Politik | Gastkommentar

Die Medikalisierung der Politik

Sollen bei der Corona-Epidemie Politiker*innen oder Expert*innen entscheiden?
Arzt mit Spritze
Foto: Pixabay

Gibt die Politik in einem Ausnahmezustand wie bei Naturkatastrophen den Zivilschützern das Zepter der Entscheidung ab, bei einem Krieg an die Generäle oder bei einer Epidemie an die Ärzteschaft? Jein, denn die Politik weiß, dass keine Wissenschaft völlig exakt und neutral ist, dass es immer Interessen gibt, Wertvorstellungen, die Entscheidungen vorgelagert sind. In Wirklichkeit brauchen beide einander. Dennoch gibt es, was die Beziehunge von Politik und Wissenschaft, was das Verhältnis von Politik und Expert*innen betrifft, unterschiedliche Denkschulen.

Würde die Politik angesichts der äußerst prekären Gesundheitssituation in Mailand und Bergamo alleine entscheiden müssen, wäre sie wohl überfordert. Welche sanitären Maßnahmen müssen ergriffen werden, welche medizinischen Geräte sind notwendig, wie sollen sich die Menschen angesichts der Epidemie verhalten? Das dezisionistische Modell betont zwar die völlige Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung durch die Politik, die Wissenschaft soll der Politik aber Entscheidungshilfen zur Verfügung stellen, soll die Politik beraten – aber nicht mitentscheiden. Das obliegt einzig und allein der Politik, ohne Wissenshaft, ohne Expert*innen.

Die unterschiedlichen Stimmen der Medizin im Kampf gegen COVID-19 nehmen der Politik die schwierigen Entscheidungen nicht ab

Gegen dieses Modell kann man natürlich argumentieren. Die Wissenschaft ist nicht neutral und vertritt genauso Interessen wie beispielsweise jede andere Berufsgruppe. In die Beratungstätigekeit seitens der Expert*innen fließen deren Interessen und deren Wertvorstellungen ein, und diese sind sehr oft recht unterschiedlich. In Italien soll die Ansteckungskette durch Segregation der Menschen unterbrochen werden, in Großbritannien vertritt (in der Zwischenzeit vertrat) der Sanitätsberater von Premier Boris Johnson die These der “kollektiven Immunisierung” der Bevölkerung, also der kollektiven Ansteckung mit dem Corona-Virus. Zwei entgegengesetzte Meinungen in der Medizin. Aber der Politik wird dadurch die Entscheidung nicht leichter gemacht.

Es gibt eine entgegengesetzte Position, die von einer grundsätzlichen Vorrangigkeit der Wissenschaft und der Expert*innen ausgeht. Aber wie viele Virologen oder Virologinnen sitzen in der Südtiroler Landesregierung? Dort entscheidet kein Bernd Gänsbacher, Südtirols oberster Immunologe, den der Landeshauptmann angeblich nur ab und zu anruft. Die Frage, wer bei so komplizierten Fragen und so komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen Entscheidungen treffen soll, liegt nach dem technokratischen Modell auf der Hand. Also bleibt der Politik nichts anderes übrig, als sich den Vorgaben der Wissenschaft und der Expert*innen unterzuordnen.

Die Vorrangigkeit der Wissenschaft gegenüber der Politik wäre das Ende der Demokratie

Aber in der Wirklichkeit läuft nicht immer alles so glatt und einhellig ab. Die Expert*innen haben, wie im Fall der kollektiven Ansteckung durch den Virus, unterschiedliche Meinungen. Die unterschiedlichen Stimmen der Medizin im Kampf gegen COVID-19 nehmen der Politik die schwierigen Entscheidungen nicht ab. Ganz abgesehen davon, dass die Vorrangigkeit der Wissenschaft gegenüber der Politik das Ende der Demokratie wäre, weil jeder Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess ausgesetzt wäre, wenn die Wissenschaft (welche?) dekretieren könnte, was richtig und was falsch ist.

Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Jürgen Habermass hat in der Kontroverse der beiden Positionen einen Kompromiss vorgeschlagen. In seinem diskursiven Modell geht er von der Annahme aus, dass sich die Politik teilweise der Wissenschfat, diese sich teilweise der Politik öffnen muss. Die soziale Wirklichkeit zeigt, dass es eine strenge Trennung zwischen Politik und Wissenschaft nicht gibt, eigentlich nicht geben kann. Landeshauptmann Arno Kompatscher entscheidet nicht aus dem Blauen, wenn er noch restriktivere Maßnahmen als auf gesamtstaatlicher Ebene verabschiedet, etwa zu Beginn der Krise mit der Einstellung der Baustellen.

Gerade in diesen Zeiten ist die Politik gefordert, der medizinischen Wissenschaft zur Seite zu stehen, auf diese zu hören, ist die Medizin aufgefordert, der Politik bei ihren Entscheidungen zu Hilfe zu kommen. Es braucht sensible Mediziner und Medizinerinnen und und es braucht sachverständige Politiker und Politikerinnen.

 

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Christoph Wallnöfer Fr., 03.04.2020 - 10:41

Ich stimme Günther Pallaver zu, "dass keine Wissenschaft völlig exakt und neutral ist, dass es immer Interessen gibt, Wertvorstellungen, die Entscheidungen vorgelagert sind."
Um so wichtiger finde ich es, dass
- möglichst viele wissenschaftliche Denkrichtungen bei wichtigen Entscheidungen zumindest angehört und geprüft werden (für Italien und Südtirol habe ich in der aktuellen Krise den Eindruck dass das nicht der Fall war/ist)
- die Wissenschaft finanziell möglichst unabhängig forschen kann (private Geldgeber schaffen unweigerlich wirtschaftliche Abhängigkeit und dem entsprechend wird halt auch Forschung betrieben oder auch nicht betrieben)
- Journalisten den präsentierten wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr viel kritischer gegenüber stehen und grundsätzlich auf mögliche wirtschaftliche oder sonstige Abhängigkeiten prüfen sollten

Fr., 03.04.2020 - 10:41 Permalink