Gesellschaft | Salto europe

Odyssee durch Europa

Make Europe Greater-Tour: Ein Vater und sein Sohn überqueren Europa mit dem Fahrrad und zu Fuß um im Dialog mit EU-Bürgern die Spaltung Europas zu überwinden.
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Foto: upi
Am 29. Oktober 2017 steigt Jakob Sonnenholzner, eine blaue Schirmmütze über seine blonden Locken gestülpt, in Lissabon aufs Fahrrad. Er hat noch 364 Tage vor sich und rund 13.000 km- quer durch Europa. Heute in einem Jahr will er in der estnischen Hauptstadt Tallinn sein. In den Tagen dazwischen will er mit Menschen, denen er auf der Straße begegnet, sprechen. Über Europa, über Frieden, über die Freundschaft zwischen den Nationen. „Der Europäische Gedanke funktioniert nicht, wenn er auf dem Papier schön aussieht aber in der Realität keine Handlungen nach sich zieht. Für uns ist es deshalb wichtig, diesen Gedanken buchstäblich auf die Straße zu bringen,“ erklärt der junge Student.
Zur selben Zeit ist auch sein Vater Dr. Carsten Witt in Europa unterwegs, allerdings zu Fuß. Von ihm stammt die Idee zu dem Projekt. Die Make Europe Greater Tour ist Teil von GoEurope, eine von Dr. Witt gegründete zivilgesellschaftliche Initiative, die Anfang 2017, nach Ereignissen wie Brexit und dem aufkeimenden Nationalismus aus dem Wunsch heraus entstand, etwas Konkretes für den Erhalt Europas zu tun.  Das Schicksal des europäischen Kontinents liegt Carsten Witt sehr am Herzen, denn es ist eng verbunden mit seiner persönlichen Geschichte. Als deutsches Kriegskind erinnere er sich deutlich an den Fliegeralarm und andere Kriegsgeschehen, meint der gelernte Bauingenieur und Sportpsychologe. Vor allem aber erinnere er sich an seine Jugend, denn zu dieser Zeit begann die europäische Einigung, wirtschaftlicher Aufschwung und politischer und gesellschaftlicher Fortschritt. Auch seine Söhne hat die Begegnung mit dem Krieg dazu bewogen, sich für Europa einzusetzen: „Mein Bruder und ich waren gerade mit schwer schockierenden Bildern und Erlebnissen von der Flüchtlingshilfe in der Türkei und auf der griechischen Insel Chios, auf der 2015/16 ein Großteil der Flüchtenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak ankam, zurückgekommen," berichtet Jakob. "Wir entschieden daher, voll mit einzusteigen und waren sofort für die Tour zu begeistern.“
 
Die Kosten des Projekts wurden komplett aus eignen Mitteln getragen. Die Auftaktveranstaltung fand als Straßendemonstration im Zentrum von Lissabon mit etwa 100 Teilnehmern statt. Ende Oktober trennen sich Vater und Sohn schließlich und beginnen ihre Odyssee quer durch Europa. Auf dem Weg entstehen allerhand Projekte, inspiriert durch Begegnungen, Eindrücke und Erlebnisse. Eines davon ist Make Europe Cleaner Tour, ein Spiel für die sozialen Medien, bei dem Jakob mit seinen Freunden für jeden Like und Kommentar ein Müll-Teil aufsammelt. Mit dieser Initiative folgt er einem Trend, der als „Plocking“ Bekanntheit erlangt. Das aus dem schwedischen „plocka“ (sammeln) und „jogging“ zusammengesetzte Wort bezeichnet den Aktivismus von Joggern oder Spaziergängern, während des Sports, Müll von der Straße zu sammeln. „Diese Idee entstand, weil mir aufgefallen ist, wie viel Müll selbst an den entlegensten Orten zu finden ist“, erzählt Jakob. Er betont, dass Make Europe Greater hauptsächlich auf die Kraft spontaner Begegnungen setzt: „Durch die Spontanität war es uns möglich aus unseren üblichen „Filterblasen“ und sozialen Milieus, in denen wir uns für gewöhnlich bewegen, auszubrechen - das hat uns wahrscheinlich viel Öffentlichkeit und Werbung gekostet, dafür aber auf der anderen Seite zu sehr viel intensiveren und intimeren Momenten mit Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft geführt.“
Die fehlende Öffentlichkeit beklagt auch sein Vater Carsten Witt. Weder Medien, noch Politiker oder EU Institutionen seien zur Unterstützung bereit gewesen. „Ohne Back Office ist es bei spontanem Aufbruch schwierig, Resonanz zu erzeugen. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut,“ so Witt. Selbst erfolgreichen Initiativen wie Pulse of Europe, die eine Million Menschen auf die Straßen gebracht hatten, sei das nur bedingt gelungen, meint Witt. Trotz der Schwierigkeit, Aufmerksamkeit zu generieren, beginnt für ihn die Erfüllung eines lang ersehnten Traums: Von Lissabon nach Tallinn, einmal quer durch Europa wandern. Dabei übernachtet er teilweise in Feuerwehrstationen, Altenheimen und von Bürgermeistern gesponserten Hotels. 
Die InitiativeGoEurope möchte kein Loblied an die europäischen Institutionen singen, deren Fehler die beiden Männer durchaus anerkennen. Der Fokus liegt auf der kulturellen und gesellschaftlichen Verbindung zwischen den Menschen und darauf, die Spaltung der Europas zu überwinden erklärt Jakob: „Menschen, denen wir heutzutage vorwerfen „dumm“ oder „rückwärtsgewandt“ zu sein, stehen von Beginn an in einer Abwehrhaltung gegenüber ihrem Gesprächspartner. Wenn wir es schaffen, diese Abwehrhaltung durch respektvollen Umgang und Verständnis für andere Meinungen aufzulösen, dann gelingt es uns, zu den Menschen durchzudringen.“
Die Initiative GoEurope möchte kein Loblied an die europäischen Institutionen singen, deren Fehler die beiden Männer durchaus anerkennen. Der Fokus liegt auf der kulturellen und gesellschaftlichen Verbindung zwischen den Menschen und darauf, die Spaltung der europäischen Gesellschaft zu überwinden
Und so dialogieren sich Jakob und Dr. Witt Schritt für Schritt durch die europäischen Länder hindurch. Viele Menschen offenbarten zu Beginn der Gespräche eine tiefe Abneigung, manchmal sogar Hass gegenüber der EU, berichtet Jakob, doch nach wenigen Minuten des „sich Auskotzens“ kämen Menschen in einen viel offeneren Dialog über die europäische Idee und kulturellen Austausch. „Der Frieden, die Zusammenarbeit und das würdevolle Leben für jeden Menschen sind Werte, die im Grunde alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, teilen. Das gilt auch für Menschen, die nationalistische und extremistische Meinungen vertreten.“ Für den jungen Studenten ist insbesondere der Unterschied zwischen EU und Nicht-EU Ländern bemerkenswert. Sind in Mitgliedsstaaten der Union institutionelle und strukturelle Probleme Teil der Diskussionen und Grund, das gesamte europäische Projekt in Frage zu stellen, so vermittelt die EU nach außen hin ein positives Bild. Diesen Eindruck gewinnt Jakob auf dem Balkan, wo er in Mazedonien, Albanien und dem Kosovo eine Reihe an Gesprächen mit jungen Leuten führt: „Sobald man sich in Ländern des Balkans bewegt, die allesamt eine noch sehr lebhafte Erinnerung an den Zerfall Jugoslawiens und dessen katastrophale, kriegerische Folgen haben, ändert sich die Sicht auf die EU drastisch: Eine riesige Mehrheit der Bevölkerung ist hier für einen EU-Beitritt.“ Die Erfahrung habe Jakob daran erinnert, wie bevorteilt junge Europäer in Ausbildung und Zukunftschancen seien. „Ich glaube, dass jeder EU-Bürger Privilegien und Rechte besitzt, die Menschen anderswo leider nicht haben und davon träumen, oder dafür kämpfen, diese zu erhalten.“
 
Um den jungen Menschen diese Vorteile näher zu bringen und den interkulturellen Dialog aufrecht zu erhalten, plant GoEurope, die Festung Patarei in Tallinn in eine Europäische Begegnungsstätte umzuwandeln, in der junge Menschen aus aller Welt für Austauschprojekte zusammenkommen. Carsten Witt stieß auf die Festung während eines Urlaubs in Tallinn und erkannte seinen symbolischen Wert für Europa. Das ehemalige Gefängnis ist ein Denkmal für die Opfer des Kommunismus und Nationalsozialismus und wurde von der europäischen Denkmalschutzorganisation Europa Nostraals als eines der zehn wichtigsten erhaltenswerten Denkmäler in Europa eingestuft. Die Gemäuer erzählten von Hass, Verfolgung und Krieg, erklären die Aktivisten von GoEurope. Diese traurige Vergangenheit habe die europäische Einigung hinter sich gelassen. Mit dem Umbau des Patarei wollen Jakob und Carsten diese Symbolik verstärken. „Die Gebäude europäischer Institutionen befinden sich in Frankreich, Belgien, Niederlande und Deutschland“, erklärt Witt, „aus diesem Grund ist der Sitz eines weiteren institutionalisierten Gebäudes in einem relativ neuen und östlichen Land ein wichtiges Signal zur Einbindung.“ Im Moment arbeite er an einer Pilotstufe mit 20 Teilnehmern, nach Fertigstellung der Bauarbeiten soll die Festung 15.000 Teilnehmer pro Jahr beherbergen. 
Zur Generierung von Eigenkapital will er eine Europäische Genossenschaft gründen und soziale Medien professionell einbinden. Die Unterstützung für das Projekt von GoEurope sei aber schwer zu erreichen, meint Dr. Witt. Obwohl die Menschen positiv auf Begegnungen reagierten, sei die Schwelle zum aktiven Mitmachen hoch. Aus diesem Grund unterbricht Witt seine Tour, da er weder Mitwanderer rekrutieren kann, noch Medien, die bereit sind, über GoEurope zu berichten. Auch Jakob hat auf seiner Reise mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Nach knapp 7.000 km muss er aufgrund eines Unfalls seine Tour in der Türkei unterbrechen. Carsten fliegt im November des Folgejahres alleine nach Tallinn zur geplanten Abschlussveranstaltung. Trotz aller Schwierigkeiten, durch Dialog die Spaltung der europäischen Gesellschaft zu überwinden, geben die beiden nicht auf. Denn, wie es so schön heißt: „Viele kleine Menschen, an vielen kleinen Orten können das Gesicht der Welt (oder zumindest Europas) verändern.“