Gesellschaft | zebra

Ein ungleiches Paar

Max schreibt und singt, Emanuel unterstützt ihn. Max sitzt im Rollstuhl. Emanuel macht derzeit den Führerschein: die Geschichte eines jungen Mannes und seines Begleiters.
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Foto: Georg Hofer
 
Max raucht auf dem Weg zur Arbeit noch eine Zigarette, während Emanuel beim Laufen dorthin außer Atem gerät. „Funny black man“, sagt Max zu Emanuel, „funny white man“, kontert dieser.
Fast ein Jahr ist es jetzt her, seit Max und Emanuel sich zum ersten Mal begegnet sind. Bei der „Lebendigen Bibliothek“  in einer Bozner Schule war das. Das Konzept dieser Kennenlern-Methode sieht vor, dass Schüler*innen ihre Informationen nicht aus Büchern holen, sondern lebenden Personen gegenübersitzen und aus diesen „lesen“.
Max Silbernagl ist 1995 geboren, drei Monate zu früh. Wenn ihn Kinder fragen, wieso er im Rollstuhl sitzt, fragt er, ob sie ein Stück mitfahren wollen. Er erzählt ihnen dann vom Sauerstoffmangel bei seiner Geburt, dass er seinen Körper trotz des Rollstuhls zur Gänze spüren, aber nicht gehen kann. Er hat spastische Tetraparese und aufgrund des mehrjährigen Sitzens auch ein wenig Skoliose. Seine Gedanken sind glasklar. Die Kinder verstehen das gleich. Erwachsene hingegen schauen manchmal skeptisch und glauben, der junge Mann im Rollstuhl habe eine geistige Beeinträchtigung. Wenn Max einen schlechten Tag hat – das passiert nur selten –, reagiert er schnippisch oder gereizt darauf. Wie ein normaler Mensch behandelt zu werden, das ist ihm das Wichtigste. Er will kein Mitleid und keine schiefen Blicke. Er brauche Respekt und zolle Respekt, sagt Max. Emanuel begegne ihm auf Augenhöhe. Das freut ihn: „Ema ist mein bester Mann, auch als Kumpel.“ 
 
 
Emanuel war fast ein Jahr lang unterwegs, als er am 6. Jänner 2015 von Nigeria über Ghana, von der Türkei über Bulgarien und Serbien nach Ungarn, Deutschland und schließlich nach Bozen kam. Er will bei dem Treffen in der Wohnung von Max in Bozen nicht über seine Geschichte reden und sagt nur „Biafra“. Biafra war lange das Synonym für den brutalen Unabhängigkeitskrieg, der Ende der 1960er-Jahre im Südosten Nigerias tobte. 1967 erklärte die Region Biafra die Sezession, der folgende Bürgerkrieg endete zweieinhalb Jahre später mit mehreren hunderttausend Toten, manche sprechen von Millionen, und mit Biafras Kapitulation. Staatsstreiche und Diktaturen folgten. Die innenpolitischen Unruhen um das zur Biafra-Region zählende Nigerdelta bestehen fort. Emanuel will nicht mehr zurück. 
Emanuel und Max kommunizieren in Englisch miteinander. Sie sind sich dabei gegenseitig Lehrer. Sprachprobleme haben sie kaum. Falls Worte fehlen, verständigen sie sich in Italienisch. Sie reden viel und über alles. „Ich will Max glücklich sehen“, sagt Emanuel: Max sei sein „boss, brother and friend“. Die Lebendige Bibliothek gab den Anstoß dazu. Der 29-jährige Mann aus Nigeria schläft von Montag bis Freitag in der Wohnung von Max in der Bozner Alessandriastraße. Jeweils um 20 Uhr beginnt sein Dienst. Manchmal kocht er für ihn. Das nigerianische Gericht Indomie mag Max gerne. Das sind Instantnudeln, die Emanuel mit verschiedenen scharfen Gewürzen, mit Zwiebeln und Spinat anrührt. Max hat so auch gebackene Kochbananen kennengelernt und isst gerne scharf gewürzte Bohnen mit Reis.
Emanuel war fast ein Jahr lang unterwegs, als er am 6. Jänner 2015 von Nigeria über Ghana, von der Türkei über Bulgarien und Serbien nach Ungarn, Deutschland und schließlich nach Bozen kam. Er will bei dem Treffen in der Wohnung von Max in Bozen nicht über seine Geschichte reden und sagt nur „Biafra“. Biafra war lange das Synonym für den brutalen Unabhängigkeitskrieg, der Ende der 1960er-Jahre im Südosten Nigerias tobte
Unabhängigkeit ist ihm viel wert. Alleine leben kann der junge Mann aus Seis nicht. Er braucht jemanden, der ihn beim Trinken und Essen unterstützt, der ihn zur Toilette begleitet und ihm beim An- und Ausziehen hilft. Bis vor Kurzem war Gabriel in der Nacht da, vor drei Monaten hat Emanuel ihn abgelöst. Am Nachmittag begleitet ihn Magdalena. Sie holt ihn von der Arbeit ab und verbringt mit ihm die freie Zeit. Abends fahren Max und Emanuel oft in die Bozner Altstadt, um Leute zu treffen. Mit Max sei es einfach, Menschen kennenzulernen, sagt Emanuel. Er ist ein kommunikativer Mensch. Die Freude am Feiern hat bei Max auch in der fünften Klasse der Fachoberschule für Tourismus überwogen. Seine Eltern hatten zugestimmt, dass er während des fünften Schuljahres im Bozner Kolpinghaus begleitet wohnen und von dort in die Schule gehen darf. „Ich habe zu viel Party gemacht“, sagt Max. Heute kann er darüber lachen. Er wurde nicht zur Matura zugelassen, seine Eltern holten ihn nach Hause zurück. Die Matura bestand er im Jahr darauf, fuhr wieder täglich von Seis nach Bozen und zurück. Dann ließen ihn seine Eltern ziehen. Seit insgesamt drei Jahren lebt er nun in der Landeshauptstadt.
 
 
Gegen 23 Uhr geht Max schlafen. Emanuel unterstützt ihn beim Waschen und Zähneputzen und bringt ihn zu Bett. Er schläft im Zimmer nebenan. Wenn Max in der Nacht gedreht oder aufs Klo gebracht werden möchte, drückt er auf eine Klingel. Zwei bis drei Mal pro Nacht betätigt er sie. Emanuel hat sich an diesen Aufstehrhythmus gewöhnt. Seinen Wecker stellt er auf 6 Uhr früh. Dann hat er Zeit für den Haushalt, hängt die Wäsche auf, putzt das Bad oder den Boden. Um 7.20 Uhr muss Max aus dem Bett, um nach dem Duschen noch Zeit für das Frühstück zu haben. Emanuels Pudding, Costat, isst er besonders gerne.
In einer Whatsapp-Nachricht vor dem abendlichen Interviewtermin hat Max mitgeteilt, dass er nicht nur von seinen besonderen Bedürfnissen reden will, sondern vor allem von seiner Arbeit und seiner Musikleidenschaft. Seit eineinhalb Jahren arbeitet Max von Montag bis Freitag bei der Lebenshilfe in der Galileo-Galilei- Straße in Teilzeit: Als Sekretär ist er in der Buchhaltung tätig. Während er im Rollstuhl auf dem Weg zur Arbeit noch seine Morgenzigarette raucht, läuft Emanuel neben ihm her oder begleitet ihn auf dem Rad. Eine Viertelstunde brauchen sie für den Weg. Wie jeden Wochentag holt Lena Max auch am Freitag von der Arbeit ab und bringt ihn dann in seinem Auto nach Seis, wo er die Wochenenden mit Freunden und Familie verbringt.
Am liebsten aber macht Max Musik. Vor zwei Jahren hat er mit vier Freunden die Band Chaos Junkies gegründet. Die Gruppe macht Punkrock, trifft sich einmal pro Woche zum Proben und hat bisher 18 Konzerte gegeben. Max ist der Sänger. Auf YouTube, Facebook und Instagram gibt es Hörproben
Am liebsten aber macht Max Musik. In der Temple Bar in Bozen hat er andere Musikliebhaber und Künstler kennengelernt und vor zwei Jahren mit vier Freunden die Band Chaos Junkies gegründet. Die Gruppe macht Punkrock, trifft sich einmal pro Woche zum Proben und hat bisher 18 Konzerte gegeben. Max ist der Sänger. Auf YouTube, Facebook und Instagram gibt es Hörproben. Daheim hören Max und Emanuel am liebsten Raggaemusik von Bob Marley. Während andere Sport treiben, um sich auszupowern, schreibt Max Texte und macht Musik. „Jeder Mensch braucht Ventile, um den Kopf frei zu kriegen. Das sind meine zwei.“ Nach drei Monaten Probezeit hat Emanuel bei Max seit Kurzem eine fixe Anstellung. Er kennt die Bedürfnisse des jungen Mannes gut. Jeder Mensch habe Stärken und Schwächen, sagt er. Die beiden lachen häufig mit- und übereinander, Probleme hatten sie bisher kaum. Über Frauen reden sie gerne und darüber, dass Max irgendwann eine Familie gründen möchte. „Ich bin mit zwei jüngeren Geschwistern groß geworden“, sagt er. Familie ist ihm wichtig. Irgendwann möchte er heiraten: „Da bin ich in manchen Augen altmodisch.“ 
 

In der Pubertät hat Max Physiotherapie und Massagen abgelehnt. „Ich hatte Besseres zu tun. Beim Ausgehen und Feiern haben mich Gedanken an die Physiotherapie mehr gestresst als sie mir gutgetan haben“, sagt er grinsend. Heute nimmt er die Physiotherapie an, sie halte ihn beweglich, räumt er ein. Einmal in der Woche hat er dort einen Termin, morgens massiert ihn Emanuel vor dem Aufstehen. Schubladendenken verabscheut er. Gar einige Menschen haben Max gewarnt, als er ihnen erzählte, dass er einen Mann aus Nigeria als seinen Begleiter einstellen wolle: „Viele verbinden die schwarze Hautfarbe mit Kriminalität und Unzuverlässigkeit.“ Obwohl kaum jemand mit eingewanderten Menschen gearbeitet habe, seien die Vorurteile groß. Das macht ihm Angst.
Kürzlich hat ein älterer Mann Max seine Daseinsberechtigung abgesprochen. Menschen mit Beeinträchtigung seien eine Belastung für die Gesellschaft, betonte er. Das hat Max tief getroffen, aber er hat das Gespräch nicht abgebrochen, sondern die Argumente des alten Mannes wiederlegt. Emanuel hört genau zu und nickt. In den Tagen, in denen er nicht bei dem jungen Mann arbeitet, verkauft er zebra. Öfters machen ihn Menschen dabei blöd an und sagen, er solle in sein Land zurückgehen: „Ich bedanke mich dann und wünsche den Leuten einen besonders schönen Tag.“ Solche Personen würden nur darauf warten, dass er sich aufrege: „Dann haben sie gewonnen.“