Gesellschaft | Zeitgeschichte

Der schwarze Heindl

Heinrich Oberleiter könnte der erste der vier „Pusterer Buam“ sein, der vom Staatspräsidenten begnadigt wird. Wer ist dieser heute 78jährige Ex-Attentäter?
Heinrich Oberleiter
Foto: upi
Siegfried Steger ist einer, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält. „Ich würde und werde nie um Gnade ansuchen“, sagt er am Dienstagnachmittag. Die Meldung zu seinem ehemaligen Mitstreiter Heinrich Oberleiter fasst er dennoch sichtlich mit Freuden auf. „Ich vergönne es ihm“, sagt der Kopf der ehemaligen „Pusterer Baum“ „und hoffe, dass er noch einmal nach Südtirol fahren kann.“
Heinrich Oberleiter, der seit vielen Jahren im bayrischen Gössenheim lebt und am 13. Jänner seinen 78. Geburtstag gefeiert hat, könnte der erste der noch verbliebenen und per Haftbefehl gesuchten Attentäter der 1960er-Jahre sein, der begnadigt wird. Oberleiter und seine Kinder haben im vergangenen Jahr offiziell um Begnadigung angesucht. Am Dienstag wurde bekannt, dass das zuständige Oberlandesgericht von Brescia zum Begnadigungsverfahren ein positives Gutachten erlassen hat. Es ist ein erster aber entscheidender Schritt damit Staatspräsident Sergio Mattarella das Gnadengesuch annehmen kann.
Man geht deshalb davon aus, dass es in den nächsten Monaten zur Begnadigung von Heinrich Oberleiter kommen wird. Dabei ist dieser Schritt weit mehr als ein symbolischer Akt. Denn es könnte der Start dafür sein, dass der italienische Staat nach über 50 Jahren ein strafrechtliches Kapitel endlich abschließt.
Wer aber ist dieser Heinrich Oberleiter?
 

Die „Pusterer Buam“

 
Heinrich Oberleiter gehört zu jenem Quartett, das unter den Namen „Pusterer Buam“ in die Zeit- und Justizgeschichte Südtirols und Italiens eingegangen ist. Siegfried Steger, Sepp Forer, Heinrich Oberlechner und Heinrich Oberleiter kommen aus dem Ahrntal und sie schließen sich blutjung dem Beifreiungsausschuss Südtirol (BAS) an. Steger (Jahrgang 1939) ist der Älteste von ihnen, Heinrich Oberleiter der Jüngste. Weil es zwei Heinrichs in der Gruppe gibt, der eine (Oberlechner) blond ist und der anderer (Oberleiter) schwarze Haare hat, erhält Oberleiter schon bald einen Spitznamen: „Der schwarze Heindl“.
Als der BAS in der Feuernacht seinen großen Schlag führt, sind die vier Ahrntaler Burschen bereits mit dabei. Steger ist 22 Jahre alt, Forer und Oberlechner sind 21 Jahre alt und Heinrich Oberleiter ist 20. Die Vierer-Gruppe hat keine großartigen, politischen Visionen. „Wir wollten einfach etwas für die Heimat tun“, sagt Siegfried Steger im Rückblick. 
 
Am 12. Juni 1961 dem Tag der Feuernacht überbringt ihnen ein weit älterer österreichischer BAS-Mann den Sprengstoff und die Flugblätter für die geplanten Anschläge. Erst Monate später in Österreich lernen sie diesen Mann kennen. Es war Norbert Burger.
In der Feuernacht verüben die vier „Pusterer Buam“ mehrere Anschläge auf Strommasten und auf eine Druckrohrleitung im Ahrn- und Tauferertal. Als Anfang Juli 1961 die Verhaftungswelle beginnt, die fast den gesamten Südtiroler BAS hinter Gitter bringt, flüchten Siegfried Steger, Sepp Forer und Heinrich Oberlechner über die Berge nach Nordtirol.
Heinrich Oberleiter bleibt hingegen im Ahrntal. „Mich kennt niemand“, sagt er damals. Und er hatte Recht. Über zwei Jahre lang bleibt der BAS-Mann danach unbehelligt.
 

Operation Heini

 
Diese konspirativ, abgeschottete Ahrntaler BAS-Zelle ist von Anfang an eine besondere Herausforderung für den SIFAR (Servizio Informazioni Forze Armate). Der italienische Geheimdienst versucht immer wieder an die vier „Pusterer Buam“ heranzukommen. Über ein Dutzend Agenten, die in diesen Jahren vom SIFAR geführt werden, sollen versuchen die Gruppe zu infiltrieren. Weil die „Pusterer Buam“ aber misstrauisch sind und darauf achten auch in Österreich unter sich zu bleiben, gelingt das lange nicht.
Im Sommer 1963 zeichnet sich plötzlich ein Erfolg ab. Über eine Mittelsfrau gelingt es den SIFAR im Sommer 1963 einem Mann an die „Pusterer Buam“ heranzuführen. Der Bauernsohn und landwirtschaftliche Arbeiter Hermann Volgger, etwa gleich alt wie die vier Ahrntaler BAS-Mitglieder, wird im Tal nach seinem Hofnamen nur „Kröpfl“ genannt.
Hermann Volgger arbeitet ab dem Frühsommer 1963 für den SIFAR und wird vom damaligen Leiter des Bozner SIFAR-Büros Renzo Monico geführt und bezahlt. Volggers Deckname ist dabei nach seinem Zielobjekt gewählt: „Heini“.
Denn der Spitzel macht sich im Sommer 1963 an Heinrich Oberleiter und dessen Bruder David heran und bietet ihnen seine Mitarbeit an. Im Spätsommer und Herbst 1963 beteiligt sich Agent Heini mit Heinrich Oberleiter an mehreren BAS-Attentaten im Ahrntal. Der italienische Geheimdienst ist vorab bestens informiert. Man lässt Oberleiter aber bewusst gewähren. Der Grund: Man will alle vier „Pusterer Buam“ bei einer gemeinsamen Aktion erwischen und verhaften.
 
Weil Hermann Volgger aber bei den Aktionen auffällig ruhig ist und auf einem Sprengstofftransport bei einer Straßensperre von den Carabinieri durchgewinkt wird, schöpft Heinrich Oberleiter Verdacht.
Der BAS-Mann nimmt Hermann Volgger in die Zange und dieser gesteht für den SIFAR zu arbeiten. Die beiden schließen einen Pakt: „Heini“ meldet dem SIFAR nichts von seiner Beichte und die BAS-Leute machen gute Miene zum bösen Spiel.
Doch den SIFAR-Profis entgeht nicht, dass sich das Verhältnis zu ihrem Spitzel plötzlich geändert hat. Zudem erhält der SIFAR von seinen anderen Spitzeln im BAS die Meldung, dass Agent Heini enttarnt sei.
Die Geheimdienst-Operation ist damit geplatzt und man bereitet im November 1963 die Verhaftung Heinrich Oberleiters vor.


Die Flucht

 
Auch Heinrich Oberleiter ist spätestens zu diesem Zeitpunkt klar, dass sich die Schlinge um ihn herum zuzieht. Deshalb bereitet er seine Flucht nach Österreich vor.
Am 1. Dezember 1963 versuchen Heinrich Oberleiter und Rosa Ebner im hintersten Ahrntal illegal über die Berge nach Österreich zu kommen. Als die beiden mit einem Motorrad im Ahrntal Richtung Rain fahren, werden sie von einer Streife der Finanzwache angehalten. Da sie das Haltezeichen der Polizei nicht beachtet und einfach wei­terfahren, werden sie verfolgt und schließlich verhaftet. Auf der Fahrt in die Polizeikaserne nach Sand in Taufers gerät der Polizeijeep aber von der verei­sten Straße ab. Als die Carabinieri versuchen den Jeep wieder auf die Straße zurückzubringen, gelingt Heinrich Oberleiter die Flucht. Er schafft es in den Tagen danach über die Berge nach Innsbruck zu fliehen.
 
Oberleiter muss aber seinen Rucksack im Polizeijeep zurücklassen. Darin finden die Ordnungshüter neben einem hohen Geldbetrag in Schilling und Lire und Munition, auch ein Notizbuch und einen unentwickelten Film.
Als die Polizei den Film entwickeln lässt, stellt sich heraus, dass darauf Fotos der „Pusterer Buam“ und einiger ihrer Anschläge sind. Im Notizbuch hatte Oberleiter ein Ta­gebuch geführt, in dem er die Aktivitäten der Pusterer BAS-Gruppe genauestens aufzeichnete. Damit konnten den vier Pusterer fast alle Anschläge vom Sommer und Herbst im Raum Bruneck und Ahrntal nachgewiesen werden. 
Vor allem aber sind auf den Fotos die BAS-Männer in einem Versteck zu sehen. Mit dabei auf einigen Fotos auch ein junges Mädchen. Die Frau ist schnell identifiziert. Es handelt sich um Martha Kirchler.
Wir haben der jungen Frau dann fast einen Tag lang zugeredet“, erinnert sich der langjährige Leiter der Bozner DIGOS Vinicio Marcomeni an das Verhör, „bis sie uns schließlich zum Versteck geführt hat“.
 
Das Versteck der „Pusterer Buam“ liegt unter dem elterlichen Hof der Kirchlers „Kofler zwischen den Wänden“. Es ist ein Bunker, der so gut versteckt ist, dass die Polizisten mehrmals über den Eingang laufen, ohne es zu merken. „Wir haben den Eingang erst gefunden, als ihn uns das Mädchen gezeigt hat“, sagt Marcomeni.
Im Versteck findet man Sprengstoff und Waffen. Zudem wird ein Tisch mitgenommen  in den Sepp Forer einen Spruch eingeritzt hat: „Sie sollen sie nicht haben, des Brenners Scheidewand! – Sie sollen sich erst graben, ihr Grab in unserm Land!“.
Dieser Spruch sollte vier Jahre später Heinrich Oberleiter einem weit schrecklicheren Verdacht aussetzen. Am 25. Juni 1967 explodieren auf der Porzescharte in der Provinz Belluno zwei Minen. Ein Alpini und drei Angehörige einer Antiterroreinheit werden dabei getötet. Eine Woche später gräbt ein österreichischer Sprengstoffexperte ein Holzkästchen aus, das angeblich als Zünder einer der Minen gedient habe. Auf dem Deckel findet sich genau dieser Spruch.
Heinrich Oberleiter wird deshalb beim Prozess in Florenz 1970 mitangeklagt. Es stellt sich aber heraus, dass er mit diesem Anschlag nichts zu tun hat.
 

Die Verurteilungen

 
Heinrich Oberleiter verbringt die nächsten Jahre in Nordtirol und Bayern. Ab Sommer 1964 setzt der BAS eine Guerilla-Taktik um. Konkret: Man greift auch Ordnungskräfte an. Im Sommer 1964 kommt es zu mehreren Schusswechseln, zu einer Treibjagd im Weiler Tesselberg und es gibt die ersten Toten.
Zwischen 1964 und 1967 gehen die vier Pusterer immer wieder illegal über die Grenze nach Südtirol, halten sich wochenlang versteckt und begehen Attentate. Alle Feuerüberfälle, die in diesen Jahren im Pustertal begonnen werden und bei denen mindestens 10 Ordnungshüter sterben, werden automatisch dem Quartett angerecht. Obwohl es in keinem Fall einen klaren Beweis für ihre Schuld gibt.
Heinrich Oberleiter und seine Mitstreiter werden im dritten großen Südtirol-Prozess in Bologna 1969 in Abwesenheit zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Ein Jahr später steht Oberleiter in Brescia vor Gericht. Dort geht der Prozess zum Anschlag auf den Brennerexpress im November 1964 über die Bühne. Die treibende Kraft bei diesem Anschlag war der deutsche Architekt Karl Franz Joosten. Ein bezahlter „Agent provocateur“ des italienischen Innenministeriums und der Bozner Quästur. Weil Oberleiter den Sprengstoff geliefert haben soll, wird er in Brescia 1970 zu 29 Jahren Haft verurteilt.
49 Jahre später scheint jetzt genau an diesem Gericht ein Gnadenakt zu beginnen, an den kaum jemand mehr wirklich geglaubt hat.