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Antisemitismus heute

Ist Judenfeindlichkeit im 21. Jahrhundert noch ein Problem in Europa? Die Hälfte der EU-Bürger sagt: Ja. Eines der größten Probleme: die Leugnung des Holocaust.
Judenstern
Foto: Pixabay

Dieser Tage wird wie jedes Jahr europaweit den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Der 27. Jänner ist Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. An jenem Tag im Jahr 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit.
Ist Antisemitismus heute, 74 Jahre später, noch ein Problem in Europa?

Die Hälfte der EU-Bürger sagt: Ja. Laut einer Eurobarometer-Umfrage, deren Ergebnisse heute (22. Jänner) veröffentlicht wurde, sehen 50% der EU-Bürger Antisemitismus, also Judenfeindlichkeit, als Problem in ihrem Land. 43% nicht. Insgesamt wurden 27.643 Personen in allen EU-Staaten zwischen 3. und 20. Dezember 2018 befragt.
In 3 der 28 Mitgliedsstaaten – Schweden (81%), Frankreich (72%) und Deutschland (66%) – sagen mehr als zwei Drittel der Befragten, dass der Antisemitismus im eigenen Land ein Problem sei. In Italien sind es 58%, in Österreich 47%.

Im EU-Durchschnitt geben 36%, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. 39% glauben, dass er gleich geblieben ist, und nur 10% sind der Ansicht, dass der Antisemitismus weniger geworden ist. Auch hier glauben die Schweden mit 73% am stärksten, dass der Antisemitismus stärker geworden ist. In Österreich sind es 33%, in Italien 31%. In Bulgarien und Malta sind es nur je 2%.

 

Vor allem Personen, die jüdische Freunde oder Bekannte haben (64%), einer Minderheit angehören (60%) oder muslimische Freunde oder Bekannte haben (59%), bezeichnen den Antisemitismus in ihrem Land als Problem.

Als eines der größten Probleme im Zusammenhang mit Antisemitismus wird die Leugnung des Holocaust wahrgenommen. 53% sehen in der Leugnung des Völkermordes an den Juden in ihrem Land ein Problem – am meisten wiederum in Schweden (79%) Frankreich (78%) und Deutschland (71%). In Italien liegt dieser Prozentsatz bei 61%, in Österreich bei 49%.

 

Antisemitismus im politischen Leben erachten im Durchschnitt 43% der EU-Bürger als Problem. In Italien sind es 50%. Den jüngsten Beweis, wie antisemitische Ressentiments durch Politiker geschürt werden, lieferte just am Montag der 5-Sterne-Senator Elio Lannutti. “Die Gruppe der Zeugen von Zion und Mayer Amschel Rothschild, der geschickte Gründer der berühmten Dynastie, die heute noch das internationale Bankensystem kontrolliert, haben zur Schaffung des Manifestes ‘Die Protokolle der Weisen von Zion’ geführt”, schrieb Lannutti in einem Tweet, der später wieder gelöscht wurde. “Die Protokolle der Weisen von Zion” sind ein auf Fälschungen beruhendes antisemitisches Pamphlet, das im 20. Jahrhundert von unbekannten Autoren verfasst wurde. Die “Protokolle” geben vor, geheime Dokumente eines angeblichen Treffens von jüdischen Weltverschwörern zu sein und gehörten unter anderem in Nazi-Deutschland zum Unterrichtsstoff an den Schulen. Obwohl die britische Times die Fälschung bereits in den 1920er Jahren aufdeckte, werden die “Protokolle” bis heute verbreitet.

À propos Politik: Laut der Eurobarometer-Umfrage sehen 54% der EU-Bürger die Wahrnehmung der jüdischen Mitbürger im eigenen Land durch den Nahostkonflikt beeinflusst. Von den linksgerichteten Befragten sagen das 62%, von den rechtsgerichteten 53%.

 

43% der Befragten sagen, dass der Holocaust ausreichend in der Schule gelehrt wird. In Italien findet eine Mehrheit (48%), dass der Völkermord an den Juden nicht ausreichend in den Schulen behandelt wird. Ebenso eine Mehrheit (61%) findet, dass die Menschen in Italien nicht gut über die Geschichte, Bräuche und Gepflogenheiten der Juden informiert sind.

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen nimmt die jüngste Eurobarometer-Umfrage zum Anlass, eine Mahnung auszusprechen: “Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins – aber achten wir auf Ähnlichkeiten, auf Parallelen. Seien wir wachsam, dass es niemals wieder zu Demütigung, Entrechtung und Verfolgung in unserem Land und in Europa kommt. Es ist unsere Verantwortung. Es ist unsere gemeinsame Pflicht.”

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Franz Firlefanz Mi., 23.01.2019 - 00:06

"Vor allem Personen, die jüdische Freunde oder Bekannte haben (64%), einer Minderheit angehören (60%) oder muslimische Freunde oder Bekannte haben (59%), bezeichnen den Antisemitismus in ihrem Land als Problem."

man haette auch muslime selbst fragen koennen. haette mich brennend interessiert.

https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-in-deutschland-viele-m…
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-12/muslimischer-ant…
https://www.cicero.de/kultur/islamischer-antisemitismus-nie-wieder
https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36356/antisemitismus-…

Mi., 23.01.2019 - 00:06 Permalink
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Martin Daniel Mi., 23.01.2019 - 08:19

Die größte Alltagsproblematik für Juden in Westeuropa dürfte mittlerweile der weit verbreitete Antisemitismus unter muslimischen Einwanderern sein, der sich in Beschimpfungen und tätlichen Übergriffen äußert, die Menschen jüdischen Glaubens z.B. in Berlin auf Straßen u. in Schulen widerfahren. Es ist eines der Aspekte der misslungenen Integration, die Hamed Abdel-Samad in seinem Buch "Integration - Ein Protokoll des Scheiterns" analysiert. Das relativiert nicht die Schwere der Holocaust-Leugnung von rechtsextremen Kreisen, die, wenn unbekämpft, den Boden für eine unheilvolle Rück-Entwicklung bereiten kann. Die tägliche Angst z.B. mit der Kippa auf die Straße zu gehen oder die eigenen Kinder in der Schule stigmatisiert zu sehen, dürfte für die heutigen Juden konkret belastender sein. Beide Aspekte sind ohne ideologische Scheuklappen anzugehen.

Mi., 23.01.2019 - 08:19 Permalink
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Benno Kusstatscher Mi., 23.01.2019 - 11:27

Antwort auf von Martin Daniel

In meiner Wahrnehmung würde ich dem Ranking widersprechen wollen, Martin: Ist die größte Problematik nicht vielmehr die, sich unter "europäisch-cristlichen Ureinwohnern" breitmachende Unbeliebtheit der diversen israelischen Regierungen in ihrem Verhalten den Palästinensern gegenüber, die (auch und besonders in linken Kreisen) zu einem breiten Antizionismus führte, der sich im Laufe der Zeit unheilvoll undifferenziert und konsensfähig mit rechtem Antisemitismus verschmolz?

Mi., 23.01.2019 - 11:27 Permalink
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Martin Daniel Mi., 23.01.2019 - 12:14

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Du sprichst einen sehr interessanten Punkt an, nämlich das kuriose Zusammenfinden von linken und rechten Kräften in der Israel-Kritik. Ich gehe davon aus, dass die Israel-Kritik für Rechte meist das erlaubte Ventil für ihren Judenhass darstellt, könnte aber nicht sagen, ob die Palästinenserfreundlichkeit der Linken Ausdruck eines effektiven Antizionismus ist. Abdel-Samad schreibt, dass Linke aus einem Schutzreflex heraus generell Partei für die Schwächeren (Palästinenser) und Minderheiten (Migranten in der Mehrheitsgesellschaft) ergreifen würden und dabei auch über autoritäre (wie z.B. in Iran, Venezuela) oder patriarchale Strukturen (wie jene vieler muslimischer Communities in westeuropäischen Städten) hinwegsähen, wenn diese Länder als Opfer des westlichen Imperialismus und Kapitalismus anzusehen wären. Das Thema linker Antizionismus wäre zu vertiefen. Wichtig ist, dass das wir jegliche ideologische Brille ablegen und auf Gefahren für die freiheitliche Ordnung einzig aufgrund ihrer Intensität und nicht ihrer Herkunft reagieren.

Mi., 23.01.2019 - 12:14 Permalink
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Paul Stubenruss Mi., 23.01.2019 - 09:20

Allein zu denken, das Muslime vielfach Judenhasser sind und Frauen als minderwertig sehen gilt in einigen Kreisen in Deutschland als Nazigedankengut. Solche Kreise gibt es in Südtirol aber auch.

Mi., 23.01.2019 - 09:20 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Mi., 23.01.2019 - 22:31

Ich denke, du denkst falsch. Ich denke, Antizionismus und Antisemitismus haben nichts, gar nichts mit Antikapitalismus zu tun. Ich denke, man kann sogar sagen, die meisten Menschen können mit dem Begriff "Antizionnismus" gar nichts anfangen, und stellen ihn auf eine Ebene mit Atisemitismus.
Und auch ich tu mich schwer. Ich will dem Staate Israel sicher nicht seine Daseinsberechtigung absprechen, aber ich will die israelische Politik kritisieren können. Bin ich Antizionist?

"Judentum wird immerhin nach wie vor mit Bankwesen und Kapitalismus in Zusammenhang gebracht." Von wem?

"Auch der National-Sozialismus war antikapitalistisch, wie die Forderung nach der "Brechung der Zinsknechtschaft" im Programm der NSDAP verdeutlicht. " Und was sagt uns das?

Mi., 23.01.2019 - 22:31 Permalink
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Klaus Griesser Sa., 26.01.2019 - 11:50

In Auschwitz konnte ich nachempfinden mit welch mörderischer Grausamkeit die Nazis (darunter übrigens auch der Südtiroler Arzt Mengele) Tausende von Juden und andere Minderheiten sowie Oppositionelle nach industrieller Methode umgebracht u verbrannt haben, um dieses zur Hauptschuld für alle Übel erklärte „Ungeziefer“ für alle Zeiten zu vernichten. Ich kann verstehen dass Juden, die der Verfolgung (nicht nur in Deutschland!) entkommen konnten, sich nach einem Land sehnten, in dem sie sicher sein konnten. "Ein Volk ohne Raum" hat "einen Raum ohne Volk" gesucht und die Weltöffentlichkeit hat ihnen Palästina zugewiesen. Nur war das besagte Land nicht "ohne Volk". Doch weil die nachfolgenden Regierungen darüber hinweg sehen wollten, wurden die Urbewohner zu Menschen zweiter Klasse gemacht, die fortlaufend von ihren Gründen verdrängt wurden und sich heute nicht mehr frei im Lande bewegen können. Ihr Koexistenzrecht als eigener Staat im Staate, der ihnen von der UNO zugesprochen worden war, ist de facto nicht mehr realisierbar, denn sie leben eingepfercht in Mauern und Stacheldraht in vielen aufgesplitterten Einheiten und können nur über militärische Checkpoints/ Kontrollen/ Sondergenehmigungen ihre Verwandten, Bekannte oder die Märkte jüdischer Städte aufsuchen, während sich jeder Jude frei bewegen kann. Das ist ihre aussichtslose Lage und der Grund für die tiefe Abneigung gegen die kriegsstrotzende Politik Israels. Das wird jedoch weitgehend von unseren Ländern vertuscht oder totgeschwiegen. Deswegen wird in Europa das Eintreten für die Rechte der Palästinenser in Israel oft mittels Antisemitismuskeule unterdrückt.
Guarda caso hat unser Innenminister Salvini, der erklärtermaßen Flüchtlinge und „Zigeuner“ am liebsten mit der ruspa ins Meer schieben möchte und sich gerne wie ein Polizeiminister gewandet, kürzlich um die Gunst Netanjahus gebuhlt und sich als Freund auf die Schulter klopfen lassen. Sollte uns als Minderheit im Staate eigentlich ein Wink mit dem Zaunpfahl sein...

Sa., 26.01.2019 - 11:50 Permalink
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Pafeiler Matthias Sa., 26.01.2019 - 17:04

Es gibt Leute die sagen, Mengele wäre der bekannteste Südtirol Arzt überhaupt gewesen. Adolf Eichmann war übrigens auch mal Südtirol. Noch nie davon gehört?

Sa., 26.01.2019 - 17:04 Permalink
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Christoph Moar Sa., 26.01.2019 - 18:18

Die Lösung des Rätsels ist einfach. Adolf Eichmann, Josef Mengele und Erich Müller waren allesamt Bürger der Südtiroler Gemeinde Tramin, eine Zeit lang Teil der Operationszone Alpenvorland. Dies zumindest auf den Papieren, die sie zur Flucht verwendeten...

Sa., 26.01.2019 - 18:18 Permalink
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Robert Tam... So., 27.01.2019 - 19:47

Es ist ein beachtenswertes Kunststück, über die zunehmende Judenfeindlichkeit in Europa zu schreiben und "muslimisch" nur in einem Nebensatz zu erwähnen. So etwas ist unseriös.

So., 27.01.2019 - 19:47 Permalink