Umwelt | Teure Energie

Eine teure Heizsaison steht bevor

Die Gaspreise erreichen Rekordwerte und die Gasspeicher sind vor Winterbeginn halbleer. Kann die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Pipeline den Preisanstieg stoppen?
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Foto: Nord Stream 2 AG

Die EU ist stark von Gas-Importen abhängig

Gas spielt im Energiemix der EU eine wichtige Rolle und macht ein Viertel des Energieverbrauchs aus. Neben der Stromgewinnung spielt Gas auch eine wichtige Rolle im Heizsektor. Schon seit Ende der 1970er Jahre konnte die Gasproduktion in Europa nicht mehr mit dem Gasverbrauch Schritt halten, die Gasimporte sind seit damals ständig gestiegen. In diesem Zusammenhang ist es in der EU immer wieder zu Diskussionen bezüglich der starken Importabhängigkeit und der Energiesicherheit gekommen, da der größte Teil des importierten Gases aus nur wenigen Ländern stammt.

Fast 80% des importierten Gases wird über Pipelines in die EU geliefert, 20% wird als Flüssiggas (LNG)* importiert. Steigende Flüssiggasimporte haben zwar zu einer stärkeren Diversifikation bei den Gasimporten geführt, trotzdem ist Russland das bei weitem wichtigste Gasimportland der EU mit einem Anteil von 43% im Jahre 2020, gefolgt von Norwegen mit 20% und Algerien mit 12%. Flüssiggasimporte, die größtenteils aus Katar, den USA und aus Nigeria stammten, machten fast 20% aus.

Mit der Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Pipeline würde der Anteil von russischem Gas weiter steigen, vorausgesetzt Russland liefert weiterhin dieselben Mengen an Gas über die bereits bestehenden Pipelines**.

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Die Preisgestaltung im EU-Gasmarkt 

Vor der Liberalisierung des Gasmarktes wurden die Gaspreise ausschließlich in langfristigen Verträgen*** zwischen den Exportländern und den großen Gasimporteuren, die meist im Strom- oder Energiesektor tätig waren, wie z.B. Eni und Enel in Italien oder E.ON und RWE in Deutschland, festgelegt. Im Zuge der Liberalisierung des Gasmarktes seit Ende der 1990iger Jahre entstanden in vielen europäischen Ländern „Gas-Hubs“**** oder Gas-Börsen. Die Preise an den „Gas-Hubs“ bilden sich nach Angebot und Nachfrage, neben „Spotgeschäften“ werden auch „Futures“-Geschäfte (=Termingeschäfte) abgewickelt. Die Marktteilnehmer sind einerseits Flüssiggas- und Pipeline Gas-Anbieter und andererseits große Elektrizitätsgesellschaften, Industriebetriebe und diverse Großhändler/Gaslieferanten, welche den Haushalten und Unternehmen das Gas verkaufen. Auch Finanzinvestoren schließen Hedgegeschäfte auf den Gas-Hubs ab. Langfristige Lieferverträge für Pipeline-Gas gibt es immer noch, z.B. mit der russischen Gazprom, in die Preis-Berechnung werden inzwischen auch Marktpreise, die an den Gas-Hubs erzielt werden, mit einbezogen.

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Die Ursachen für die stark gestiegenen Gaspreise sind vielfältig

Nach dem Corona-Lockdown ist es in Asien, vor allem in China, zu einem wirtschaftlichen Nachholbedarf und zu einer gesteigerten Nachfrage nach Flüssiggas gekommen. Die USA liefern Flüssiggas nach Asien zu überhöhten Preisen, während Flüssiggas-Importe nach Europa entsprechend geringer ausfallen. Zudem setzt China im Stromgewinnungssektor stärker auf Gaskraftwerke, um einen Teil der CO2-intensiven Kohlekraftwerke zu substituieren.

Der vergangene Winter war sowohl in Europa, Asien und Nordamerika ungewöhnlich kalt, Gas aus den Gasspeichern wurde stark aufgebraucht und die Gasspeicher sind für die bevorstehenden Wintermonate nicht entsprechend aufgefüllt.

In Europa, vor allem in den Niederlanden, wird weniger Gas produziert, zusätzlich führten temporäre Produktionseinschränkungen in Norwegen durch nachgeholte Wartungen zu einem geringeren Angebot.

Wetterbedingt wurde in Europa 2021 weniger Windstrom erzeugt. Zudem wird in Deutschland durch den schon begonnenen Atom- und Kohleausstieg entsprechend weniger Strom erzeugt und deshalb ist die Gas-Nachfrage für die Stromerzeugung gestiegen.

Manche Politiker und Gaskonzerne werfen Russland vor, bewusst weniger Gas zu liefern, um die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Pipeline zu beschleunigen. Russland dementiert, laut Kreml-Sprecher Dmitri Peskow „erfülle Gazprom alle bestehenden Lieferverträge zu 100% und sogar darüber hinaus“.

Das knappe Angebot und die steigende Nachfrage haben die Gaspreise enorm in die Höhe getrieben. Am wichtigsten europäischen Handelsplatz für Gas, dem TTF-Gas-Hub in Amsterdam hat sich der Spotmarkt-Gaspreis seit Jahresbeginn mehr als verdreifacht.

Steigende Gaspreise belasten nicht nur die Haushalte, sondern auch diverse Industrieunternehmen (z.B. Düngemittelhersteller, Chemieunternehmen etc.), die auf den Rohstoff Gas angewiesen sind und wirken sich auch auf die Strompreise aus.  Energieexperten gehen davon aus, dass die hohen Gaspreise auch in den Wintermonaten anhalten werden. Falls es einen kalten Winter geben sollte, könnte es zu weiteren Preissteigerungen kommen. Um die Folgen der steigenden Gas- und Strompreise abzufedern, haben die EU-Staaten beschlossen Maßnahmen zu ergreifen. Kurzfristig könnten z. B. niedrigere Steuern und Abgaben auf Gas die Haushalte und Unternehmen entlasten, mittel- und langfristig muss der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt werden.

Die Nord Stream 2 Gas-Pipeline, ein umstrittenes Projekt

Die Nord Stream 2 Pipeline wurde Anfang September fertiggestellt, doch bis zur Inbetriebnahme bedarf es noch wichtiger Zertifizierungsverfahren.

Die neue Gasleitung verläuft weitgehend parallel zur bereits seit 2011 bestehenden Nord Stream 1 Pipeline und kann pro Jahr bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas von der russischen zur deutschen Küste durch die Ostsee transportieren, von dort aus kann das Gas in das europäische Gasnetz eingespeist werden.

Geopolitisch und aus Klimaschutzgründen ist die fast 10 Milliarden Euro teure Pipeline hochumstritten. Klimaschützer und Grüne Parteien lehnen das Projekt ab, da es den Verbrauch von fossiler Energie fördert. Aus geopolitischen und wirtschaftlichen Überlegungen stehen osteuropäische EU-Länder, wie Polen, Tschechien, die Slowakei und die baltischen Länder, aber vor allem die Ukraine der Nord Stream 2 Pipeline ablehnend gegenüber, da sie einerseits eine zu starke Abhängigkeit von russischem Gas befürchten, ihre Versorgungssicherheit bedroht sehen und auch um hohe Einnahmen aus Transitgebühren bereits bestehender Pipelines fürchten. Die milliardenschweren Transitgebühren sind vor allem für die Ukraine eine wichtige Einnahmequelle, die durch die Verfügbarkeit einer alternativen Route wegfallen könnten.

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Warum die USA die Nord Stream 2 Pipeline verhindern wollten 

Jahrelang hatte das Nord Stream 2 Projekt auch für Streit zwischen Washington und Berlin gesorgt, die USA haben sogar Sanktionen gegenüber Firmen, die am Bau der Gaspipeline beteiligt waren, verhängt. Washington warf Deutschland und der EU vor, noch stärker von Russlands Gaslieferungen abhängig zu werden und befürchtete zudem, dass die neue Pipeline Polen und die Ukraine von der Erdgasversorgung abschneiden könnte. Neben geopolitischen Überlegungen dürfte der wichtigste Grund wohl ein wirtschaftlicher sein, Amerika braucht Absatzmärkte für die stark gewachsene Produktion von Fracking-Gas. Seit 2016 exportiert die USA Flüssiggas nach Europa, zusätzliches russisches Gas bedeutet Konkurrenz, zudem ist Pipeline-Gas im Normalfall billiger als Flüssiggas aus den USA. Im vergangenen Juli ist es schließlich doch zu einer Einigung zwischen Washington und Berlin gekommen: Nord Stream 2 durfte fertiggestellt werden, im Gegenzug soll der Gastransit durch die Ukraine langfristig vertraglich abgesichert werden. Sollte Russland die Pipeline als politische Waffe nutzen, sind Sanktionen gegen Russland vorgesehen.

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Braucht die EU die Nord Stream 2 Pipeline?

Befürworter der neuen Pipeline argumentieren, dass die EU in Zukunft mehr Gas brauchen werde, da die inländische Produktion weiter sinken wird. Vor allem in Deutschland wird der beschlossene Ausstieg aus Atomkraft und Kohle mehr Gas zur Schließung der Versorgungslücken brauchen, da der Ausbau von erneuerbarer Energie nicht schnell genug vorankomme. Es gebe keine einseitige Abhängigkeit von Russland, dessen Abhängigkeit von Deviseneinnahmen sei größer als die europäische Abhängigkeit von russischem Erdgas. Russland sei seit vielen Jahrzehnten ein verlässlicher Gaslieferant, selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erfüllte Russland seine vertraglichen Verpflichtungen, weil es die Gas- und Öleinnahmen brauchte.

Es gibt auch Energieexperten, die den wirtschaftlichen Nutzen der neuen Pipeline in Frage stellen. So vertritt die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), die Meinung, „dass der Bau Nord Stream 2 Pipeline aus energiewirtschaftlicher Sicht nicht notwendig gewesen wäre. Es gebe bereits ausreichend Pipeline-Kapazitäten, neue Flüssiggasterminals und Transportrouten, die für den in Zukunft abnehmenden Bedarf von fossilem Erdgas reichten“. Auch die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kommt zu der „Einschätzung, dass die neue Pipeline für die Gasversorgung Deutschlands und Westeuropas nicht notwendig sei".

Mit der Fertigstellung der Nord Stream 2 Pipeline wurde zusätzliche Infrastruktur geschaffen, ob mit der Inbetriebnahme die Gaslieferungen aus Russland auch insgesamt zunehmen werden, bleibt abzuwarten. In der jetzigen Situation wären größere Gas-Liefermengen dringend notwendig, um die hohen Gaspreise zu senken.

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* LNG ist verflüssigtes Gas. Es wird in einer Gasverflüssigungsanlage auf -164 °C abgekühlt und unter atmosphärischem Druck verflüssigt, so dass das ursprüngliche Volumen des Erdgases auf ein Sechshundertstel reduziert wird. LNG wird dann in LNG-Tankern transportiert. Im Importland wird das Gas in speziellen LNG Terminals wieder in seinen gasförmigen Zustand zurückversetzt bevor es in die Verteilerpipelines eingespeist wird.

** Die „Brotherhood-Pipeline“ transportiert Gas aus Russland durch die Ukraine nach Westeuropa, während die „Yamal Pipeline“ über Weißrussland und Polen russisches Gas nach Westeuropa liefert. Die Nord Stream 1 Pipeline wurde erst 2011 fertiggestellt und verläuft von Russland durch die Ostsee nach Norddeutschland.

*** Die Erlöse aus den Gaspreisen sollten einerseits dazu beitragen die Erdgasfelder zu erschließen, was durch langfristige Verträge (25 bis 35 Jahre) gewährleistet war. Die Preisgestaltung sollte außerdem die Erträge für die Fördergesellschaften maximieren und Gas musste zudem konkurrenzfähig mit anderen Energieformen sein. In den 1979er Jahren waren das vor allem Erdölprodukte wie Schweröl und leichtes Heizöl, deshalb wurden die Gaspreise an die Erdölpreise gekoppelt. Inzwischen werden bei langfristigen Lieferverträgen auch Marktpreise als Basis der Preis-Berechnung herangezogen.

**** Ein Gas „Hub“ ist ein virtueller Transaktionspunkt, an dem Gas gehandelt wird, die Preisbildung erfolgt nach Angebot und Nachfrage. 1996 wurde der britische NBP (National Balancing Point) als erster europäischer „Gas Hub“ gegründet, andere Länder folgten, neben dem TTF in den Niederlanden, dem wichtigsten und größten Gas-Hub in Europa, zählen auch Zeebrugge in Belgien, Gaspool (GASPL) und NCG in Deutschland, PEGN, PEGS und TIGF in Frankreich, CEGH in Österreich und PSV (Punto di Sgambio Virtuale) in Italien zu bedeutenden europäischen Gas Hubs.

 

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Gianguido Piani Do., 30.09.2021 - 06:58

Liebe Frau Penner!
noch einmal ein sehr fundierter und informationsreicher Artikel von Ihnen. Alle wichtigen Aspekte werden darin ausführlich behandelt. Danke.
Darf ich Folgendes unterstreichen?
"es ist in der EU immer wieder zu Diskussionen bezüglich der starken Importabhängigkeit und der Energiesicherheit gekommen, da der größte Teil des importierten Gases aus nur wenigen Ländern stammt." EU-Länder haben nur kleine Gasvorkommen. Will man in Russland nicht kaufen, dann soll man andere Liefereranten finden. Mittelöstliche Länder sind, wie bekannt, basisdemokratisch, stabil, zuverlässig. Warum nicht von dort kaufen? Eine Gas-Pipeline durch Irak und Syrien mag schnell und einfach gebaut werden. Where is the problem?(*)
"Langfristige Lieferverträge für Pipeline-Gas gibt es immer noch, z.B. mit der russischen Gazprom, in die Preis-Berechnung werden inzwischen auch Marktpreise, die an den Gas-Hubs erzielt werden, mit einbezogen." Soweit mir bekannt ist, hat Russland immer langfristige Verträge und Preise vorgezogen, die Einführung von Gas-Börsen war ein EU-Konstrukt. Nach dem Motto: "Der Markt regelt alles, die Preise werden immer sinken. Alles zu unserem Vorteil, da wir wenig eigenes Gas haben." Jetzt rächt sich der Markt. Will die EU nun plötzlich stabile, langfristige Preise wieder einführen? Wo würde ihre Glaubwürdigkeit dann stecken?
"Der vergangene Winter war sowohl in Europa, Asien und Nordamerika ungewöhnlich kalt [...] In Europa, vor allem in den Niederlanden, wird weniger Gas produziert [...] Wetterbedingt wurde in Europa 2021 weniger Windstrom erzeugt." Das sagt vieles über die realistichen Einsatzmöglichkeiten von den erneuerbaren Energien. Mehr Windstromanlagen hätten in dieser Situation nicht geholfen.
Es gibt nur einen Ausweg. Weniger verbrauchen. Und noch weniger verbrauchen. Wird es gehen?
(*) Ironisch gemeint, falls jemand es nicht versteht.

Do., 30.09.2021 - 06:58 Permalink
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Gianguido Piani Sa., 02.10.2021 - 08:06

Über das gleiche Thema, sehr lesenswert
https://www.zeit.de/2021/40/gaskrise-europa-russland-kuenstliche-verkna…
Zitat: Und so lästerte Präsident Wladimir Putin kürzlich bei einer Pressekonferenz in Moskau: "Das haben sich die Schlaumeier in der letzten EU-Kommission ausgedacht, die marktbasierte Preisbildung für Gas. Das haben sie jetzt davon."
Die Probleme, die im Zeit-Artikel erläutert werden, hatte ich 2007 und 2014 in zwei Fachaufsätzen angesprochen. Aber mit Technikern, Wissenschaftlern und sonstigen Fachleuten wollen weder Wirtschaftswissenschaftler noch Politiker reden. Jetzt ist die Rechnung da.

Sa., 02.10.2021 - 08:06 Permalink