Politik | Interview

"Wir werden die Nächsten sein"

Der ehemalige ukrainische Wirtschaftsminister Pavlo Sheremata spricht im Interview mit Salto.bz über die momentane Situation in Lwiw und die Dynamiken des Krieges.
Pavlo Sheremeta
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Pavlo Mykhaylovych Sheremeta diente 2014 unter Yatsenyuk für einige Monate als ukrainischer Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel, bevor er aus eigenen Stücken seinen Rücktritt einreichte. Heute ist er unter anderem als Berater für die lokalen Regierungen in Lwiw und Tschernowitz tätig. Auf Hinweis eines in Südtirol lebenden ukrainischen Studenten, konnte Salto.bz am Montagabend Kontakt mit Sherementa aufnehmen.

 

Salto.bz: Herr Sheremata, wie geht es Ihnen?

Pavlo Sheremata: Mir geht es gut, danke.

Wo befinden Sie sich im Moment?

Ich bin in Lwiw (Lemberg), das im Westen der Ukraine liegt.

Wie ist die Situation dort?

Was die Bombardierungen angeht, relativ ruhig. Vor ein paar Tagen hatten wir zwei- oder dreimal Bombenalarm, aber heute und gestern Abend war es ruhig. Im Moment scheint Lwiw nicht Putins Priorität zu sein. Das wundert mich. Lwiw ist eine der Hochburgen des ukrainischen Patriotismus; das, was die russische Führung als Nazi-Faschismus bezeichnet. Ich denke, dass Lviv bald angegriffen werden wird. Also wenn sie mit der Hauptstadt fertig sind - Gott bewahre - dann vermute ich, dass wir die Nächsten sein werden.

 

Im Moment scheint Lwiw nicht Putins Priorität zu sein. Das wundert mich.

 

Wie verhalten sich die Menschen vor Ort? Versuchen sie die Stadt zu verlassen, sich zu verstecken?

Sobald die Sirenen ertönen, verstecken sich die Leute. Ich habe mich im Keller des Hauses meiner Mutter und meiner Schwiegermutter versteckt. Ich bin von Kiew nach Lwiw gezogen, weil ich bei unseren Müttern sein wollte. Sonst hätte ich natürlich die Hauptstadt verteidigt. Die Situation ist nervös. Es gibt Kontrollpunkte an den Eingängen der Stadt, die Staus verursachen. Es gibt auch eine Ausgangssperre von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens. Vor einigen Tagen bin ich gegen 21:30 Uhr auf die Straße gegangen. Ein Polizist hat sich mir genähert und mich nach meinem Ausweis gefragt und danach, wo ich wohne. Er legte mir nahe, dass es verboten war, sich nachts draußen zu bewegen, dass ich um Punkt 22 Uhr zu Hause sein musste. Die Stadt hat auch den Verkauf von Alkohol eingeschränkt. Das ist nicht so wichtig, aber es hilft Ihnen, die Situation zu verstehen. Die Menschen sind wütend auf Russland, weil dieser Krieg das gesamte Leben auf den Kopf stellt. Wir haben diesen Einmarsch absolut nicht verdient. Nach internationalem Recht haben wir nichts getan, um diese Aggression zu provozieren. Was Russland provoziert, ist im Grunde nur unser Wunsch, unabhängig zu bleiben. Sie glauben, dass es nazistisch ist, unsere Sprache zu sprechen, unsere Fahne zu hissen oder selbst über unser Land entscheiden zu wollen. Es gibt diesen 5000-Wort-Essay von Putin, in dem er sagt, dass wir ein Volk sind. Aber das sind wir nicht. Und wenn ich das sage, dann sagen sie, dass ich ein Nazi bin. Was zum Teufel ist das für eine Einstellung? Die Menschen sind wütend. Und ich bin es auch.

Wie erklären Sie sich diese Eskalation in den letzten paar Tagen?

Putin ist wahnsinnig. Er hat die militärische Präsenz im Grunde das ganze Jahr über ausgebaut. Es gab eine Verlangsamung während dem Gipfeltreffen mit Biden im Juni, aber dann wurde die Präsenz weiter aufgebaut. Wie soll ich das erklären? Ich glaube, er ist einfach verrückt. Und übrigens muss ich Ihnen sagen, dass ich vor einer Woche meinen Freunden, internationalen Beobachtern und nationalen Analysten gesagt habe, dass er ziemlich rational zu sein scheint. Er baut Druck auf, erhöht die Einsätze, Sie wissen schon, ein strategisches Spiel. Man sagte mir: Pavlo, du irrst dich. Er ist wahnsinnig. Er kann eure Unabhängigkeit nicht akzeptieren, er kann die Tatsache nicht akzeptieren, dass ihr glaubt, ihr seid ein eigenes Volk, er wird bei euch einmarschieren! und ich sage, schau, es ist unwahrscheinlich, er ist noch bei Sinnen. Und dann, vor fünf Tagen, musste ich mich entschuldigen. Putin ist wahnsinnig. Sehen Sie sich die heutigen Finanznachrichten an! Er hat den Aktienmarkt zerstört. Er hat den Rubel zum Absturz gebracht. Er hat einige der wichtigsten russischen Unternehmen in den Konkurs getrieben oder in den potenziellen Konkurs. Aeroflot hat nur noch drei Wochen zu leben! Sie haben die Hälfte ihrer Flotte geleast und können nun nicht mehr fliegen, weil 32 Länder angekündigt haben, ihren Luftraum für russische Unternehmen zu sperren. Und wenn sie nicht fliegen können, können sie auch nicht zahlen. Er ist ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger! Das Problem für Europa ist, dass sie sich mit seinen nuklearen Drohungen auseinandersetzen müssen. Ich meine, Putin bedroht die ganze Welt. Er sagt, dass er das Atomwaffenarsenal in höchste Alarmbereitschaft versetzen wird! Wie sollen wir damit fertig werden? Wir haben es bereits mit seiner Invasion zu tun, aber jetzt müssen sich einige Experten, Psychiater! eine Strategie überlegen. Er ist einfach ein Wahnsinniger.

 

Er hat den Aktienmarkt zerstört. Er hat den Rubel zum Absturz gebracht. Er hat einige der wichtigsten russischen Unternehmen in den Konkurs getrieben. Putin ist wahnsinnig.

 

Die Finanzmärkte stürzen ab. Aber glauben Sie, dass die Sanktionen, die der Westen gegen Russland verhängt, auch funktionieren?

Natürlich funktionieren sie! Schauen Sie, was hier passiert. Und übrigens, ich danke Ihnen! Wir sind den Ländern, die Sanktionen gegen Russland verhängen, absolut dankbar - Italien und Österreich eingeschlossen. Insbesondere für jene Sanktion, die Russland von SWIFT abschneiden und isolieren. Denn das ist der Grund, warum Aeroflot in Konkurs geht und einige der Banken ihre Schulden nicht bezahlen können. Was noch wichtiger ist, ist, dass sie keine Kredite aufnehmen können, sie können keine richtigen Überweisungen tätigen. Der Mann hat das Land durch seine Invasion im Grunde isoliert. Er hat das Land mit eurer Hilfe von der Welt isoliert. Und das wissen wir sehr zu schätzen. Vielen Dank, thank you. Grazie.

Glauben Sie, dass Putin dadurch aufgehalten werden kann?

Es erhöht den Druck. Die letzten zwei Tage waren ruhiger als die ersten zwei. Putin ist verwirrt. Er hat einen strategischen Fehler gemacht. Er hat die Ukrainer unterschätzt. Er dachte, dass wir nur Nazis sind, die nicht denken können. Aber wir können denken und wir können kämpfen. Und das hat er absolut unterschätzt. Er hat gedacht, dass alles so laufen wird wie bei seinem Krim-Abenteuer 2014. Übrigens wird in der Ukraine gerade viel geredet: Warum erobern wir nicht unser Land im Donbass und auf der Krim zurück? Das beunruhigt ihn sehr.

Wie stehen Sie zu diesen Vorschlägen?

Nun, um ehrlich zu sein, sind wir davon noch recht weit entfernt. Was wir in den nächsten Tagen tun müssen, ist die Hauptstadt verteidigen. Wir müssen die russische Armee ermüden, die in diesem Land nicht unterstützt wird. Putin denkt, dass wir ein Volk sind, dass nur ein paar Nazis entfernt werden müssen und dann plötzlich alle die Russen willkommen heißen. Aber das ist absolut falsch. Ich weiß nicht, ob Sie von den tapferen Seeleuten und Grenzsoldaten auf Snake Island gehört haben?

Nein, erzählen Sie.

Die tapferen Soldaten haben ein russisches Schiff verflucht. Das Lustige daran ist, dass sie auf Russisch geflucht haben. Und das nicht, weil sie verstanden werden wollten. Nein, Russisch ist vielleicht wirklich ihre Muttersprache! Das ist eines der Dinge, die mich immer erstaunt haben, dass die Ukrainer, die Russisch sprechen, so patriotisch sind. Putin versteht nicht, dass es hier keine Unterstützung für ihn gibt.

 

Putin hat gedacht, dass alles so laufen wird wie bei seinem Krim-Abenteuer 2014.

 

Was ist die Strategie der ukrainischen Regierung im Moment? Gibt es sie überhaupt?

Natürlich gibt es eine Strategie. Zuallererst mussten wir internationale Unterstützung aufbauen, was wir zusammen mit unseren Partnern und dank eurer Hilfe getan haben. Außerdem hat unser Präsident heute den Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union unterzeichnet. Die euro-atlantische Integration ist unsere Strategie. Sie war bereits unsere Strategie, nur ist sie jetzt um ein Vielfaches verstärkt. Übrigens geht es nicht um eine NATO-Mitgliedschaft; was Zelenskyy heute unterzeichnet hat, ist der Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Natürlich wird es Zeit brauchen, also keine Angst (lacht). Aber wir haben es verdient. Wir haben unser Blut dafür vergossen. Als Bulgarien der EU beitrat, war es das Land kaum besser dran als die Ukraine heute. Wir wollen der Familie der zivilisierten Nationen beitreten, die einen Unterschied zwischen Patriotismus und Nazismus machen können. Die einen Unterschied machen zwischen Diktatur und Demokratie und die einen Unterschied machen zwischen Menschenrechten und der Unterdrückung davon.

Was können die Menschen im Westen tun, um die Ukraine in diesem Moment zu unterstützen?

Zunächst einmal sind wir von all der Unterstützung, die wir bereits sehen, absolut überwältigt. Es ist unglaublich. Wir haben für echte Finanzsanktionen gekämpft, und wir haben sie bekommen. Wir haben für Verteidigungswaffen gekämpft und sie vor der Aggression erhalten. Wir danken vor allem den USA und dem Vereinigten Königreich dafür und jetzt auch einigen anderen Nationen. Wir verstehen, dass die NATO-Truppen nicht mit den Ukrainern kämpfen werden. Das ist unser Land. Wir brauchen also keine anderen Länder, die ihr Leben für die Verteidigung unseres eigenen Landes einsetzen. Wir machen das schon, und wir machen es sehr gut. Aber alles, was wir im Moment sehen, ist großartig. Natürlich wären wir angesichts dieser neuen Entwicklung in Bezug auf den EU-Antrag dankbar, wenn unser Antrag zumindest in Erwägung gezogen und das Verfahren beschleunigt werden könnte. Uns ist klar, dass es viel Arbeit ist, die Rechtsvorschriften zu harmonisieren und andere Anforderungen zu erfüllen. Aber vorher gab es viel Skepsis in der EU und auch in der Ukraine, ob wir beitreten sollten, ob wir beitreten können, ob wir in der EU erwünscht sind. Jetzt ist die Situation eine andere. Und wir wären dankbar, wenn der Antrag zumindest zeitnah geprüft werden könnte.

Was ist Ihre Motivation, mit Salto.bz über die Situation in der Ukraine zu sprechen?

Nun, es war ein guter Freund von mir, der mich mit Ihnen bekannt gemacht hat und Sie mit mir. Er ist ein junger, leidenschaftlicher Ukrainer, den ich gerne unterstütze. Aber das ist nicht alles: Südtirol stellt ein sehr interessantes Entwicklungsmodell dar. Euer Entwicklungsmodell unterscheidet sich ein wenig von dem, was man in der Europäischen Union sieht, und wir haben immer darauf geachtet. Die Förderung der Autonomie, des Unternehmertums und die Bewahrung nationaler Traditionen sind Dinge, die auch uns sehr am Herzen liegen, besonders hier in Galizien, das übrigens auch einmal Teil des österreichisch-ungarischen Reiches war. Diese Länder, in denen ich mich gerade befinde, waren Teil eines gemeinsamen Raumes. Es war nur zufällig Österreich, aber danach wurde es polnisch und die Bukowina war Teil Rumäniens. Es waren also verschiedene Länder, aber wir haben gemeinsam abgestimmt, gemeinsam gedacht und gemeinsam Nation und Wirtschaft entwickelt. Das ist die Antwort auf Ihre Frage, warum Südtirol für mich interessant ist.

 

Die Förderung der Autonomie, des Unternehmertums und die Bewahrung nationaler Traditionen sind Dinge, die auch uns sehr am Herzen liegen.

 

Eine letzte Frage, die auf meine erste Frage zurückgeht: Wie sieht die Situation in Lwiw tagsüber aus? Gehen die Leute noch auf die Straße? Zum Einkaufen?

Es liegt eine Menge Angst und Nervosität in der Luft. Wir wissen, dass wir die Nächsten sein werden. Wenn es Russland gelingt, die Hauptstadt einzunehmen, Gott bewahre, wird ihr Verhalten gegenüber Lwiw noch viel brutaler sein. Wenn sie - wie sie es nennen - das Land entnazifizieren wollen, dann geht es um Lwiw. Deshalb ist die Nervosität groß. Das Einkaufen ist sehr zurückhaltend. Ich bin erst vor einer Stunde in den Supermarkt gegangen, um etwas zu kaufen. Und es sind nicht so viele Leute da. Die Leute schauen sich um. Sie lächeln nicht, sind aber sehr höflich. Sie schreien nicht, flüstern fast. Vielleicht liegt wegen der Sirenen eine gewisse Unruhe in der Luft. Die Menschen versuchen, nicht zu viel Lärm und Licht zu verursachen. Es ist also eine beängstigende Zeit, aber gleichzeitig, und damit möchte ich schließen, sind wir, was auch immer in den nächsten Tagen geschieht, absolut stolz auf unsere Armee. Und wir sehen, wie unsere Armee - und vor allem die Bürger von Kiew - die Welt beeindrucken konnten. Vor fünf Tagen habe ich amerikanische Zeitungen gelesen, die sich auf die Prognosen der CIA und des Pentagons beriefen. Sie sagten, wir hätten 14 bis 16 Stunden Zeit, um Kiew zu schützen. Und dass die Russen in drei bis fünf Tagen das ganze Land einnehmen könnten. Jetzt sind wir fünf Tage im Krieg, und der Erfolg der Russen hält sich noch immer in Grenzen. Und warum? Wegen der Tapferkeit, wegen des mutigen Kampfes, den nicht nur die ukrainische Armee, sondern das ganze ukrainische Volk geführt hat.

 

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Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Di., 01.03.2022 - 12:13

Wir Bürger (viele von uns, die meisten), die wir hier in Freiheit und Selbstbestimmung leben, sind in Gedanken bei euch, wir unterstützen euch, wir verurteilen den Angriffskrieg des Putin-Regimes gegen das ukrainische Volk.
Entsetzlich der Beschuss der Wohngebiete, der sinnlose Tod von Kindern, Frauen, Männern, Soldaten - nur weil ein fehlgeleiteter narzisstischer verhaltensgestörter kleiner Mann dies für sich so braucht.
Entsetzlich: Angriffskrieg auf ein Volk im Herzen Europas!
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Halten Sie durch, Ihr macht dies für eure Zukunft, auch für uns, für die Freiheit der Welt, die Selbstbestimmung, dafür danken wir euch.
Die Stärke des Rechts soll uns leiten, und nicht das Recht des Stärkeren.

https://www.salto.bz/de/article/25022022/wir-alle-sind-heute-ukraine#co…

Di., 01.03.2022 - 12:13 Permalink