Politik | Wahlkampf

Italiens surreale Parteienlandschaft

Im Parlament zeigen sich deutliche Auflösungserscheinungen. Rund 200 Parlamentarier sind auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat.
Tiro alla fune
Foto: web

Kann ein rechtskräftig verurteilter Steuerbetrüger, der im Februar wegen Bestechung  erneut vor Gericht steht, mit 81 Jahren eine Wahl gewinnen, bei der er gar nicht kandidiert ? In Italien durchaus. Denn dort ähnelt Politik  einem surrealen Szenario, das häufig unmögliches Scheinendes real werden lässt. Wenige Wochen vor der offiziellen Auflösung des Parlaments durch den Staatspräsidenten zeigen sich dort bereitsunübersehbare Auflösungserscheinungen. Während die Regierung mit Vertrauensvotum das Haushaltsgesetz durchdrückt, hat in Kammer und  Senat das grosse Feilschen bereits begonnen. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen suchen nicht nur skurrile Hinterbänkler wie Domenico Scilipoti und Antonio Razzi eine neue politische Heimat. Das allgegenwärtige Phänomen der Migration macht offenbar auch vor dem Parlament nicht Halt. Das Tauziehen um Listenplätze ist voll im Gang. Nie war die Zahl der Heimatlosen, die sich am Markt feilbieten, höher: knapp 40 aus Montis restlos aufgelöster Partei Scelta civica und ebenso viele, die aus der Fünf-Sterne-Bewegung ausgeschieden sind. Weitere 100 Parlamentarier, die Berlusconi den Rücken gekehrt haben und rund 50 aus dem Partito Democratico. Unklar ist freilich, an wen Dauermigranten wie Senator Luigi Compagna wenden, der allein in dieser Legislatur zehn Mal Partei gewechselt hat.

Aussenminister Angelino Alfano, der als ewiger Trittbrettfahrer in der Lombardei mit Roberto Maroni und in Rom mit Claudio Gentiloni regiert,  will verhindern, dass seine Alleanza Popolare unter die Sperrklausel von drei Prozent fällt. Alle halten fieberhaft Ausschau nach möglichen Koalitionspartnern.  Denn das neue Wahlrecht zwingt zu (häufig ungeliebten) Bündnissen, die anschliessend  wieder gelöst werden können. Es sind Koalitionen mit ungleichen Partnern wie Berlusconis Allianz mit den Rechtsauslegern Matteo Salvini und Giorgia Meloni, in denen der Lega-Chef den Cavaliere fast täglich scharf angreift. Meloni wiederum ist sauer auf Salvini, der Altfaschisten wie Alemanno und Storace auf die Lega-Liste setzt. Dennoch hat dieses bizarre Bündnis  - zumindest vorerst - die Nase vorn. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass sich Forza Italia, Partito Democratico und Lega mit dem neuen Wahlrecht ein Eigentor geschossen haben. Auch wenn das favorisierte Rechtbündnis die 40-Prozent-Marke erreichen sollte, schafft es im Senat nur 134 Sitze - 27 unter der erforderlichen Mehrheit. Dem zerstrittenen Partito Democratico wiederum droht im Roulette der Ein-Mann-Wahlkreise eine deutliche Niederlage.

Nur eines steht bereits jetzt unumstösslich fest: nach der Wahl werden lange Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung nötig sein. Bis dahin bleibt Premier Claudio Gentiloni mit seiner Regierung im Amt. Kommt bis zum Sommer keine Einigung zustande, könnte der Ministerpräsident sogar bis zum Herbst regieren. Und in Italiens surrealer Politik kann niemand  ausschliessen, dass der mit einer Zustimmung von 44 Prozent beliebteste Politiker Italiens schliesslich sein eigener Nachfolger wird.