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„Die Erinnerung ist beinahe alles“

„W:Orte“, das internationale Lyrikfestival Innsbrucks expandiert und ist mit einem Termin heute Abend in der Brixner Stadtbibliothek zu Gast, u.a. mit Luljeta Lleshanaku.
W:Orte 2019, Luljeta Lleshanaku
Foto: W:Orte Internationales Lyrikfestival
Albanisch-deutsch-italienisch ist ein dreisprachiger „Gedichtetausch : scambio poetico“ mit Lleshanaku, Andrea Grill, Gentiana Minga und Roberta Dapunt geplant. Es moderieren Alma Vallazza und Gabriele Wild, Beginn der heutigen Veranstaltung ist um 19 Uhr. Es ist bei der diesjährigen, 8. Ausgabe von „W:Orte“, in Zusammenarbeit mit ZeLT, dem europäischen Zentrum für Literatur und Übersetzung, erstmals der Sprung über die Alpen Richtung Süden geglückt. Das Festival läuft noch bis inklusive 7. Juni. Bei dem Treffen der Dichterinnen und Übersetzerinnen soll es, durch gegenseitiges Vorlesen aus den Werken und Sprechen über die eigene Tätigkeit, zu einem Austausch zwischen den vier Beteiligten kommen.
Um diesem Tausch ein Stück weit vorweg zu greifen haben wir Luljeta Lleshanaku in Innsbruck erreicht und mit der albanisch-amerikanischen Schriftstellerin, die zu den wichtigsten poetischen Stimmen des Landes gehört, ausführlich gesprochen. Die 1968 in Elbasan geborene Schriftstellerin wuchs unter Hausarrest auf, da ihr Onkel der Planung eines Attentats auf den diktatorischen Herrscher der damaligen Sozialistischen Volksrepublik Albanien, Enver Hoxha, bezichtigt wurde. Bis Anfang der 90er durfte Lleshanaku weder eine Hochschule besuchen, noch ihre Gedichte publizieren. Mittlerweile gibt es neun Lyrikbände unter ihrem Namen. Sie lebt und arbeitet seit einigen Monaten in den USA, wofür Lleshanaku ihre Stelle als Leiterin des „Institute for the Studies of Communist Crimes and Consequences Albania, Tirana“ aufgeben musste. Laut den Zahlen des Instituts wurden mehr als 6000 Personen in den Jahren 44 bis 90 hingerichtet. Zuletzt von Luljeta Lleshanaku in deutscher Übersetzung erschienen: „Die Stadt der Äpfel - Gedichte“ (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser), aus dem Albanischen übertragen von Andrea Grill.
 
Salto.bz: Frau Lleshanaku, Ihre Biografie ist recht außergewöhnlich: Vom Hausarrest für ein angebliches Attentat zur Leiterin eines Instituts zur Aufarbeitung kommunistischer Genozide. Wie haben Sie diese Erfahrungen geformt und wie fließen sie in Ihre poetische Praxis ein?
 
Luljeta Lleshanaku: Wie Sie sagten, ich wuchs in einer Familie auf, die als „Feind des Volkes“ gesehen wurde, während des totalitären kommunistischen Regimes. Als das Regime kollabierte war ich 23 Jahre alt, aber es war eine Verfolgung dreier Generationen: jener meiner Großeltern, meiner Eltern und meiner, da das Regime für 47 Jahre andauerte. Meine Eltern wurden interniert und deportiert, meine Cousins und mein Großvater wurden inhaftiert und mein Onkel wurde exekutiert. Beide Familien, die meiner Mutter und die meines Vaters wurden stark verfolgt. Ich, als dritte Generation, durfte keiner Arbeit nachgehen und nicht an der Universität studieren. Mit dem Studium an der Universität fing ich also 1991 an und war damals eine Mutter mit einem drei Monate alten Kind. In letzter Zeit habe ich dann als Direktorin der Studienabteilung gearbeitet. Da ich nun in den Vereinigten Staaten lebe, habe ich Albanien vor sieben Monaten verlassen, so dass ich dieser Aufgabe nicht mehr nachgehen kann.
 
Ich brauchte fast 20 Jahre um zu beschließen, ein Gedicht über die kommunistischen Verbrechen zu schreiben.
 
Das war ein Traumberuf für eine Künstlerin an einem so sensiblen menschlichen Thema zu arbeiten, wie es die Verbrechen des Kommunismus sind. Ich habe mich direkt mit einem Projekt der Sammlung von Zeugenaussagen befasst, habe ein Videoarchive erstellt und bin die Herausgeberin der acht Bände der verschriftlichten Interviews, die unter dem Titel „The Voice of Memory“ erschienen sind. Auf der einen Seite ist meine persönliche Erfahrung, die berücksichtigt wurde als man mir die Stelle anbot, auf der anderen, die Erfahrungen, auf welche ich durch die Recherche gestoßen bin. Ich denke, diese haben mich künstlerisch weitergebracht, da ich zwar schon viel wusste, aber noch mehr gelernt habe. Auch die Geschichten des Widerstands verwende ich - bewusst wie auch unbewusst - in meiner Poesie. Aber Literaturkritiker meinen, dass ich - direkt oder indirekt - immer von Unterdrückung spreche, davon was es heißt, in einem totalitären Regime zu leben. Aber das einzig direkte Gedicht, das ich darüber geschrieben habe ist ein Liebesgedicht mit dem Titel „Negative Space“, das auch in englischer und deutscher Übersetzung erschienen ist und das ich auch vorgestern beim Festival in Innsbruck vorgelesen habe.
Ich brauchte fast 20 Jahre um zu beschließen, ein Gedicht über die kommunistischen Verbrechen zu schreiben. Ich denke, ich musste zuerst eine emotionale Distanz herstellen zu der Zeit. Nach dem Holocaust wäre kein Leser davon überrascht, nichts ist mehr neu. Was ich machen wollte, ist ein Stück albanischer Geschichte im Kontext kommunistischer Philosophie zu behandeln, zwei Menschen rein materialistisch sehen. Was diesem, nennen wir es „absurdem“ Regime eine Art Bedeutung verlieh, war der Widerstand. Ich möchte hier Viktor Frankl, einen jüdisch-österreichischen Autor und Psychologen zitieren: „Wenn das Leben einen Sinn hat, dann muss auch das Leiden einen Sinn haben“ Die letzte Freiheit, die uns niemand nehmen kann ist die Art und Weise auf welche wir unser Kreuz tragen. All diese Geschichten von Gefängnissen, Deportationen und Internierungslagern stellen gewissermaßen auch jene Menschen, die sie erzählen bloß. Vielleicht war es Würde, die all diesen Absurditäten eine Bedeutung verleiht. Was ich in „Negative Space“ unternehme, ist in verschiedenen Stimmen zu schreiben, manchmal in der ersten Person Singular, manchmal in der ersten Person Plural. Ich wechsle von einer individuellen Stimme zu einer kollektiven, vom „ich“ zum „sie“ und zum „er“. Ich versuche, einen vollständigen Rahmen für diese Realität zu schaffen.
 
W:Orte 2023, Luljeta Lleshanaku
W:Orte 2023: Luljeta Lleshanaku las bereits am 30. Mai in der Stadtbibliothek Innsbruck. Hier zu sehen mit Schauspieler und Sprecher Stefan Wancura, welcher die Lektüre der Übersetzungen übernahm. | Foto: W:Orte Internationales Lyrikfestival
 
Eine der Poesie ureigenen Möglichkeiten ist es, stimmlosen Dingen oder Personen eine Stimme zu verleihen. Hat die Arbeit an der Sammlung von Interviews aus Stimmen, die nicht gehört wurden oder nicht gehört werden durften dahingehend bei Ihnen einen Eindruck hinterlassen?
 
Ja, den meisten von ihnen wurden zahlreiche Rechte genommen, wie jenes auf Veröffentlichung. Mein Gedicht versucht, ihre Geschichten ans Licht zu holen, da sie sonst verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auch bei der Aufnahme der Zeugenaussagen gab es Widerstand. Es ist nicht einfach, die Menschen dazu zu bringen, darüber zu sprechen, wie sie gelitten haben. Das war Teil meiner Aufgabe, sie davon zu überzeugen, dass ihr Leben und Leiden keinen Sinn haben würde, wenn es von allen vergessen würde. Selbst ihre Enkelinnen und Enkel würden nicht mehr um ihr Leid wissen, wenn sie nicht davon gesprochen hätten. Durch Kreativität erhält das eine Wirkung, besonders bei jüngeren Generationen, die wenig oder nichts von der kommunistischen Geschichte Albaniens wissen. Natürlich hat die posttotalitäre Gesellschaft ein Interesse am Vergessen und daran, die Dinge in der Vergangenheit zu belassen. Aber ich sehe das als eine Mission der Künstlerinnen und Künstler diesen Teil der Geschichte zu schreiben.
 
Es ist also zu spät für mich, um vollständig - kulturell und seelisch - integriert zu werden, weil für eine Schriftstellerin die Erinnerung beinahe alles ist.
 
Wie hat der Umzug in das sogenannte „Land of the Free“ Ihre Perspektive verändert? Das ist ein ziemlicher Wechsel, von Albanien…
 
Ja, das ist eine gute Frage, was ich nun schreiben werde. Ich bin jetzt 55 Jahre alt und habe das Land erst vor sieben Monaten verlassen. Es ist also zu spät für mich, um vollständig - kulturell und seelisch - integriert zu werden, weil für eine Schriftstellerin die Erinnerung beinahe alles ist. Ich habe meine Jugend und Kindheit in Albanien verbracht und identifiziere mich und meine Arbeit mit der albanischen Geschichte. Ich lebe also in den USA und habe mich natürlich an die Regeln und Gepflogenheiten des neuen Landes angepasst und werde mich persönlich auch an die Kultur annähern. Als Schriftstellerin bleibe ich aber eine albanische Schriftstellerin. Mein Charakter, meine Vergangenheit ist zu großen Teilen Albanien. Ich habe nicht nur ein Land hinter mir gelassen, sondern auch eine traumatische Geschichte, die mich geformt hat. Ich lebe also in den Staaten und werde hoffentlich auch damit beginnen, auf Englisch zu schreiben, auch wenn ich da keine Vorhersagen treffen kann. Aber auch wenn ich nicht über Albanien schreibe, die Art und Weise, wie ich die Welt um mich wahrnehme ist stark von Albanien geprägt. Wäre ich eine Ingenieurin oder eine Astronautin, wäre das viel einfacher. Es gibt da dieses italienische Lied an das in solchen Situationen gerne denke, „Tu vuò fà l’americano“, darin spielt man den Amerikaner. Für mich ist das trauriger Humor, dass es zu spät für mich ist, eine Amerikanerin zu werden. Ich spiele die Amerikanerin. Gleichzeitig ist es der Traum vieler Menschen auf der Welt und war auch meiner, seit ich klein war, nach Amerika zu ziehen. Die kulturelle und emotionale Integration als Künstlerin ist aber eine andere Sache.
 

 
Wenn Sie die Amerikanerin „spielen“, wie sehr kommt es Ihnen dabei auf Authentizität an? Nehmen Sie dieses „Spiel“ in ihrem Alltag als solches wahr?
 
Es ist noch zu früh für mich, um das zu sagen, da ich mich in einer außergewöhnlichen Situation befinde. Ich kümmere mich um meine fast bewegungsunfähige und demente Mutter, weswegen ich ein wenig in einer Blase existiere. Aber in Zukunft versuche ich, das zu tun, was ich kann: Meine Bücher sind auf Englisch in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien erschienen und ich habe bereits in der Vergangenheit in Kreativem Schreiben in den Staaten unterrichtet. Aber das Schreiben ist ein Prozess der Fehler. Mein schwerstes Gepäck sind dabei meine Erfahrungen aus Albanien. Bald werde ich amerikanische Staatsbürgerin sein und ich werde glücklich sein, dort zu leben. Meine Familie, meine Töchter und Enkelinnen leben dort. Die Zukunft ist dort, aber in mir nehme ich Albanien mit.
 
Sie haben zuvor vom Schreiben aus unterschiedlichen Perspektiven gesprochen. Wie sehr nehmen Sie sich beim Schreiben als der Ursprung Ihrer Poesie wahr und wie sehr als einen Punkt, welchen diese Poesie durchquert?
 
Das Projekt mit den Zeugen hat mir dabei sehr geholfen. Verschiedene Erfahrungen, von Folter bis zur Scheidung im Gefängnis. Viele Frauen mussten sich, damit die Familie überlebt, von ihren Männern trennen. Ich bringe verschiedene Aspekte des Kommunismus in das Gedicht „Negative Space“ ein, das kollektive Schicksal. Man weiß nie genau, wie sich diese Geschichten in einem akkumulieren. Einige davon haben Aspekte persönlicher Erfahrung, andere sind die Erfahrungen von Zeitzeugen, aber natürlich durchlaufen sie einen kreativen Prozess. Sie werden angereichert und adaptiert für fiktionale Figuren. Die Kreativität ist ein wichtiger Teil, wenn es darum geht, das Publikum dazu zu bringen etwas zu fühlen, ohne etwas von der Tragik vorzugeben. Ich habe Monate, vielleicht Jahre gebraucht um einen Zugang zu finden, der den Leserinnen und Lesern das Gefühl vermittelt. Niemand kann das vermitteln, was es bedeutet gefoltert zu werden. Man will vermitteln, was anders war in Albanien, im Vergleich zu Verbrechen in Nazi-Deutschland oder der Sowjetunion. Es geht um das, was diese Verbrechen in den Augen der Opfer ausmacht.
 
Diese Übersetzung gehört mir nicht, aber wenn ich als albanische Dichterin vorgestellt werde, ist mein Werk gewissermaßen auch Poesie Albaniens. Wenn das Publikum meine Gedichte hört, gehen diese über Luljetas Gedichte hinaus und es sind die Gedichte eines Landes.
 
Was bei der heutigen Lesung besonders ins Auge sticht ist, dass es sich um vier Poetinnen aus etwa der selben Generation handelt. Da es sich zwischen ihnen um einen „Gedichtetausch“ handelt, stellt sich vielleicht auch die Frage nach Besitz. Kann man ein Gedicht besitzen? Bedeutet ein Gedicht zu veröffentlichen nicht auch es gewissermaßen zu teilen?
 
Auch wenn viele Dichterinnen in bestimmten Phasen so tun, als wäre ihnen das egal, als würden wir für uns selbst schreiben, was ich auch getan habe, in dem Moment, in dem ich beschließe ein Gedicht zu veröffentlichen, will ich natürlich, dass andere das Gedicht lesen. Deswegen lege ich auch auf Übersetzung großen Wert, den richtigen Verlag und die Aufmachung eines Bandes. Da heute Abend die Übersetzung ein Hauptthema ist, werde ich auch von meiner Erfahrung mit verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzern sprechen: Ich hatte zwei im Englischen, im Deutschen, Italienischen, Spanischen, Polnischen, Slowakischen und weiteren Sprachen, in welchen Übersetzungen in Arbeit sind. Ich achte dabei auf alle Details und arbeite mit meinen Übersetzern zusammen und bin für ihre Fragen offen. Diese Übersetzung gehört mir nicht, aber wenn ich als albanische Dichterin vorgestellt werde, ist mein Werk gewissermaßen auch Poesie Albaniens. Wenn das Publikum meine Gedichte hört, gehen diese über Luljetas Gedichte hinaus und es sind die Gedichte eines Landes. Selbst die Schriftsteller, die ihre Werke anonym herausgeben, wollen sie teilen.
 
W:Orte 2023, Luljeta Lleshanaku
W:Orte 2023: „Meine Familie, meine Töchter und Enkelinnen leben dort. Die Zukunft ist dort, aber in mir nehme ich Albanien mit.“ | Foto: W:Orte Internationales Lyrikfestival
 
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Übersetzer:innen wie Andrea Grill, deren Endsprache sich Ihren persönlichen Kenntnissen entzieht? Wie nehmen Sie darauf Einfluss, abgesehen davon, dass Sie für Nachfragen ein offenes Ohr haben?
 
Es ist für mich einfacher, die englische Übersetzung zu überprüfen, da ich die Sprache verstehe. Aber es ist mir unmöglich, die Qualität einer deutschen, spanischen oder polnischen Übersetzung zu erkennen. In diesem Fall ist es am besten mit erfahrenen Übersetzerinnen und Übersetzern zusammen zu arbeiten. Manchmal muss ich aber auch mit unerfahrenen Übersetzern zusammenarbeiten. Aber was mir da ein gewisses Vertrauen geben kann, ist die Kommunikation, die Fragen die mir gestellt werden. Wir helfen dem Übersetzungsprozess und die Fragen geben mir Informationen darüber, wie sich der Übersetzer oder die Übersetzerin dem Gedicht annähert. Sicher befasse ich mich auch mit den Kommentaren und Rezensionen, wenn ein Band veröffentlicht ist. Wird die Poesie gut aufgenommen, dann ist das zur Hälfte ein Verdienst der Übersetzung. Ich schätze mich glücklich, gute Erfahrungen etwa mit Andrea Grill oder Dorota Horodyska, meiner polnischen Übersetzerin gemacht zu haben. Das ist ein Wagnis, auch wenn man von Anfang an eine Theorie hat, wie sich jemand mit Poesie befasst und wie ausgeprägt ihre künstlerische Intelligenz ist, um ein Gedicht zu verstehen.