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Die soziale Kraft der Musik

Aus Südafrikas bunter Musikszene zog es den Sänger und Musiktheoretiker Johannes Van der Sandt nach Südtirol. Jetzt lehrt er in Brixen „Musik als Kommunikationsmittel“.
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Foto: unibz

Seit einigen Jahren lehrt Professor Johannes Van der Sandt in Brixen an der Fakultät für Bildungswissenschaften „Musik als Kommunikationsmittel“ und leitet den Chor UniBz-Voices. Professor Van der Sandt über unterschiedliche Musikkulturen und die soziale Kraft von Musik.

 

Die Tongewalt, die das Kinder- und Jugendorchester durch ihre Instrumente erzeugt, erfüllt den Raum und hinterlässt dem Publikum eine wohlige Gänsehaut der Faszination auf der Haut. Kaum zu glauben, dass dieses beeindruckende Orchester aus Kindern besteht, die in venezuelischen Armenvierteln leben und sich eigentlich keine Karriere als Musiker leisten können.

 

Vor 40 Jahren wagte der Musiker und Politiker José Antonio Abreu dieses soziales Experiment: Er drückte Kindern aus den Slums von Caracas ein Instrument in die Hand und gab ihnen kostenlosen Unterricht. Damit wollte er jungen Leuten aus der Armut helfen und ihnen eine Perspektive jenseits von Drogen und Kriminalität eröffnen. Dieses soziale Projekt nennt sich „El Systema“ und ist heute in der ganzen Welt bekannt, denn einige der besten Orchester gingen aus diesen Musikgruppen hervor. El Systema ist ein Beweis der sozialen Kraft von Musik.

 

Musik zur Erziehung von Kindern und Integration von Gruppen- damit beschäftigt sich auch der Universitätsprofessor Johannes van der Sandt an der Universität Brixen: „Mein Forschungsgebiet Community Music bzw. Singing ist ein international anerkanntes Wissenschaftsgebiet. Es stellt einen neuen Ansatz in der Musikpädagogik dar, der darauf abzielt, durch die Förderung der sozialen Integration und der sozialen Eingliederung zum Aufbau von Gemeinschaften beizutragen. Es ist das Ziel meiner Kollegin Antonella Coppi und mir, die Community Music unter den italienischen Akademikern zu etablieren, um eine Plattform zu schaffen, auf der Projekte ins Leben gerufen werden können, die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Integration und Toleranz schaffen.“

 

Bevor Professor Van der Sandt nach Brixen kam, lebte und lehrte der gebürtige Südafrikaner jahrelang in Pretoria. Musik ist ein kulturelles Identitätsmerkmal und bringt häufig den Geist eines Landes zum Ausdruck. Ein Vergleich zwischen den beiden Kulturen, deren Musik Herr Van der Sandt erleben und mitgestalten durfte, zeigt Ähnlichkeiten, aber auch Besonderheiten auf. Obwohl der Gesang in Südafrika viel stärker in den Alltag integriert sei, etwa als Teil der Schulcurricula und nicht bloß, wie hierzulande, als Freizeitangebot, stecke die südafrikanische Musikkultur im Vergleich zur reichen und älteren Musiktradition Südtirols noch in den Kinderschuhen: „Die vielen Chöre und Blaskapelle-Traditionen zeigen die Tiefe der Südtiroler Musikkultur, die sehr stark in spezifische Kulturkreise eingebettet ist. Zur religiösen Kultur Südtirols gehört auch die starke kirchliche Chortradition. Das ist in Südafrika anders. Man muss auch feststellen, dass Südafrika eine Vielzahl von Religionen hat, anders als in Südtirol, das überwiegend katholisch ist. Ich bin der Meinung, dass die Charakteristika der liturgischen Bedürfnisse auch die Art und Weise des Singens in gewissem Maße bestimmen.“

 

Von der religiösen Perspektive abgesehen, weisen beide Länder eine starke multikulturelle, Gesellschaft auf. Diese Eigenheit widerspiegelt sich ebenso in der Musiktradition wider. Insbesondere in der interkulturellen und sozialen Integration kann Musik eine fördernde Rolle einnehmen. Hier ist allerdings Südafrika Südtirol einen Schritt voraus, meint Professor Van der Sandt: „Es gibt viele Beispiele von südafrikanischen Chören, die zu einer harmonischen, multikulturellen, multirassischen und mehrsprachigen Gesellschaft beitragen. Durch die Musik werden das Verständnis und die Wertschätzung füreinander gefördert. Gesang wirkt als sozialer und politischer Brückenbauer. In Südtirol gibt es nur wenige Beispiele für integriertes Singen, also Integration von Sprach- und Kulturgruppen durch Musik.“

 

Und das, obwohl immer mehr Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass Gesang in der Gemeinschaft soziale Netzwerke des Vertrauens aufbauen kann. Das größte Hindernis für eine breiter gefächerte Musikkultur über homogene Kulturkreise hinaus, ist das stark bürokratisierte System des Landes, wenn es um Gruppenmusizieren in öffentlichen Räumen geht: „Die Südafrikaner zögern nicht, spontan Musik- und Gesangsgruppen zu bilden. Es gibt auch ein intaktes System des gesunden Wettbewerbs zwischen den Schulen, das ebenfalls zur Qualitätssteigerung der Musikgruppen beiträgt. So sind musikalische Angebote leichter zugänglich für mehr Kinder, nicht nur für diejenigen, die eine Musikschule besuchen. Die sehr formalisierte Vorgehensweise in Südtirol bzw. auch in Italien trägt dazu bei, dass die Aktivitäten des Musizierens nicht immer für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich sind.“

 

Um den ersten Schritt in eine integrierte Musikszene anzustoßen, wählte der Professor den Ort, der die Multikulturalität und Sprachenvielfalt Südtirols am besten repräsentiert - die dreisprachige Uni Bozen, und gründete den Chor UniBz – Voices. „Es ist nicht der erste Universitätschor, davor gab es andere Ensembles. Aber es ist der erste, der Studenten aus allen Sprachgruppen die Möglichkeit bietet, miteinander zu singen. Es ist auch ein Gemeinschaftschor, der verschiedene Musikstile verbindet, also nicht bloße liturgische Musik. Somit steht er allen Mitgliedern der Community offen,“ erzählt Van der Sandt.

 

Es geht in UniBz Voices also vielmehr um Inklusion. Der Prozess zum finalen Auftritt stehe dabei im Mittelpunkt, nicht bloß das Endprodukt in Form eines Konzerts, meint Van der Sandt: „Um in der Gruppe Musik zu machen, ist es wichtig, auf die Bedürfnisse der Gruppe als Ganzes und natürlich des Einzelnen zu achten. Inklusion ist ein sehr wichtiges Kriterium für den Erfolg bei der Erreichung der Bildungsziele. Jeder Teilnehmer muss sich durch einen Prozess der Eigenverantwortung für den Prozess des Musikmachens befähigt fühlen. Das ist nicht einfach, und man muss den Prozess sehr sorgfältig managen.“

 

Der Professor legt großen Wert darauf, seinen Studenten die Fähigkeit der Musikdidaktik weiter zu geben. Untersuchungen der britischen Musikpädagogin Susan Hallam zeigen die positiven Effekte von musikalischen Aktivitäten. Für Schüler dabei besonders wichtig: musikalische Betätigung steigert nicht nur das Wohlbefinden, sondern stimuliert auch kognitive Fähigkeiten wie etwa die Aufmerksamkeit, Konzentration, das Gedächtnis sowie die Lernfähigkeit. Laut Van der Sandt vermittelt Musik in der Gruppe außerdem ein Gefühl von Zweck und Motivation. Aus diesem Grund sei es für Lehrerinnen und Lehrer eine nicht zu unterschätzende Verantwortung, durch Musik zur persönlichen Entwicklung und zum Wachstum von Kindern beizutragen. „Man darf nie vergessen, dass das menschliche Gehirn sehr mächtig ist, und dort hat die Musikalität ihren Ursprung. Oliver Sacks, ein tonangebender Autor für Musik und das Gehirn, stellt fest, dass Musik einzigartig unter den Künsten ist. Es ist sowohl völlig abstrakt als auch zutiefst emotional. Es hat keine Macht, etwas Besonderes oder Äußeres darzustellen, aber es hat eine einzigartige Macht, Zustände oder Gefühle auszudrücken.  Musik kann das Herz direkt durchdringen, sie braucht keine Vermittlung.  Und das alles dank des unglaublichsten Musikinstruments überhaupt: dem menschlichen Gehirn. Wir als Pädagogen haben die Aufgabe, Kindern die Möglichkeit zu bieten, die Möglichkeiten im Gehirn freizuschalten und zu öffnen.”

 

Das bedeutete nicht, so Van der Sandt, Pavarottis aus jedem Lehramtsstudierenden zu machen. Eine grundlegende musikalische Fähigkeit zu besitzen, lege der Professor allerdings jedem Lehrer ans Herz. Dadurch erhielte man eine Wertschätzung und ein Verständnis der Ästhetik und Bedeutung von Musik. Die beste Methode, künftigen Lehrerinnen und Lehrern diese Ansichten näher zu bringen und Musikalischen Fähigkeiten zu kultivieren, begrenzt sich nicht im theoretischen Bereich, betont Professor van der Sandt: Teil der Entwicklung einer Wertschätzung für Musik ist eine positive Erfahrung und nicht nur theoretisches Wissen. Da wir eine Universität sind, und viel Wert auf theoretischen Wissens gelegt wird, ist es von entscheidender Bedeutung, den Studenten genauso praktische Möglichkeiten zu bieten, um ein fähigkeitsbasiertes Verständnis und die Erfahrung von Musik zu verbessern. Die UniBzVoices bieten den Studierenden genau das.“

 

Der Chor „UniBz- Voices“ besteht aus drei Gruppen. In Bozen trifft er sich am Mittwoch Abends, in Brixen Dienstags Abends und alternativ für Brixen auch am Freitag Morgens. Der Chor steht für alle Studenten offen, egal ob professionell oder Anfänger, und bietet nicht nur eine soziale Plattform für die Uni, sondern hilft angehendem Lehrpersonal die positive Kraft der Musik zu erleben und in Zukunft den Schülern weiterzugeben. Wer weiß, vielleicht entsteht in Südtirol irgendwann eine Art „El Sistema“ der Integration durch Musik.