Gesellschaft | Gastbeitrag

Wortfetzen aus dem Exil

Wenn etwas Liebe und Kampf gleichzeitig sein kann, dann die Poesie.
belarus
Foto: (c) unsplash

Auf die Frage, ob denn Literatur und Poesie in Zeiten von Unterdrückung und Diktatur überhaupt von Bedeutung seien oder ob es nicht um ganz andere Dinge gehe, antwortete bei einer Veranstaltung in Innsbruck das belarussische Schriftstellerpaar Julia Cimafiejeva und Alhierd Bacharević, die als Writer in Exile in Graz leben, folgendermaßen:

Als die Proteste im August 2020 in Minsk ausbrachen, gingen sie mit ihrem Körper und unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße, gemeinsam mit den Zehntausenden anderen Belarussen. Als es allerdings für sie, die in ihren Werken, er vor allem in Romanen, sie in Gedichten, zu gefährlich wurde, gingen sie ins Exil und wussten, nun würde es das Wort sein, mit dem sie kämpfen müssten. In Minsk, denn fast ausschließlich dort spielte sich vor der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste (man erinnere sich: diese richteten sich gegen das von internationalen Beobachtern und der EU als gefälscht angesehene Ergebnis der Präsidentschaftswahlen, die Absetzung Lukaschenkos und die Ankerkennung von Svetlana Tichanowskaja als Gewinnerin der Wahl) das kulturelle Leben ab, sind mittlerweile alle unabhängigen Theater, Konzerthäuser, Clubs, Buchhandlungen und Leseorte geschlossen, es gibt sie nicht mehr, ausradiert, sagt Bacharević. Verleger gibt es fast keine mehr, und wenn, dann bitten sie ihre Autoren, jeglichen politschen Inhalt zu vermeiden. Wer kann, geht ins Exil, zahlreiche Kunstschaffende befinden sich in Haft unter unwürdigsten Umständen. Was und wie also schreiben? Welche Worte finden, wenn einem die Worte fehlen für das, was zur Zeit vor den Augen Europas, in Europa geschieht? Die beiden wurden politischer in ihrem Schreiben, ihre Texte sind nun vor allem journalistischer, aufklärerischer Art. Sie geben Interviews, reisen durch Europa, um zu informieren, leidenschaftlich zu informieren. Und sie haben keine Berührungsängste, ihre Literatur auch über die social media zu verbreiten. Beide schreiben zur Zeit Gedichte. Bacharević, dessen letzter Roman an die 900 Seiten umfasst, kann nur mehr in der Kurzform schreiben, jedes Genre, das auf ein Ende baut (wie die erzählenden Gattungen) ist ihm unmöglich. Und Cimafiejeva schreibt, sprachmächtige politische Gedichte voll des Zorns und der Anklage, aber auch der Liebe für die Menschen in Belarus, und sie schreibt: Briefe an die politischen Gefangenen in ihrer Heimat. Stundenlang sitzt sie an ihrem Schreibtisch und schreibt Briefe an ihr Unbekannte, in dem Wissen, dass ein Großteil dessen, was sie schreibt, zensiert werden wird, obwohl es von politischen Inhalten weit entfernt ist. Doch sie schreibt, um den Menschen, die hinter Mauern sitzen und denen jeglicher Kontakt zu den Angehörigen verwehrt ist, ein Zeichen zu geben: Seht, ihr seid nicht vergessen! Wir kennen uns nicht, aber du bist mir wichtig. Und sie erzählt uns im Publikum, dass es ihr darum geht, das Wort weiterzugeben, und sie weiß, dass die Inhaftierten selbst zu Papier und Stift greifen, sofern es ihnen möglich ist, um ihre Gedanken, Erfahrungen, ihr Leid aufzuschreiben. Oder sie memorieren die Texte, die in ihnen entstehen. Genauso wie Nadeshda Mandelštam, die die Gedichte ihres Mannes Ossip, der während des Stalinistischen Terrors im Gulag war und dort auch umkam, Nacht für Nacht memorierte. In ihrem Gedächtnis waren sie sicher, und ihrem Gedächtnis verdanken wir, dass seine Werke, die während des „Jahrhunderts der Wölfe“ (so der Titel der Memoiren von Nadeshda) aus den Untiefen unserer Zeit entstanden, überliefert werden konnten.

Diese Antwort beschämt die Frage und beschämt uns im Publikum, die wir Literatur häufig als Unterhaltung, als Konsumware sehen, der sich allerdings viele verweigern. Denn es wurde so klar: das Wort, die Poesie, das Erzählen und der Dialog über die Sprache kann überlebenswichtig sein. Nicht umsonst bekämpfen sie die Diktatoren, und sie kämpft gegen diese. Auf ihre Art.