Gesellschaft | Jugend

Versäumtes Aufholen

Die „Jugendgangs“ waren das Mediengespenst des Sommers 2022. Doch was ist dran an den angeblich gewalttätigen Jugendlichen?
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: (c) Jugenddienst Burggrafenamt

Immer wieder war heuer von gewalttätigen oder randalierenden Jugendlichen und Banden die Rede. Auch Salto hat mehrmals darüber berichtet. Und auch im HdS ist man auf das Thema aufmerksam geworden, bzw. hat es selbst mitbekommen: Gerade im Sommer sah man dort immer wieder Jugendliche herumhängen, die scheinbar nirgendwo anders Platz fanden. „Wenn man die Anzahl an Schülern und Studenten betrachtet, bietet Brixen noch zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten für junge Leute“, berichtet Niklas Klinge, Mitglied der Hausleitung des HdS.

Doch wie sieht die Situation von jungen Menschen in Südtirol im Jahr 2022 wirklich aus? Wie kann man ihnen helfen, besser mit sich selber und der Welt um sie herum zurechtzukommen? Salto.bz hat mit Menschen gesprochen, die von Berufswegen mit Jugendlichen und ihren Problemen zu tun haben: Dem Streetwork-Team des Burggrafenamtes, deren Leiterin Sandra Durnwalder ist.

Salto.bz: Sehr geehrte Frau Durnwalder, danke, dass Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sich die Zeit für dieses Interview nehmen. Eine Frage vorab: Was ist Streetwork? Was machen Streetworkerinnen und Streetworker?

Sandra Durnwalder: Definition unserer Tätigkeit des Streetworks im Buggrafenamt: Die Streetworker*innen sind in der mobilen sozialen Jugendarbeit tätig. Zielgruppe sind Jugendliche im Alter von 12 bis 27 Jahren jeglicher Sprachgruppe und Ethnien, welche sich auf dem Territorium der Bezirksgemeinschaft Burggrafenamt aufhalten. Streetworker*innen arbeiten niederschwellig und suchen die Sozialräume der Jugendlichen auf. Sie treten dort mit ihnen in Kontakt und versuchen langfristig eine Vertrauensbasis aufzubauen, um sie anschließend, immer auf freiwilliger Basis, in unterschiedlichen Lebenssituationen zu unterstützen. Streetworker*innen beraten und begleiten die Jugendlichen je nach Notwendigkeit zu den richtigen Anlaufstellen. Ziel ist es, sozial auffällige Verhaltensweise vorzubeugen und auf das Wohlbefinden der Jugendlichen einzugehen.

Zusätzlich sind wir für die Jugendlichen nicht nur physisch, sondern auch über einer Dienstnummer sowie Social Media Kanälen (Instagram, Facebook, WhatsApp) erreichbar.

Weitere Informationen zu unserer Tätigkeit findet man auf unserer Website: https://www.jugenddienstmeran.it/streetwork/

 

Salto.bz: In letzter Zeit hat man ja viel über Jugendbanden und Gangs gehört, doch was ist aus Ihrer Sicht da wirklich dran? Gibt es wirklich einen Anstieg an auffälligen oder straffällig gewordenen Jugendlichen?

Sandra Durnwalder: Jugendgewalt in all ihren Facetten z.B. Vandalismus und Gewaltakte hat es immer schon gegeben und werden häufig von den Medien gepuscht. Früher waren es Streitereien, Schlägereien zwischen Neonazis und Punks (aufgrund dessen ist Streetwork in Burggrafenamt entstanden), heute sind es andere Peergroups. Einen klaren Anstieg können wir dadurch nicht deklarieren - bedeutet aber nicht, dass wir dieses Phänomen verleugnen oder verneinen. Wir sind der Meinung, dass dieser “Problematik” einfach viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird und somit auch ein Konkurrenzkampf und/oder Druck sich zu exhibieren, unter den Jugendlichen gefördert wird. Mittlerweile wird jede Schlägerei gefilmt und auf den Social Media veröffentlicht oder geteilt. Welche Jugendgruppe behauptet sich besser? Wer bekommt mehr Schlagzeilen oder Visualisierungen?

Zusätzlich muss man oft auch folgendes berücksichtigen, wenn man derartige Phänomene analysieren will: Jugendliche haben zwei verschiedene Bewältigungsmethoden. Das nach innen gerichtete Bewältigungsmuster sowie das nach außen gerichtete. Beim nach außen gerichteten Bewältigungsmuster wird der eigene Frust auf etwas Externes, z.B. einen Gegenstand oder eine Person gerichtet. Dieses ist von der Gesellschaft sichtbar, in Form von Vandalismus oder Schlägereien. Viele Jugendliche verwenden aber auch das nach innen gerichtete Bewältigungsmuster, wobei der Frust gegen sich selbst gerichtet wird wie z.B. Autoaggression, Essstörungen, Medikamentenmissbrauch usw. Das ist nicht immer sofort erkennbar, ist aber SEHR präsent bei den Jugendlichen. Wir beobachten aber auch eine Verschiebung der Bewältigungsmechanismen: Immer mehr Jugendliche, vor allem weibliche Jugendliche, greifen mehr auf das nach außen gerichtete Muster zurück.

 

Salto.bz: Jugendliche haben am meisten unter den aktuellen Krisen – von Pandemie bis Energiekrise – zu leiden. Was brauchen Jugendliche aktuell? Wie kann man ihnen helfen?

Sandra Durnwalder: Jugendliche brauchen vor allem Freiräume, in denen sie sich frei entfalten, sozialisieren und austauschen können. Die Pandemie hat genau diese wichtige Facette der Identitätsbildung eines Jugendlichen unterbunden. Wir bemerken leider sehr häufig, dass sich Jugendliche bei zwischenmenschlichen Interaktionen sehr schwertun. Sozialer Rückzug, viel wurde und wird auf die virtuelle Welt verlagert. Viele Jugendliche suchen Anerkennung durch Likes und viele Follower, haben in der Realität aber nur wenige gute Freunde. Sie äußern ihre Meinung häufig nur auf den Sozialen Medien und fühlen sich sonst oft nicht gehört.

Gleichzeitig sind viele Freizeitangebote, wie z.B. Sport als Hobby und somit auch oft Ventil zum Frustabbau, meistens kostspielig und nicht für jegliche Familie finanziell leistbar.

Neben der ganzen physischen Entwicklung und Identitätsfindung, die ein Jugendlicher bewältigen muss, kommt auch noch der Leistungsdruck hinzu, und wie Sie bestimmt wissen, leben wir in einer Leistungsgesellschaft: Nur wer produktiv ist, wird von der Gesellschaft als nicht problematisch angesehen. Zum Jugendalter gehört es dazu, Grenzen zu überschreiten und sich auszutesten. Bisher hat es noch keine „Jugendgeneration“ gegeben, die bisher mit so vielen Regeln (und kontinuierliche Regeländerungen) überflutet wurde, wie die jetzige Generation in der Pandemiezeit. Auch Erwachsene waren oftmals damit überfordert. Und seien wir mal ehrlich, Hand aufs Herz, die Erwachsenen waren bei diesen "Covid- Regel befolgen" auch nicht immer wirklich ein gutes Vorbild. Wie können wir jetzt von den Jugendlichen erwarten, dass sie immer alle einhalten?

Salto.bz: Was sind im Moment die größten Probleme der Jugendlichen in Südtirol?

Sandra Durnwalder: Jugendliche verspüren einen großen Drang, das Versäumte aufzuholen. Immer wieder haben wir die Aussagen gehört, dass man ihnen die Jugend raubt. Häufig fehlen ihnen jedoch dafür die Möglichkeiten und die Räumlichkeiten. Ein weiteres Thema ist auch die gesellschaftliche Akzeptanz. Jugendlichen werden häufig als Störfaktor wahrgenommen und bekommen für jeglichen Vandalismus, Müllanhäufung und Gewaltakten die Schuld - obwohl sie nicht immer die Verantwortlichen dafür sind.

Jugendliche sind der Spiegel der Gesellschaft. Haben sie das Gefühl, dass es der Gesellschaft gut geht? Nach zwei Jahren Pandemie, kam es zum Krieg, dessen Nebenwirkungen wir alle spüren. Es kam nie mehr zu einer Stabilität bzw. Normalität, dann kamen auch noch die Inflation und die Preiserhöhungen, die zu Existenzängsten führen. All dies spüren auch unsere Jugendliche und bekommen dies oft passiv, aber auch aktiv (oft von der Familie vermittelt) mit. Diese gesellschaftliche Spannung wird in den Jugendlichen angestaut und häufig wissen sie nicht, wie sie mit diesem Druck umgehen und/oder sich abreagieren sollen. Sie merken die Unruhe und die Turbulenzen der Gesellschaft, können aber die Ursache, den Ursprung nicht definieren. Eigentlich ist das Jugendalter da, sich selbst zu finden, sich auszutesten, Spaß zu haben, Entdeckungen in der Sexualität zu machen. Wenn sie uns fragen, was Jugendliche brauchen, kommt uns in Anhieb Stabilität und Rückkehr in die Normalität in den Sinn, sowie Freiräume oder auch Jugendräume, in denen sie sich entfalten und begegnen können.

Salto.bz: Wie kann Streetwork den Jugendlichen helfen?

Sandra Durnwalder: Da wir auf freiwilliger Basis arbeiten, können wir natürlich nicht den Jugendlichen unser Hilfsangebot aufdrängen. Wir Streetworker*innen werden weiterhin versuchen mit den Jugendgruppen in Kontakt zu treten, um mit ihnen eine Vertrauensbasis aufzubauen und sie dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden - ohne sie zu verurteilen. Sobald wir eine Beziehung zu den Jugendlichen aufgebaut haben, versuchen wir ein Individualprojekt zu starten, indem wir auf ihre unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen und versuchen Alternativen aufzuzeigen.

 

So ähnlich wird das auch im HdS gesehen: „Aus unserer Perspektive – als Sozialgenossenschaft und Sozialarbeiterinnen und -pädagoginnen – führt eine Erhöhung der Kontrolle, z.B. durch eine höhere Polizeipräsenz, nicht zu der Behebung des grundlegenden Problems. Den Jugendlichen hier eine freiwillige, unterstützende Hand zu reichen, ist eine deutlich bessere und nachhaltigere Lösung,“ meint Camilla Moroder, Mitglied der Hausleitung des HdS.