Gesellschaft | Journalismus

Der Konzertpianist

Die Rede des News-Journalisten und Prof. Claus Gatterer Preisträgers 2016, Yilmaz Gülüm, bei der Preisverleihung in Bruneck. Ein Plädoyer zum genaueren Hinschauen.

Es gibt viele Menschen, bei denen ich mich heute bedanken möchte. Aber zu allererst, möchte ich mich bei meiner Familie bedanken. Denn wissen Sie, dass ich heute ausgezeichnet werde für sozial engagierten Journalismus, insbesondere auch für Artikel über Flüchtlinge, das ist schon etwas Besonderes. Denn ich bin selbst auch ein Flüchtlingskind.

„Dass ich heute ausgezeichnet werde für sozial engagierten Journalismus, insbesondere auch für Artikel über Flüchtlinge, das ist schon etwas Besonderes. Denn ich bin selbst auch ein Flüchtlingskind.“

Meine Eltern kamen nach ihrem Studium aber vor meiner Geburt als politische Flüchtlinge nach Österreich. Mein Bruder war damals noch ein Baby, wenige Monate alt. Schon in den ersten Tagen nach der Ankunft bekam er eine Lungenentzündung. Das muss man sich so vorstellen: Meine Eltern hatten praktisch kein Geld, kannten das Land nicht, die Sprache nicht, wussten nicht, wo das nächste Krankenhaus ist und selbst wenn: Woher hätten Sie wissen sollen, wie hier irgendetwas funktioniert? Sie hatten lediglich ein Baby im Arm, mit Fieber, das nicht aufgehört hat zu weinen. So war ihre Ankunft.
Ein Jahr später bin dann ich auf die Welt gekommen. Und fast 27 Jahre später sind meine Eltern heute hier. Und ich auch. Und dafür sage ich danke.
Als Journalist mit so einem komischen Namen wie meinem leidet man manchmal ein wenig darunter, dass man automatisch in das Integrations/Migrationseck gestellt wird und dadurch in den Hintergrund gerät, dass man auch andere Kompetenzen hat.
Aber natürlich hat mich unsere Familiengeschichte geprägt, auch beruflich. Wir reden heute bei Themen wie Armut oder Flucht sehr oft über Zahlen. Zahlen sind wichtig, keine Frage, aber hinter diesen Zahlen stehen Menschen und stehen Schicksale, und ich denke, das sollten wir uns immer vor Augen führen.

„Zahlen sind wichtig, keine Frage, aber hinter diesen Zahlen stehen Menschen und stehen Schicksale, und ich denke, das sollten wir uns immer vor Augen führen.“

Fast 90.000 Aslywerber hat Österreich vergangenes Jahr aufgenommen, und die Wahrheit ist: Über die meisten von ihnen werden wir nie ein Wort erfahren. Wir erfahren in Medien zwar sehr oft etwas über Flüchtlinge, aber wir erfahren meistens nur Extremfälle. Das hat jetzt gar nicht so sehr etwas mit Flüchtlingen speziell zu tun, sondern viel mehr mit Medienlogik.
Denken Sie zum Beispiel an Berichte über Flugzeuge. Wenn wir alles, was wir über Flugzeuge wissen, ausschließlich aus den Medien wüssten, dann müssten wir davon ausgehen, dass praktisch jedes Flugzeug abstürzt, verschwindet oder abgeschossen wird. Weil Flugzeuge, die pünktlich abheben und sicher landen, über die berichtet man halt nicht.

„Wenn wir alles, was wir über Flugzeuge wissen, ausschließlich aus den Medien wüssten, dann müssten wir davon ausgehen, dass praktisch jedes Flugzeug abstürzt.“

Aber niemand von uns glaubt wirklich, dass fast jedes Flugzeug abstürzt, verschwindet oder abgeschossen wird. Und der Grund dafür ist, dass wir eigene, persönliche Erfahrungen mit Flugzeugen haben und daher wissen, dass wir in den Medien nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit zu sehen bekommen.
Wie ist das aber, wenn wir keine eigenen, persönlichen Erfahrungen haben, wenn zum Beispiel Boulevardmedien unsere einzigen Quellen sind und wir in diesen Medien nur Extremfälle sehen? Chimamanda Adichie, eine Schriftstellerin aus Nigeria nennt das eine Single Story: Wir hören über Afrika ausschließlich im Kontext von Armut, wir hören über Flüchtlinge ausschließlich im Kontext von Kriminalität und Gefahr, und wir hören über die Mindestsicherung und Sozialhilfeempfängern im Kontext von Sozialschmaraotzern. Und Chimamanda Adichie sagt, das Problem an diesen Single Stories ist nicht, dass sie per se falsch sind. Das Problem ist, dass sie zur einzigen Story werden. Das verzerrt die Sicht auf die Wirklichkeit und ist gerade im Hinblick auf Minderheiten ein großes Problem.
Es überrascht daher nicht, wenn die Abneigung gegen Flüchtlinge dort am größten ist, wo die wenigsten Flüchtlinge leben. Dort also, wo die Menschen die wenigsten direkten Erfahrungen machen und von Flüchtlingen nur die Extremfälle aus den Medien kennen. Oder noch schlimmer: Gerüchte aus den sozialen Netzwerken.

Sozial verantwortungsvoller Journalismus kann vieles sein. Ich denke aber, gerade bei Minderheiten kann es manchmal schon reichen, weniger über Extremfälle und mehr über das ganze normale Leben zu berichten. Ich bin froh und dankbar bei einem Medium zu arbeiten, dass solche Berichte nicht nur akzeptiert, sondern immer wieder einfordert.

„Es überrascht daher nicht, wenn die Abneigung gegen Flüchtlinge dort am größten ist, wo die wenigsten Flüchtlinge leben.“

Nach meiner Erfahrung gibt es unter Flüchtlingen alles, was es auch im Rest der Gesellschaft gibt. Es gibt die Anständigen, und es gibt die Unanständigen. Es gibt die, die schnell ihren Platz finden, und es gibt die, die sich schwer tun. Es gibt die, die in kürzester Zeit Deutsch lernen, weil sie Sprachbegabt sind. Und es gibt die, die auch nach 20 Jahren noch Schwierigkeiten mit der Sprache haben werden, weil sie sich mit Fremdsprachen eben schwer tun.

Es wird Probleme geben, keine Frage. Viele sogar. Manche zeichnen sich schon ab, andere werden uns überraschen. Wir werden viel damit zutun haben, diese Probleme so früh es geht in den Griff zu bekommen oder präventiv tätig zu sein. All das wird es geben. Aber es wird auch die Flüchtlinge geben, die uns beeindrucken, uns inspirieren. Es wird auch diejenigen geben, von denen wir viel mehr lernen können, als sie von uns. Die meisten werden allerdings einfach nur versuchen, hier ein normales, anständiges und gutes Leben zu führen.

„Es wird Probleme geben, keine Frage. Viele sogar. Aber es wird auch die Flüchtlinge geben, die uns beeindrucken, uns inspirieren. Es wird auch diejenigen geben, von denen wir viel mehr lernen können, als sie von uns.“

Als ich letzten Sommer in Traiskirchen war, habe ich einen afghanischen Jugendlichen gefragt, was er einmal werden möchte. Er hat geantwortet: Konzertpianist, wie sein Vater. In seiner Heimat würden Islamisten Musik verbieten und Musiker verfolgen, daher sei er nach Österreich geflohen. Da habe ich mir gedacht: Was wenn? Was wenn in 10 oder 20 Jahren Österreichs erfolgreichster Konzertpianist ein Flüchtling aus Afghanistan ist? Oder was wenn in zehn Jahren der Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft ein Flüchtling ist? Aber gut. Vielleicht ist das übertrieben, es muss ja nicht gleich die oberste Stufe sein. Aber vielleicht steht ja in ein paar Jahren wieder einmal ein Flüchtling hier, das wäre doch auch schon was. Vielen Dank.

 

Zur Person

Yilmaz Gülüm wurde 1989 in Wien geboren. Nach der Matura, die er mit Auszeichnung abschloss, studierte er an der Universität Wien Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft. Alle drei Studien schloss er mit Auszeichnung ab. Gülüm ist seit 2009 journalistisch tätig, unter anderem für die Wiener Zeitung, Falter, APA, Puls4 und im Politikressort von NEWS. Er ist Lektor an der Universität Wien. „Wir haben uns für Yilmaz Gülüm als unseren heurigen Gatterer-Preisträger entschieden, weil er trotz seiner Jugend eine besonders einfühlsame Sprache bei der Behandlung sensibler journalistischer Themen entwickelt hat“, begründet Juryvorsitzender und ÖJC-Präsident Fred Turnheim die Entscheidung der Jury. Ausgezeichnet wurden die drei Reportagen „Endstation Traiskirchen“, „Leben am Minimum“ und „Zurück im Unglück“, die zwischen Juni bis Oktober 2015 in NEWS erschienen sind.  

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Profil für Benutzer Sepp.Bacher
Sepp.Bacher So., 03.07.2016 - 10:29

Danke für diesen schönen und ausgewogenen Beitrag zur Flüchtlings- und Migrationsfrage und die Verantwortung, die Medien in dieser Angelegenheit haben.
Schön, dass es solche Menschen wie Yilmaz Gülüm gibt, dass es ihn als Journalisten gibt und dass es Medien und Einrichtungen gibt, die einen solchen ausgewogenen, die Realität zeigenden Journalismus fördern und auszeichnen.
Die Realität in der Medienwelt, auch der Südtirolerischen, ist meistens eine andere: es wir zuviel einseitig und oberflächlich berichtet und kommentiert. Leider auch auf diesem Medium!

So., 03.07.2016 - 10:29 Permalink