Kultur | Salto Afternoon

Sprache. Grenzen

Tanja Reich hat den Südtirol-Teil einer Ausgabe der renommierten Literaturzeitschrift LICHTUNGEN kuratiert. Ihre Einführung zum Heft als Salto-Gastbeitrag.
lichtungen
Foto: SAAV

„Jedes Dorf ist ein spanisches Dorf, verbirgt hinter dem,
was man von Dörfern weiß oder zu wissen glaubt,
seine besonderen Gesetze, seine eigenen Geheimnisse.“

(Anita Pichler, aus Schwere Schuhe, keine Namen)


Irgendwo dort, wo die Berge sich öffnen, die Täler weiter werden, die Weinreben dichter werden, irgendwo dort hört Südtirol auf, fängt das Trentino an. Es ist ein fließender Übergang. Eine Landschaft, die sich allmählich verändert. Und im Norden ist es genauso, die Berge werden dichter, enger, höher, bis sie einen Kes­sel bilden, eine Grenze zu einem anderen Land: Österreich. Der Süden Tirols also oder der Norden Italiens: Grenzregion, umstrittenes, vereinnahmtes Gebiet, eines dieser vielen Gebiete, wo der „Nationalismus" wieder stärker wird, jetzt, wo Europas Rechte erstarkt, und politisch instrumentalisiert wird, wem es gerade passt. „Wir sind wir“ ist ein Spruch, den sich die Bevölkerungsgruppen, Sprach­gruppen – wo auch immer man eine Grenze ziehen will – wieder gerne an die Fahne heften. Da wird wieder Treue geschworen oder eine Unabhängigkeit ein­gefordert, da wird mit Staatsbürgerschaften geschachert. Dabei ist Südtirol in den letzten hundert (!) Jahren (und auch schon davor) längst ein Schmelztiegel der Sprachen und Kulturen geworden. Da haben sich die Sprachen geöffnet, da hat sich die Art und Weise zu reden, zu essen, zu leben geändert. Es gibt diese Zuschreibungen von außen, Regionalismen und Nationalismen und Patriotismen und all das, und dann gibt es noch Grenzen. Reale und virtuelle und konstruierte.
Manche Grenzen sind klein, sind leicht zu überwinden, manche sind hoch und werden höher, und manchmal bilden sich neue Grenzen, wo vorher keine waren.

Vielleicht ist ja Südtirol dieses spanische Dorf, von dem Anita Pichler schrieb, oder vielleicht besteht Südtirol aus vielen spanischen Dörfern. Was verbirgt sich hinter den Bergen, in den Tälern, welches sind die besonderen Gesetze, die Grenzen erschaffen oder beseitigen?

Diese Schwerpunktausgabe ist der Versuch, mit dem Begriffspaar Sprache und Grenzen zu spielen, Grenzen auszuloten, zu überwinden, neue zu setzen. Ob dies nun Sprachgrenzen, Grenzsprachen oder ganz andere Grenzen sind. Hat Sprache, hat Literatur Grenzen? Hört sie mit dem Wort auf, oder geht sie weiter im Bild, im Ton, im Kopf? Vielleicht ist ja Südtirol dieses spanische Dorf, von dem Anita Pichler schrieb, oder vielleicht besteht Südtirol aus vielen spanischen Dörfern. Was verbirgt sich hinter den Bergen, in den Tälern, welches sind die besonderen Gesetze, die Grenzen erschaffen oder beseitigen?


Die Literatur in Grenzgebieten hat oft mit mangelnder Wahrnehmung zu kämp­fen. Niemand fühlt sich zuständig. Die Zuordnung ist schwierig. AutorInnen aus Südtirol tauchen in der italienischen Literaturgeschichte kaum auf, auch in der deutschen und österreichischen in den seltensten Fällen. Nur wenige schaffen es über die Landesgrenzen hinaus. Den Verlagen ist die Literatur oft zu „fremd", oder es scheitert an den Übersetzungskosten und geringen Verkaufserwartungen. Übersetzungen in die jeweils anderen Sprachen bleiben weiterhin Ausnahmefälle, wären da nicht ambitionierte Südtiroler Verlage wie Raetia und Folio. Umso schöner ist es, dass die LICHTUNGEN die aktuelle Ausgabe der Literatur aus Südtirol widmen und damit auch Übersetzungen möglich gemacht haben. AutorInnen wie Anita Pichler, Sabine Gruber, N.C. Kaser und Oswald Egger haben längst gezeigt, dass die Literatur der Region unbedingt auch jenseits der Landesgrenzen wahrgenommen werden sollte.

Die Auswahl der Texte ist wie immer: subjektiv. Und hat man erst einmal die Texte beisammen, fehlt plötzlich noch so vieles. Dabei zeigt es schlicht, dass eine Schwerpunktausgabe längst nicht die Bandbreite dieser kleinen Grenzregion (die übrigens weder Norden noch Süden ist, vielmehr beides zugleich) zeigen, son­dern nur einen marginalen Ausschnitt abbilden kann. Dennoch ist es ein Versuch, Textgattungen zu variieren, die Sprachvielfalt und Mehrsprachigkeit des Landes zu zeigen und neue AutorInnen vorzustellen, die hiermit erstmals in einer öster­reichischen Literaturzeitschrift publizieren. Eines ist die Literatur aus Südtirol nämlich mit Sicherheit: florierend.


Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Matthias Vieider und Katrin Klotz sowie allen AutorInnen, die sich über die Grenzen gewagt haben, die mir mit ihren Texten neue Räume geöffnet und diese Ausgabe zu dem gemacht haben, was sie ist.


Auswahl und Zusammenstellung: Tanja Raich, Wien
Übersetzungen aus dem Italienischen: Karin Fleischanderl, Wien
Übersetzung aus dem Italienischen und Ladinischen von Alma Vallazza, Frangart bei Bozen, Übersetzung aus dem Albanischen von Ilir Ferra, Wien