Gesellschaft | GLEICHGEWICHT

Rein und frei

Vom reinen Wesen, das auf die Welt kommt, zu einer lebenslangen Suche nach Gleichgewicht, zwischen Egoismus und Solidarität, Zweifel und Erkenntnissen.
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Rein und frei kommt der Mensch auf die Welt. Und bleibt es für den Bruchteil einer Sekunde. Nicht länger. Denn dann bringt ihn die Kälte zum Zittern, das Licht blendet ihn, der Lärm des Lebens erschreckt ihn. Tatsächlich beginnt er ja auch sofort zu weinen: Sein unschuldiges, ursprüngliches Gleichgewicht ist dahin. Die äußere Welt ist in ihn eingedrungen. Während dieser kleine Mensch seinen Charakter ausprägt, verliert er seine angeborene Unschuld. Verliert sein inspiriertes Wesen, all diese reine Liebe, die aus der Ferne kommt. Während sich in seinem Gesicht die ersten Zeichen von Intelligenz zeigen, vergisst er alles, was er an Wissen in diese Welt bereits mitgebracht hat. Während er heranwächst, formen und beeinflussen ihn Schule, Religion, Familie, Freunde, die Umwelt. Egoismus und Egozentrik sorgen für seine Radikalisierung, das Fehlen von Anregungen macht ihn dumpf, und wenn er dann inmitten einer aufgebrachten Menge steckt, vermag er innerhalb kürzester Zeit und mit ungeahnter Brutalität sein schlimmstes Gesicht zu zeigen. Doch abseits solcher Gruppenexzesse kann der Mensch ruhig und freundlich sein. Wenn er sich bemüht und anstrengt, kann er sogar wieder zum Engel werden. Er kann Zweifel in Chancen verwandeln, kann allgemeine Probleme relativieren, indem er sie in konkrete Schwierigkeiten umwandelt. Innerhalb des großen, absoluten Gesamtbilds kann und muss er sein eigenes Kunstwerk schaffen. Er kann die Leinwand mit sanften Pastellfarben schattieren oder mit Schwung dicke Farbkleckse daraufschleudern, ganz wie ein zeitgenössischer Emilio Vedova. Er kann die Leinwand auch mit dem Messer aufschlitzen. Er hat die Freiheit, sich seinen eigenen Raum zu schaffen, in dem er mit dem Gesamtbild, mit seinem Leben ein harmonisches Verhältnis eingeht. Er kann selbst entscheiden, ob es ihm gefällt oder ob er sich bemitleiden will, und er hat jederzeit die Möglichkeit, den Pinsel aufs Neue in die Hand zu nehmen, um hie und da etwas auszubessern oder neu zu malen oder sich selbst zu quälen, die Leinwand zu zerreißen, sich vom Leben hin- und herschütteln zu lassen und irgendwie zu überleben. Er kann mit sich und der Welt um ihn herum im Reinen sein, ihre Schönheit in sich aufnehmen und gleichzeitig anderen mutig und zugleich bescheiden ein Lehrmeister sein: Er kann Freundlichkeit schenken, ein Lächeln, gute Taten. Wer Schönheit verschenkt, fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft; wer dagegen alles für sich behält, wird zu einem einsamen, verlassenen Menschen werden. Einem Menschen, der nicht begriffen hat, wie wichtig andere Menschen sind, fehlt das Gleichgewicht. Ein Mensch kann viel erreichen, dies aber nur, wenn er mit anderen Menschen in Verbindung steht, ihnen Respekt, Aufmerksamkeit und Achtung entgegenbringt – genau darin besteht die Stärke des Menschseins.

Wenn man erst einmal begriffen hat, welche Art von Gastfreundschaft man leben muss, um selbst im Gleichgewicht zu sein, ist das eine große Errungenschaft. Diese Art der Gastfreundschaft besteht aus Menschlichkeit, aus einem echten Sich-Öffnen dem anderen gegenüber, dem Wunsch, seine Geschichte zu verstehen und seine Fehler, ganz ohne Vorurteile, dafür aber im Bewusstsein, damit Verantwortung zu übernehmen. Es ist eine echte Begegnung mit dem anderen, ganz ohne Ängste oder gar Phobien, eine Begegnung, die uns frei macht und „schön“. Wie Carl Gustav Jung in seinen „Erinnerungen“ schreibt: „Die entscheidende Frage für den Menschen ist die: Ist er auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das grundlegende Problem seines Lebens. Nur wenn wir wissen, dass das Grundlegende grenzenlos ist, können wir vermeiden, unser Interesse in Nichtigkeiten zu stecken. Nur wenn wir verstehen und spüren können, dass wir bereits in diesem Leben eine Verbindung mit dem Unendlichen haben, ändern sich unsere Wünsche und Einstellungen.“ Also: sich nicht in Nutzlosigkeiten verlieren, um die Einstellungen zu verändern, keinen Sündenböcke bemühen, um den eigenen Egoismus zu rechtfertigen, ein bisschen über uns selbst hinausschauen. Das ist es! Denn so erweitert sich unser Horizont beträchtlich! Vielleicht liegt der Erfolg der Maratona genau darin – dass er lang ist, brutal anstrengend, endlos eben. Umgeben von Bergen und damit beschäftigt, mit jedem anderen Menschen dieses angeborene Bedürfnis danach zu teilen, ins Ziel zu kommen, wird der Radfahrer bei der Maratona einen kurzen Moment lang auf diese Erinnerung zurückgeworfen, wie er in jener Nanosekunde war, als er auf die Welt gekommen ist. Rein und frei.