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Eine Olympiade ganz im Sinne der Nazis

Vor 85 Jahren, am 1. August 1936, wurden die Spiele in Berlin eröffnet. Sie gerieten zum Propagandatriumph für Deutschlands Führung. Kritik? Ach ja, die gab es auch.
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Foto: Siedler Verlag

Im Fußballendspiel von Berlin standen sich zwei mit Nazideutschland befreundete Länder gegenüber. Italien schlug Österreich 2:1 nach Verlängerung und gewann die Goldmedaille. Es war ein übler Kick mit zahlreichen Fouls. Der eigentliche Skandal aber war, dass beide Mannschaften überhaupt im Finale standen. 

Italien gewann mit dem italienischsten aller Fußballresultate.  

In der ersten Runde hatten die Italiener erwartungsgemäß den Außenseiter USA ausgeschaltet. Aber wie! Verteidiger Pietro Rava war in der 55. Minute vom Platz geflogen. Kurz darauf erzielte Mittelstürmer Annibale Frossi (er wurde später Torschützenkönig des Turniers) das Einszunull. Dann war wieder ein Italiener reif für einen Platzverweis. Achille Piccini hatte gleich zwei gegnerische Spieler hintereinander umgenietet. Der deutsche Schiedsrichter Karl Weingartner zögerte keine Sekunde: Mit eindeutiger Handbewegung – Rote Karten waren noch nicht erfunden – zeigte er Piccini an, wo es langgehen sollte: vom Feld. In diesem Moment griffen Piccinis Mannschaftskollegen ein. Sie umringten den Referee, einer hielt Weingartner den Mund zu, vier andere seine Arme fest. Weingartner reagierte – nicht. Entweder war er eingeschüchtert, oder er beschloss als guter Deutscher, es gut sein zu lassen und den Kickern aus dem befreundeten Faschistenstaat künftig nicht mehr in die Parade zu fahren. Piccini durfte bleiben. Italien gewann mit dem italienischsten aller Fußballresultate.  

Dem Autor gelingt es, seine Leser noch einmal in das Jahr 1936 eintauchen zu lassen und die Olympiade aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten.

Österreich bekam es im Viertelfinale mit den starken Peruanern zu tun. Eine Zweizunullführung brachten die Kicker aus des Führers Geburtsland nicht über die Zeit. Es gab Verlängerung! Bis zur 115. Minute passierte wenig. Dann schlugen die Peruaner zu und setzten in der Schlussminute noch einen drauf. Das Spiel war entschieden, die peruanische Fangemeinde rannte überglücklich aufs Feld und feierte ihr Team. Es war kein Platzsturm, und der Referee sah auch keinen Grund, einzuschreiten. Dafür war die Schar der Anhänger mit der weitesten Turnieranreise entschieden zu klein. Einen Protest gab es dennoch. Der Platzsturm habe schon vor dem letzten Treffer eingesetzt, meinten die Österreicher, ein ordnungsgemäßer Spielverlauf sei nicht mehr möglich gewesen. Dem Einspruch wurde stattgegeben, ein Wiederholungsspiel angeordnet – wenig überraschend angesichts des Umstands, dass nur Europäer in der Jury saßen. Die Peruaner verzichteten. Nicht nur das Fußballteam, sondern die komplette Delegation, Athleten und Funktionäre, reiste anschließend unter Protest aus Berlin ab. In Lima warfen sie unterdessen der deutschen Botschaft die Fensterscheiben ein. 

 

Und sonst? Verliefen die Spiele ganz so, wie ihre braunen Gastgeber es sich wünschten. Nachdem die Nationalsozialisten die eigene Brut bereits verdorben hatten, war nun die Jugend der Welt zu Gast. Ihre Absicht war es, allen Besuchern – nicht nur den Sportlern, auch Journalisten, Diplomaten, Politikern – zu zeigen, die Deutschen seien ein weltoffenes, tolerantes, friedliebendes Volk mit einer ebenso gearteten Regierung. Die militärische Besetzung des Rheinlands nur wenige Monate zuvor? Kein Thema mehr. Die Gehirnwäsche durch eine gleichgeschaltete Presse? Fiel nicht auf, da das Propagandaministerium sich lammfromm gab, vorsorgliche Maßnahmen getroffen hatte und braune Hetzblätter wie der Stürmer zwei Wochen lang gar nicht oder nur in gezähmter Version erscheinen durften. Der Ausschluss der Juden vom öffentlichen Leben, von den Universitäten, aus der Beamtenschaft? Fiel ebenfalls unter den Tisch, da sich kaum Berührungspunkte der Gäste mit den abgeschirmten Juden ergaben. 
Und doch hätte einem konsequent nachfragenden Berichterstatter manche Ungereimtheit auffallen können. Es sei denn, er hieß Thomas Wolfe und hatte die Klarsichtbrille, mit der ihr Träger die Verhältnisse daheim äußerst kritisch betrachtete, gegen ein rosarotes Exemplar eingetauscht. Der Schriftsteller Wolfe fühlte sich wohl in Deutschland. Ihm erschienen die sozialen Unterschiede im neuen nationalen Reich weniger krass als im kapitalistischen Amerika, die Angehörigen sämtlicher gesellschaftlicher Schichten kamen ihm insgesamt zufriedener, lebensfroher und vor allem materiell besser abgesichert vor. So konnte man es auch sehen.
Sechzehn Tage im August ist der Untertitel eines Olympiabuchs der etwas anderen Art. Der Journalist und Historiker Oliver Hilmes hat es geschrieben. Berlin 1936 lautet sein Titel. Sechzehn Tage brauchte es auch, um Thomas Wolfe eines Besseren zu belehren. Der Gesinnungswandel trat erst allmählich ein und wurde nur möglich, weil sich der amerikanische Gast offenen Auges in Berlin bewegte und sowohl für die Annehmlichkeiten als auch die Propaganda der neuen Ära sehr empfänglich war. Die Offenheit seiner Sinne brachte Wolfe bei einem seltenen Zusammentreffen mit einer Nazikritikerin aber auch dazu, genau hinzuhören. So erfuhr er von Drangsalierungen linker Regimegegner, Homosexueller, „Asozialer“ (hauptsächlich deutsche Sinti, denen man den Arierstatus auch mit noch so viel üblem Willen nicht absprechen konnte) und Nichtarier, von deren willkürlicher Verhaftung und Internierung in Konzentrationslagern wie auch von einem dichten Netz bestens informierter Denunzianten, die den Nazis immer neue Opfer in die Arme trieben. Wolfe fragte nach. Und siehe da, in den Kneipen, Bars und Varietés, wo er sich bislang so unbeschwert amüsiert hatte, berichteten ihm plötzlich Gäste unter vorgehaltener Hand, wer dort alles nicht mehr auftreten durfte. Zurück in Amerika, brachte Wolfe das Erlebte zu Papier, mit der gewohnten kritischen Schärfe.

Wer dieses Buch liest, hat eine Vorstellung davon, wie ein autoritäres Regime mithilfe von PR, Propaganda und perfekter Inszenierung die Weltöffentlichkeit – und zwei Jahre später, auf der Münchner Verräterkonferenz, die führenden Politiker Europas – täuschen konnte.

Der gewendete Berlinbesucher Wolfe ist nur einer von unzähligen Puzzlesteinen, die Hilmes zu einem facettenreichen Porträt zusammenfügt. Dem Autor gelingt es, seine Leser noch einmal in das Jahr 1936 eintauchen zu lassen und die Olympiade aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten. Derjenige von Thomas Wolfe ist der politisch wertvollste. Auch das häufig zitierte Tagebuch des deutschen Propagandaministers ist sehr aufschlussreich. Kaum weniger informativ sind die vielen kleinen Szenen, die den Alltag nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen deutschen Städten aufblitzen lassen. Hilmes gibt kleinen Kriminellen, hoffnungsfrohen Mitläufern, schwärmerischen Naziverehrern, bedrängten Juden, diskriminierten Sinti einen Namen und lässt Anteil an deren Schicksal nehmen. Natürlich blickt er auch hinter die Kulissen der großen Politik und präsentiert eine den Nazis stets willfährig dienende Dokumentarfilmerin (der während und nach der Nazizeit die Filmwelt von Rom bis Hollywood huldigte), einen rückgratlosen IOC-Präsidenten (auch die hatte es damals schon gegeben) oder auch kaum charakterfestere westliche Botschafter (die es nicht wert sind, ihre Namen an dieser Stelle zu erwähnen). 
Hilmes‘ Buch, das ist seine große Stärke, spricht für sich. Wer es liest, hat eine Vorstellung davon, wie ein autoritäres Regime mithilfe von PR, Propaganda und perfekter Inszenierung die Weltöffentlichkeit – und zwei Jahre später, auf der Münchner Verräterkonferenz, die führenden Politiker Europas – täuschen konnte. Es sollten für zwölf Jahre die letzten Olympischen Spiele sein. Einen Nachteil hat die Detailverliebtheit des Autors: Die vielen auftretenden Personen im Stück wirken leicht verwirrend. Vielleicht sollen sie das auch, um kein allzu einfaches Bild entstehen zu lassen. Imponierend ist die Vielzahl und Vielfalt an Akten, die Hilmes studiert hat. Gewiss waren es noch viel mehr als die im Anhang aufgeführten, es lässt sich schließlich nicht alles auf knapp dreihundert Seiten unterbringen.