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Foto: Bbt
Umwelt | Reportage

Ausflug in den Brennertunnel

Ein Lokalaugenschein auf Europas grösster Baustelle
Auf den umliegenden Gipfeln schmilzt der letzte Schnee. Im Inneren des Berges herrscht eine konstante Temperatur von rund 30 Grad. Wer die gigantische Baustelle des Brennertunnels bei Mauls betritt, könnte sich unweigerlich im Labyrinth der Stollen, Kavernen und unübersichtlichen Verkehrswege verirren. Nicht so Thomas Albarello.
Der für Besucher zuständige Vertreter der Eisenbahn im Tunnelkonsortium steuert seinen Kleinbus so mühelos durch die unterirdische Welt, als würde er sich auf der Autobahn bewegen. Kreuzungen, Ampeln, Vorfahrtsrechte: vieles ist hier im Licht hunderter Scheinwerfer fast so wie im realen Strassenverkehr.
Wenige kennen diese komplexe Welt unter Tage und ihre Regeln so detailreich wie der aus Bologna stammende Ingenieur Giorgio Malucelli. Sie ist sein Arbeitsplatz und wird es noch für etliche Jahre bleiben. Geduldig beantwortet der stellvertretende Baustellenleiter alle Fragen. Mit im Fahrzeug sitzen Oswald Stimpfl als Fotograf und  ich als Journalist. Alle vorschriftsmässig gekleidet: orangefarbene Jacke, gelber Helm und gelbe Gummistiefel - und das vorgeschriebene GPS-Gerät um den Hals.
21 Millionen Kubikmeter Material hat man hier bereits aus dem Berg geholt. Vieles davon wird von riesigen Maschinen sofort zerkleinert und zu Beton verarbeitet. Sprengstoff wird  im Vergleich zu früher selten eingesetzt.  Gebohrt wird nicht ein Tunnel, sondern deren sieben: zwei eingleisige Hauptröhren im Abstand von 70 Metern, die alle 333 Meter durch Querstollen verbunden sind, die vor allem Sicherheit  und rasche Rettungseinsätze gewährleisten sollen.
12 Meter tiefer wird ein Erkundungsstollen vorangetrieben, der zur Untersuchung der geologischen Formationen dient und während der Bauphase als Logistik- und Servicetunnel benutzt wird. Weiters entstehen vier seitliche Zufahrtstunnels wie jener in Mauls. Über sie wird das Ausbruchsmaterial zu den Deponien gebracht, während der Bauphase dienen sie logistischen Zwecken. Die Hauptarbeit besorgen hier zwei wahre Giganten: Tunnelbohrmaschinen deutscher Produktion, die bis zu 400 Meter lang sind und über einen Bohrkopf mit einem Durchmesser von zehn Metern verfügen.
Die grössten Bauteile dieser Fräsen konnten wegen ihrer Dimensionen nicht über den Brenner transportiert werden, sondern mussten über den Rhein in die Nordsee verschifft und von dort durch das Mittelmeer nach Porto Marghera, von wo sie mit Sondertransporten nach Mauls gebracht wurden. Im Schnitt schaffen sie 13 Meter pro Tag. Das unterirdische Labyrinth ist erfüllt vom Dröhnen der Bagger und Baumaschinen. 30 Kilometer Rohrleitungen durchziehen die Stollen, in denen sich insgesamt 60 Kilometer Förderbänder bewegen. Komplexe Vorrichtungen kontrollieren rund um die Uhr die Luftqualität, mit einem Tunnelscanner können binnen weniger Minuten Millionen von Messpunkten erfasst werden - etwa zur Überprüfung der Schichtdicke des Spritzbetons.
Eines der komplexesten Bauprobleme stellt die Eisackunterquerung bei Mauls dar, wo dank technologischer Überprüfung die höchstmögliche Querabweichung bei neun Zentimetern liegen kann. Ein wichtiges Anliegen ist der Schutz der Ober- und unterirdischen Gewässer. Diesem Zweck dienen 1300 Messorte zur Überprüfung der Wasserqualität und Schüttmenge der Quellen zwischen Innsbruck und Franzensfeste. Während auf der österreichischen Seite 600 Arbeiter eingesetzt werden, sind es an der Baustelle in Mauls 1500. Fast alle kommen aus Süditalien, allein die Hälfte aus Kalabrien.
Sie arbeiten in Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr. Die meisten wohnen in der Container-Siedlung bei Mauls, wo sich auch die Mensa befindet. Sie verdienen im Schnitt 2300 Euro monatlich, Unterhaltungsmöglichkeiten sind freilich kaum vorhanden. Wer ein bisschen Stadtluft atmen will, muss nach Brixen fahren. Dort wohnt auch Ingenieur Malucelli . Er hat nicht die Absicht,  die Stadt wieder in Richtung Bologna zu verlassen, versichert er - auch nicht nach dem Abschluss der Arbeiten im Jahr 1927, wenn die Schnellzüge mit 250 Stundenkilometern durch den Tunnel rasen - dank des flachen Verlaufs  600 Meter unter dem Brenner. "Meine Kinder sprechen mittlerweile perfekt deutsch", versichert er.  "Wir haben hier bisher sowohl den Kostenvorschlag als auch den Zeitplan eingehalten, stellt er zufrieden fest. Dass er bereits im Ruhestand sein könnte, wenn der erste Zug durch den Brennertunnel fährt, will der Ingenieur freilich nicht ausschliessen.