die über die Grenze wollten. Darunter 1.600 Minderjährige. In Bozen hingegen seien es seit Beginn des Einsatzes von Volontarius im Mai 14.306 Ankömmlige beziehungsweise Durchreisende gezählt worden: An die 3.300 Frauen und 10.900 Männer, darunter 4.300 Minderjährige. Mit Zahlen konnte schließlich auch Monika Weissensteiner von der Alexander Langer Stiftung aufwarten: “2014 sind 170.000 Menschen an den italienischen Küsten angekommen. Davon haben 65.000 einen Asylantrag gestellt. Verantwortungsbewusste Antworten hat es bis heute aber keine gegeben”, so ihre Kritik in Richtung Politik. Diese habe das Vakuum, das durch ihre Untätigkeit entstanden sei, mit dem Einsatz von Polizeikräften wie etwa den trilateralen Kontrollen in den Zügen Richtung Deutschland, gefüllt. “Dadurch werden aber keine Probleme gelöst, sondern die Menschen suchen sich andere, risikoreichere und teurere Wege”, so Weissensteiner. Daher forderte auch sie sichere und legale Einreisemöglichkeiten für Menschen auf der Flucht.

“Niemand von uns besitzt einen Zauberstab, aber wir alle haben Hände, die wir benützen können”, erinnerte Francesco Palermo am Ende der Gesprächsrunde. “Und wenn jeder von uns etwas macht, dann werden wir es auch schaffen, die Probleme zu lösen.”

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Lupo Cattivo So., 04.10.2015 - 23:13

"Wir wollen mehr schaffen"....klingt so ähnlich wie..."Wir schaffen das"...mittlerweile aber..nicht mehr...Unmut macht sich breit...auch in Deutschland.
Stephanie Schulz ist der neue Star bei Facebook. in einem 15 minütigen Video spricht sie aus, was möglicherweise viele Menschen denken. Das teils emotionale Video ist poltisch ziemlich inkorrekt und dürfte in Kürze bei Facebook gelöscht werden.

http://www.mmnews.de/index.php/politik/54855-politiker-das-kotzt-mich-e…

Ist Stephanie eine Ausnahme oder spricht sie aus, was viele Menschen denken?

So., 04.10.2015 - 23:13 Permalink
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Stephan Griehl Mo., 05.10.2015 - 10:48

Antwort auf von Lupo Cattivo

"Unmut macht sich breit" - es wird immer Leute geben, die unzufrieden sind, Angst haben, sich benachteiligt fühlen, usw.. Kein Mensch behauptet, dass die Lösung der aktuellen Flüchtlingssituation einfach werden wird. Wir, die Menschen im Westen, haben es verschlafen uns auf diese Situation vorzubereiten. Zeit wäre gewesen. Auch über eine Mitschuld muss man reden. Nun wird die Lösung auch nicht von einem Tag auf den anderen kommen. Man wird Fehler machen auf diesem Weg. Am Ende bleibt jedoch unsere Verantwortung Flüchtlinge, die vor Krieg, Verfolgung und Tod fliehen müssen, zu helfen! Unter allen Umständen. Und natürlich muss man schauen, welche Menschen da kommen: wer hat Anrecht auf Asyl und wer nicht. Kommen Leute, die sich nicht an die Regeln eines friedlichen Zusammenlebens halten, dann entfällt ihnen u. U. jegliches Bleiberecht. Aber weil im gesamten Flüchtlingstrom auch Menschen sein werden, die sich nicht an diese Regeln halten, am Ende niemandem zu helfen, ist aus meiner Sicht intolerabel.

Man sollte übrigens nicht dem Glauben verfallen, dass Frau Stephanie Scholz im Namen aller Deutschen spricht. Ich finde es anmaßend, dass sie genau das tut. Sicher, es gibt eine Menge Leute, die sich hinter Pegida stellen, aber das sind nicht "Die Deutschen". Einfach lächerlich. In diesen 15 Minuten sind evtl. einige ihrer Kritikpunkte angebracht. Aber es enthält auch dermaßen viele Pauschalisierungen, ekelhaft!

Mo., 05.10.2015 - 10:48 Permalink
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Lupo Cattivo Mo., 05.10.2015 - 13:46

Antwort auf von Stephan Griehl

Würde ich in Deutschland wohnen,wäre mir auch nicht mehr ganz so wohl ums Herz.
...dann wird einfach beschlagnahmt
http://www.deutschlandfunk.de/beschlagnahmt-berlin-nimmt-sich-fluechtli…
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fluechtlinge-in-berlin-zwangsverm…
http://www.blu-news.org/2015/09/27/stadtwaldrodung-fuer-immigrantenunte…
http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/geplante-beschlagn…

Dies die Aussage von Frau Merkel: Der „Herrgott“ hat uns die Flüchtlinge geschickt

http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2015/10/04/merkel-auf-esoter…
http://www.kreisbote.de/lokales/fuerstenfeldbruck/fluechtlingsmassnahme…
"Notfalls auch Beschlagnahmung"
Natürlich wird gerne polarisiert,aber bei solchen Meldungen und Aussagen...man kann davor die Augen nicht verschließen.

Mo., 05.10.2015 - 13:46 Permalink
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Stephan Griehl Mo., 05.10.2015 - 15:12

Antwort auf von Lupo Cattivo

"Würde ich in Deutschland wohnen,wäre mir auch nicht mehr ganz so wohl ums Herz. ...dann wird einfach beschlagnahmt"
Ja aber lesen sie doch bitte genau. Da werden doch nicht einfach bewohnte Wohnungen beschlagnahmt. Und auch nicht, wie Frau Stephanie Schulz das behauptet, Rentner oder Familien einfach auf die Straße gesetzt, damit Flüchtlinge es sich bei denen auf dem Sofa bequem machen können. Und auch der Konstanzer Stadtwald wird vermutlich nicht abgeholzt werden.

Es geht um "leerstehende Wohnungen" und "im Einvernehmen mit den Eigentümern". Und die landeseigenen Immobilien stehen, je nach Vertrag, natürlich dem Land zur Verfügung. Wenn dabei ein privater Betrieb schließen muss, dann ist das für die Betroffenen natürlich sehr bitter, aber derartige Kündigungen passieren auch so regelmäßig, eben weil die Immobilien dem Land gehören.

Mo., 05.10.2015 - 15:12 Permalink