Kultur | Gastbeitrag

Wer sind „die“?

Über Menschen auf der Flucht, Überlebende, Ausharrende, Hoffende. Und zurück Gebliebene. Fragmente von Anna Rottensteiner.

I „Die Personen … wollen so schnell als möglich Richtung Norden weiterreisen.“ – Anmerkungen zu einem Satz

Personen also. Personen? Sie haben einen Status. Nämlich keinen. Keinen Ausweis - wissen wir, was das heißt in einer Welt, in der schon ein falscher Beistrich zwischen zwei Vornamen unsere offizielle Identität ins Wanken bringt? Kein Ausweis, keine Rechte. Und schon gar nicht das Recht, „in den Norden weiterzureisen.“
Benennen wir sie also: Es sind die Rechtlosen.

Ja, sie wollen. Sie wollen es so, dass man in ihren Augen sieht, dass sie nicht da sind, wo sie gerade sind, gestrandet, gelandet. Weit weg sind sie in Gedanken, dort, wo sie hinwollen vielleicht, wo Verwandte sind, dort, wo sie sich ein besseres Leben erwarten. In den Augen der Kinder sah ich die Gegenwart. In denen der Erwachsenen ihre Vergangenheit und ihren Blick in die Zukunft.
Sie wollen, nur, ein anderes Modalverb schiebt sich ihrem Wollen entgegen: das Dürfen. Denn sie dürfen nicht. Können werden sie schon, früher oder später. Die Bahngleise entlang, auf dem Pannenstreifen der Autobahn, über die Berge, wenn's sein muss. Niemand wird sie aufhalten – können.

Benennen wir dieses „weiter“, benennen wir, dass sie eine unvorstellbar lange Reise hinter sich haben, benennen wir, woher sie kamen, was sie auf sich genommen haben, wieviel sie bezahlt haben, wer sie ausgenommen, wer sie schikaniert, wer sie letztendlich – endlich! – auf eine verlebte Barkasse gezwängt hat, zum Untergehen verdammt. Und wer sie, aus dem Wasser gerettet hat, letztendlich.
Benennen wir sie also: Es sind die Überlebenden.

Sie haben - ich, Mitteleuropäerin, die das Warten verlernt hat, kann es mir nur vorstellen - das Warten gelernt. Das tagelange, wochenlange, darauf, dass sie genügend Geld zusammenbekommen, darauf, dass, wenn sie unterwegs sind, die Verwandten weiteres Geld überweisen an jene, die sie weiterbringen, darauf, dass das Schlagen und Vergewaltigen endlich aufhört und vielleicht nicht sie trifft, dass das Wetter günstig ist für die Überfahrt, … ihre Ausdauer, ihr Ausharren, ihr Durchhalten, ihr Durchstehen, doch dann, so knapp vor dem Ziel: niemand hat ihnen gesagt, dass es Grenzen gibt in Europa. Für sie. Also Warten. Sie stehen auch das durch. Und auch wir können nicht so tun, als gäbe es sie nicht, diese Grenzen für sie, solange es sie gibt. Die Zeichen der Zeit verfestigen sich.
Benennen wir sie also: Es sind die Ausharrenden.

So tun, als wären sie auf Durchreise, einfach so, als wäre unser Bahnhof eine mittelalterliche Poststation, an der man sich kurz labt und die Pferde tränkt, bevor es weiter geht auf der Reise. Die Pferde machen sich ohne sie weiter auf die Reise. So tun, als hätte ihr Zug grad mal Verspätung. Käme er auch um zehn Stunden zu spät, sie würden auf ihn warten und er nähme sie dennoch nicht mit. Den Anschluss verpasst, Ausschluss, Aus und Schluss. Endstation Bozen – vorerst einmal.

Die Unterhose wechseln, eine Binde bekommen, das Baby wickeln, endlich, Crackers und Thunfisch, Schuhe, Socken. Eine Decke für die Nacht in der zugigen Unterführung. Ein Zuspruch vielleicht, ein kurzes Lächeln, unerwartet von beiden Seiten. Oder auch ein Blick, der sagt, ich schäme mich, dass ich abhängig bin davon, dass du mir eine Flasche Wasser gibst. Schon wieder abhängig von dir, einer Weißen. Deshalb ging ich doch weg von meinem Land. Mamaland.
 
Alles möglich. Es ist ihnen eben nicht möglich. Nur: auch das sagt ihnen lange niemand. Nicht der, der ihnen das Ticket verkauft, ein internationales, denn es sind ja Rechtlose, keine Rechte, kein Recht auf Auskunft oder Information. Geld ist Geld, Trenitalia und ÖBB verdienen gut an ihnen, doch das Recht, die Hallen für Wartende zu benutzen, haben sie nicht. Ihrem Warten tut das keinen Abbruch.

Norden. Ja, so ist es. Dorthin wollen sie, wollen die „Personen.“ Nur sagen ihnen erst jene, die sie aus den Zügen holen, in unserer Stadt, dass sie nicht einfach so nach Norden können. Wo vertraute Menschen warten. Wo die Sonne oft wochenlang nicht scheint. Wo die Häfen und Tunnels gesperrt. Wo einer am defekten Ofen in einem zugigen Zimmer stirbt. Wo sich kein Polizist in den Dschungel traut. Wo man jubelt, wenn einer von ihnen geschlagen. Und doch wollen sie nach Norden. Ein jeder von ihnen, eine jede, unverbrüchlich der Glaube: er sie wird es schaffen.
Benennen wir sie also: Es sind die Hoffenden.

Auch wir sind Norden, sind ihr Norden. Für ein paar Stunden, ein paar Tage, eine Nacht. Für länger vielleicht, für ganz lange. Verheißung und Unglück in einem.


II Allen Unorten der Gegenwart zum Trotz (die Gedanken von Roberta Dapunt weiterspinnend)

Ja, Liebe, fragen wir. Fragen wir jene, die überlebt haben. Jene, die über das Meer kamen, ihre Familien, die auf sie zählen, auf sie bauen, zurückgelassen haben. Fragen wir sie, wie es ihnen geht, wenn sie hören, was in ihren Heimaten, von denen sie aufgebrochen sind, geschieht. Ihre Sorgen ernstnehmen. Ihre Ängste und Befürchtungen, wenn sie um das Leben der Zurückgebliebenen zittern. Um ihre alternde Mutter. Ob sie sie wiedersehen werden. Die Stimmen am Telefon nahe und verzerrt. Täglich wiederholte Bestätigung im Nachhall der Lautsprecher, dass sie noch leben. Beiderseits.  Fragen wir sie. Die Kontinente weit weg sind von dem, was geschieht, und doch so ganz mittendrin. Wie es ihnen geht, wenn sie uns erzählen, die Mutter läge im Sterben. Gefangene ihres rechtlosen Status. Nicht zurück und nicht vorwärts. Wenn sie uns sagen, sie gingen zurück, jetzt sofort, drei Jahre lang hätten sie sie nicht mehr gesehen. Sie, die ihr Kind voller Hoffnung ziehen ließ. Sagen wir ihnen dann ins Gesicht: bleib, es sieht nicht schlecht aus für dich. Deine Papiere kommen bald, vielleicht, und dann, bald, hoffentlich, siehst du sie wieder … und hoffen, dass sie unsere Unsicherheit nicht hören, wenn wir das sagen.

Fragen wir auch die Zurückgebliebenen, die Mütter und Väter jener, die nicht überlebt haben. Die nicht wissen, wo ihre Söhne, denn meist sind es Söhne, geblieben sind und gestorben, Vermisste für immer, auf dem Grund des Meeres, im Sand der Wüste, in den Gefängnissen Libyens. Fragen wir sie auch, warum sie sie ziehen ließen, mit blutendem Herzen. Wie fest muss ihr Glaube an die Söhne gewesen sein. Du schaffst es mein Sohn. Ihr Vertrauen in die Welt. Dass diese sie aufnehmen würde. Sie lieben, wie sie es tun.

Und dann wird es so sein. Dass wir es tun. Ihnen, den Müttern und Vätern, die wir ja auch sind, zuliebe. Ihre Kinder, die überlebt haben, nehmen wir auf. Dass wir Mutter und Vater nicht nur im biologischen Sinn sein werden. Es wäre nicht leicht. Es kostete Mühe und Kraft, würde uns an den Rand der Verzweiflung bringen und darüber hinaus. Wenn wir für sie kämpften wie für eines von unseren leiblichen Kindern. Erst dann sähen wir, was alles für uns selbstverständlich. Wenn wir sie erzählen ließen, jeden einzelnen, jede einzelne. Ihren Schmerz teilten, ihre Wunden versorgten. Wenn wir sie hineinholten in unsere Familie. Freundschaftsfamilie. Zuneigungsgemeinschaft. Zelle der Gesellschaft. Kein Fremdkörper mehr. Hinaus in die Welt, weit hinaus lehnen könnten wir uns. Endlich.


Anna Rottensteiner wurde 1962 in Bozen geboren, studierte in Innsbruck Germanistik und Slawistik und nahm anschließend ihre Tätigkeit als Buchhändlerin und Lektorin auf. Seit 2003 leitet sie das Literaturhaus am Inn. Ihr 2013 erschienenes Werk „Lebende Steine“ wurde vor Kurzem vom Verlagshaus Keller in Rovereto ins Italienische („Sassi Vivi“) übersetzt.