Mailänder Dom
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Gesellschaft | Polemik um Pandemie

Die erniedrigte Lombardei

Die politische Ausschlachtung der Pandemie in Italiens grösster Region
Die Geschichte, die der Corriere della Sera auf einer ganzen Seite erzählt, ist symptomatisch für die Wirrnisse der Covid-Pandemie in der Lombardei. Es ist die Geschichte eines Mailänders, der dem Schicksal seines Bruders Gianni Fossati nachspürt. Der ist in Mailand durchaus kein Unbekannter: Journalist, Autor, erfolgreicher Manager der Verlagsgruppe Rizzoli-Corriere della Sera, Professor an der Mailänder Universitá Cattolica und vom Staatspräsidenten zum Grand'Ufficiale della Repubblica ernannt. Schliesslich erfährt er auf Umwegen, dass der Bruder am 24. März im Fatebenefratelli-Krankenhaus verstorben ist. Die Familie wurde nicht verständigt.
Nach Wochen vergeblicher Suche schreibt Vando Fossati schiesslich einen Brief an Mailands Bürgermeister Giuseppe Sala – und erhält diesmal Antwort: 
 
"Non avendo avuto disposizioni da parte dei parenti entro 5 giorni dal decesso, il comune di Milano ha sepolto d`ufficio Gianni Fossati il 4 aprile, nel campo 87, fossa 23." 
 
Geschichten wie diese waren in den letzten Wochen in der Lombardei  an der  Tagesordnung. Etwa in Brescia, wo die Särge der Opfer nachts mit Militärlastwagen zur Verbrennung in andere Städte gebracht wurden – ohne Verständigung der Angehörigen.
Jetzt sollen Versäumnisse und Fehlentscheidungen der vergangenen Monate untersucht, die Verantwortung dafür geklärt werden. Eine Untersuchungskommission soll etwa klären, warum trotz Pandemie in der Mailänder Seniorenklinik Pio Albergo Trivulzio den Pflegern und Krankenschwestern das Tragen von Gesichtsmasken untersagt wurde – "per non spaventare i pazienti".
Matteo Salvini richtet sofort seinen Bannstrahl gegen die ermittelnden Staatsanwälte: "La pandemia è ancora in corso e già i procuratori interrogano il presidente lombardo." Was Salvini tunlichst verschweigt: Attilio Fontana wurde nicht als Präsident der Lombardei angehört, sondern als "persona informata sui fatti".
Cristina Rota, Staatsanwältin von Bergamo, sorgte für den ersten Stich ins Wespennest. Die mangelnde Einführung der zone rosse in den Gemeinden Alzano Lombardo und Nembro falle in die Verantwortung der Regierung. Premier Conte dementiert umgehend.
Der Fall demonstriert augenfällig, wieviel politischen Zündstoff diese Ermittlungen bergen. Ein Blick auf die Titelseite der Tageszeitung  Il Fatto Quotidiano am Sonntag verdeutlicht die Tragweite der Diskussion: "Chi ha distrutto la sanità pubblica?"
 
Die Lombardei ist Italiens Vorzeigeregion. Sie ist die grösste und reichste Region,  erwirtschaftet das höchste Bruttosozialprodukt und verfügt mit Mailand über die unbestrittene Hauptstadt von Mode und Design. Allein der salone del mobile und die settimana della moda ziehen jedes Jahr über halbe Million Besucher aus aller Welt an. Beide fielen der Pandemie zum Opfer. 
Die lombardische Hauptstadt erwirtschaftet allein 10 Prozent des italienischen  Bruttosozialprodukts, die Region mit 370 Milliarden fast ein Drittel des italienischen Sozialprodukts.
Niemand konnte ahnen, dass ausgerechnet diese Musterregion im Kampf gegen den Corona-Virus so kläglich versagen könnte. An Zündstoff fehlt es nun nicht. So beschuldigt die in der medizinischen Forschung tätige Stiftung
Gimbe die Regionalregierung in Mailand, die effektiven Zahlen zu beschönigen: "Aggiustati i numeri dei contagi." Andere Kritiker verweisen auf das klägliche Scheitern des von der Regionalregierung gewollten Notkrankenhauses auf dem Gelände der Mailänder Messe, für das allein Silvio Berlusconi 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hatte.
 
Kein Tag ohne Polemiken und Anschuldigungen. Nun soll eine parlamentarische Untersuchungskommission die Begleitumstände der Pandemie in der Lombardei untersuchen. Freilich geriet bereits die Wahl des Vorsitzenden zur Farce. Da der Vorsitz der Opposition zusteht, einigten sich Matteo Salvini und Matteo Renzi mit Handschlag auf die Italia-Viva-Abgeordnete Patrizia Baffi. Partito Democratico und M5S kündigten daraufhin umgehend ihren Boykott der Arbeiten an. Politischer Wahn in Zeiten der Pandemie.
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Hartmuth Staffler Mo., 01.06.2020 - 17:50

"Die Lombardei ist Italiens Vorzeigeregion. Sie ist grösser als Österreich", schreibt Gerhard Mumelter. Der Größenvergleich verwundert ein wenig. Die Lombardei ist genau 23.862,85 Quadratkilometer groß, Österreich 83.979,99 Quadratkilometer.

Mo., 01.06.2020 - 17:50 Permalink
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Klemens Riegler Mo., 01.06.2020 - 18:43

Das Gesundheitswesen in der Lombardei ist ebenso den EU-Vorgaben (sparen, sparen, sparen) zum Opfer gefallen wie in anderen Regionen.
Zudem wurden die Hälfte der Gesundheitsheitseinrichtungen privatisiert ... speziell natürlich Bereiche, in denen sich gutes Geld verdienen lässt, denn bezahlen muss ja trotzdem der Staat. Die Folge:
- Verschiedenste Eingriffe bei eher jüngeren Menschen die gar nicht nötig sind.
- ReHa-Leistungen voll abgerechnet und nur zu 50% durchgeführt. .... usw.
Alles was teuer und aufwändig ist, wurde nicht privatisiert... und schlussendlich zu Tode gespart, weil kein Geld.
Vielleicht gehen die Damen und Herren Staatsanwälte auch dort nachschauen?!?

Mo., 01.06.2020 - 18:43 Permalink
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Martin Koellen… Di., 02.06.2020 - 10:22

Antwort auf von Klemens Riegler

Die Konventionierung im Gesundheitswesen ist ein großes Problem. Lukrative und risikoarme Eingriffe werden, den privaten Einrichtungen zugeschanzt, während das öffentliche System den schwierigen und undankbaren Rest bekommt. Dies führt unweigerlich zu einem Attraktivitätsverlust und dem Abwandern von Pflegern und Ärzten in die konventionierte "Privat"wirtschaft und zum Niedergang des öffentlichen Systems.

Di., 02.06.2020 - 10:22 Permalink