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Trauriger 1. Mai

Wie die politisch engagierten Schriftsteller Oskar Maria Graf, B. Traven und Ernst Toller in München den Tag der Arbeit im Jahr 1919 erlebten. Eine literarischer Ausflug.
Tasse
Foto: Kai Blaschke/Literaturhaus München

Oskar Maria Graf ist auf dem Weg zur Maikundgebung in der Münchner Innenstadt. In der Nymphenburger Villa seines holländischen Freundes Anthony van Hoboken hat er in den Tag der Arbeit hineingefeiert. Immer noch brummt ihm der Schädel, von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf. Plötzlich kommt, vom Hauptbahnhof her, ein neues Geräusch hinzu, ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Bald erkennt Graf die Ursache. Vor der Hackerbrücke ist eine Lokomotive auf eine Mine gefahren, der Schienenweg ins Zentrum damit blockiert.
Es bleibt die einzige gute Nachricht an diesem Tag für Münchens Verteidiger. Seit 175 Tagen ist Bayerns Hauptstadt in der Hand von Revolutionären. Am 7. November 1918 wurde die Monarchie gestürzt. Zunächst regierte der unabhängige Sozialist Kurt Eisner Bayern als Ministerpräsident, bis zu seiner Ermordung durch einen Rechtsextremisten. Das wochenlange Chaos nach dem Attentat beendete eine Räteregierung, der auch die Schriftsteller Ernst Toller, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ret Marut (der später unter dem Pseudonym B. Traven reüssierte) angehörten. Das anarchistische Experiment musste einem Putsch von rechts weichen, der unmittelbar durch eine zweite Räteregierung, diesmal unter kommunistischer Führung, gekontert wurde.

 

Die Kommunisten stützen sich auf bewaffnete Betriebsgruppen und demobilisierte Soldaten, aus denen sie eine Rote Armee bilden. Waffen lagern zuhauf in der Kasernenstadt München. Im gesamten Weltkrieg sind sie nicht zum Einsatz gelangt. Jetzt aber bekommt die lange friedliche Bayernmetropole ihr verspätetes Fronterlebnis. Aus allen Richtungen marschieren Truppen der vorläufigen Reichswehr und paramilitärischer Freikorps auf München zu. Insgesamt sind es an die 60 000 Mann. Angefordert hat sie Eisners Nachfolger im Amt, der vom Landtag gewählte und dann vor den Anarchisten ins ruhige oberfränkische Bamberg geflohene Johannes Hoffmann, organisiert Reichswehrminister Noske und sanktioniert Reichspräsident Ebert. Alle drei sind von der SPD. Alle drei eint die Überzeugung, die Revolution in Bayern sei viel zu links, als dass man sie länger tolerieren könne. 
Zu ihren Feindbildern zählt Ret Marut. Der Anarchist, Verleger und Nochnichtweltbestsellerautor hat einen Sozialisierungsplan für die Presse entworfen: Die kapitalistische Struktur der Verlagshäuser will er aufbrechen und die Zeitungen und Zeitschriften wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe zuführen, der Aufklärung der Leser. Kein Verleger mehr, der den Gewinn abschöpft; kein Anzeigenteil, der wichtiger als das Redaktionelle ist; keine Ausrichtung des Blatts, die sich in der Steigerung der Auflage erschöpft; keine Verdrängung der Information durch Unterhaltung; keine Meinungsäußerung, die nicht ausdrücklich als solche kennzeichnet ist; kein Profitdenken, das die journalistische Ethik ersetzt. Als Leiter der Zensurbehörde in der zweiten Räterepublik darf Marut sich ein wenig austoben und die Presse in die von ihm gewünschte Richtung steuern. 

 

Am Tag der Arbeit will sich Marut sich wie schon Graf der Maikundgebung anschließen. Wegen der drohenden Kampfhandlungen fällt sie aus. Marut beschließt, sich in ein Café zu setzen. Auf dem Weg dorthin wird er verhaftet, auf einen Lastwagen geworfen und zur ehemaligen königlichen Residenz gefahren. Dort tagt ein Standgericht. Es macht kurzen Prozess und verurteilt alle Angeklagten zum Tode. Marut ergeht es nicht besser. Bevor er abgeführt wird, senken zwei Bewacher kurz die Gewehrläufe und blicken demonstrativ zur Seite. Zufällig steht eines der Fenster im Hochparterre offen. Der Todgeweihte springt hinaus, kein Schuss fällt, niemand läuft ihm hinterher. Marut taucht unter – erst in München, später im Rheinland – und erst fünf Jahre später in Mexiko wieder auf, wo er unter dem Pseudonym B. Traven als Autor politischer Abenteuerromane (Das Totenschiff, Der Schatz der Sierra Madre) Erfolg haben wird. 
Auch Ernst Toller befindet sich in brenzliger Lage. Als Abschnittskommandant der Roten Armee bei Dachau hatte er Tage zuvor noch deren einziges siegreiches Gefecht befehligt. In der Mainacht ist er mit einer prekären Fracht unterwegs. Aufgesammelt hat er sie im Luitpoldgymnasium, das zu einem Quartier der Roten Armee umfunktioniert wurde. Dort lagerten in einem Schuppen zehn Leichen. Alle waren erschossen worden. 
Tollers Nachforschungen ergeben, dass sechs aus der Gruppe der rechtsextremistischen, mit späteren Nationalsozialisten durchsetzten Thule-Gesellschaft angehörten. Auch die übrigen vier waren nicht ganz unschuldig, sie hatten Spitzeldienste für die Gegner der Räterepublik verrichtet. In der Stadt ist bereits von „Geiselmorden im Luitpoldgymnasium“ die Rede. Das stimmt freilich nicht, die Gefangenen waren keine Geiseln. Sie wurden nach geltendem Standrecht, ohne Gerichtsprozess, hingerichtet. 

 

Toller weiß, dass auch der legale Anstrich nichts an der skandalösen Tat ändert. Bislang hatte es während der gesamten Revolution weder Todesurteile noch Exekutionen gegeben. Toller will unbedingt verhindern, dass die anrückenden Truppen die Leichen in diesem Zustand finden. Überall wird er mit seiner schaurigen Fracht abgewiesen. Seine letzte Hoffnung ist die Klinik von Ferdinand Sauerbruch. Doch steht deren Chef im rechten Lager. Warum sollte ausgerechnet er den Kommunisten einen angemessenen Keller für ihre Leichen beschaffen? Oder vielleicht doch? Toller nimmt allen Mut zusammen; „ich gehe“, heißt es in seinem frühen Lebenszeugnis Eine Jugend in Deutschland, „zur chirurgischen Klinik, spreche mit dem Assistenten des Professor Sauerbruch und flehe ihn an, die Leichen sofort abholen zu lassen. Er hat es nicht getan.“
Toller gibt auf, für ihn bleibt nichts mehr zu tun. Ziellos streift er durch die noch leeren Straßen Münchens. Mit dem Morgen dämmert die Einsicht, auch mal an sich selber zu denken. Toller macht sich nach Schwabing auf. Dort hofft er irgendwo unterzutauchen. 

 

Oskar Maria Graf erlebt den Tag im fortgeschrittenen Kampfgeschehen. Die Angreifer versuchen inzwischen, den Hauptbahnhof im Häuserkampf zu erobern. Granatwerfer werden eingesetzt, Maschinengewehre rattern, überall rumst und zischt und pfeift es. An der Ecke der Dachauer zur Augustenstraße gerät Graf in einen Kugelhagel. Vom Stiglmaierplatz naht dröhnend ein Panzerauto, immerfort feuernd. Graf sucht wie andere Passanten im Apollotheater Schutz. Als das Panzerauto vorüber ist, rennen alle hinterher, schreibt er in seiner Autobiografie Wir sind Gefangene: „Es krachte, dampfte und das Gemäuer staubte rieselnd auseinander, Fenster klirrten und Splitter flogen. Hartnäckig erwiderten die Befestigten das Feuer, allmählich ließ es nach, immer weniger und weniger Schüsse kamen aus dem Haus. Aus der Marsstraße rückte eine Abteilung Regierungssoldaten mit schussbereit gehaltenem Gewehr vor, erbrach die Tür. Kein Schuss kam mehr aus dem Innern. ‚Die sind alle tot‘, sagte ein Mann unter uns.“ Auch Zivilisten hat es erwischt: „Eine alte Frau humpelte über die Straße. Vorne an der Ecke legte ein Regierungssoldat an. Es krachte, die Frau fiel und blieb nach einigen Zuckungen liegen.“ Graf reicht es längst, doch er muss noch mehr mit ansehen: „‘Nicht schießen! Nicht schießen!‘ brüllten wir alle. Ein Knäblein hatte sich unbemerkt aus uns gewunden, lief mit flatterndem rotem Taschentuch auf die Leiche zu. Es knallte schon wieder. Gellend schrie der Bub, machte einige Purzelbäume und lag still.“


Am Abend des 1. Mai haben die Regierungstruppen München weitgehend unter Kontrolle. Drei Tage lang wird noch gekämpft, dann herrscht Ruhe. Es ist eine Friedhofruhe, zu der auch die fast tausend Opfer passen, die der Sturm auf die bayerische Hauptstadt gekostet hat. 
In der Folge verkommt München zur „Hauptstadt der Bewegung“. Es ist keine rote mehr, sondern eine braune. In der Nacht zum 9. November 1923 startet Adolf Hitler, der während der kompletten Revolution und ihrer Niederschlagung in München gelebt hatte, ohne sich zu rühren, vom Bürgerbräukeller aus seinen gescheiterten Putschversuch. Dort gedenken die Nationalsozialisten, nachdem sie die Macht übernommen haben, jedes Jahr ihrer Toten, darunter auch den immer noch als solche titulierten Geiseln aus dem Luitpoldgymnasium. Beim 15. Jubiläum beschert ihnen die Bombe des Widerstandskämpfers Georg Elser acht neue Märtyrer. Hitler ist nicht darunter. Eine Viertelstunde vor der Detonation war er aufgebrochen, um in der nebligen Novembernacht München nicht wie geplant per Flugzeug, sondern mit dem Zug zu verlassen. 

* Titelbild: Jenny Holzers Sprachdenkmal für Oskar-Maria Graf (Foto: Kai Blaschke / Literaturhaus München Brasserie)