Kultur | Salto Weekend

Gedankenexperimente

Das kunstspartenübergreifende Festival "Sprachspiele/Linguaggi in gioco" hat zum 10-jährigen Bestehen eine Publikation mit Texten zahlreicher AutorInnen herausgegeben.
groschenroman
Foto: Sprachspiele

Salto wird in den kommenden Wochen einige ausgewählte Texte aus der Jubiläumspublikation "kein groschenroman / non solo un romanzo" veröffentlichen.
Die Filmemacherin und Autorin Astrid Kofler macht mit ihrem Text  Kein Dreigroschenroman den Anfang.

Kein Dreigroschenroman
Warum bist du hier? Warum bin ich hier?

Als ich glaubte, meinen Weg zu kennen, als ich mit gesenktem Blick den Waldpfad ging, fand ich wiederum einen herabgefallenen Ast, der sich gabelte.
Als ich die 300 Kartone packte, um endlich umzuziehen, fand ich Romane. Abgegriffene und nie zu Ende gelesene. Verlor mich in ihnen. Kam in Zeitnot. Unzählige Wege mussten daraufhin im Funktionieren enden, das keine Umwege zulässt, nur strenge Bahnen. Als ich ins Krankenhaus ging, um einfach da zu sein, ohne zu wissen, wen ich heute träfe, begegnete ich ihm. Seine Finger so lang. Die Knöchel bildschön. Ich werde sie - ist das jetzt dreigroschenmäßig? - nie vergessen.
Ineinander verschränkt, gefasst, würdevoll auf dem weißen Bettlaken über dem aufgeblähten Bauch. Warum bist du hier? Ich wusste keine Antwort. Um ihm nahe zu sein. Um mehr von dem zu verstehen, wo alle Wege enden?
Kümmerte mich er? Der unbekannte Sterbende? Galt es mir? Wollte durch seine Schmerzen ich mir selber nahe kommen? Wo beginnt Mitleiden? Mitgefühl? Er sagte nicht viel. Er hustete. Er flüsterte. Er entschuldigte sich, als müsse man sich in solchen Momenten entschuldigen. Vielleicht waren es auch die Worte, die ihm fehlten. Die Sinnlosigkeit? Angesichts dessen? Vielleicht war es die Sprachlosigkeit oder das Ermangeln der Wörter, die Sprache, die er kaum beherrschte. In den Augen Tränen. Keine Dreigroschengeschichte. Pochende Leidenschaft in fast totem Körper.

Warum verliere ich mich in Literatur?

Acht Jahre hat er als Obdachloser in Südtirol gelebt. Auf einem Boot war er nach Süditalien gekommen, so schlaksig, fast zwei Meter hoch, die Brust voller Zuversicht. So tiefwarmschwarz. Und stirbt mit 30 an Magenkrebs.
Wie oft sich sein Weg gegabelt hatte. Er war es leid, diese Geschichte zu erzählen. Wie er hierherkam. Mit gesenktem Kopf. Warum soll man von Katastrophen sprechen. Will das irgendwer noch hören? Was er am Boot erlitt, was davor, das ist lange schon ein anderes Leben. Und wenn es einer hören will, warum will er es hören? Aus Achtung gegenüber jeglichem Anderssein? Wohin es jetzt gehen sollte, der letzte Weg, das war es, was ihn beschäftigte. Warum kam ich hierher. Wohin führt mein Weg? Auch wer eine Wohnung hat, ist ein Gefangener.
In einem kleinen Koffer die Habseligkeiten, das Handy, Sonnenbrillen, ein Aufladekabel, ein Kopfhörer, ein Buch. Salman Rushdie, L'ultimo sospiro del Moro. Was wird mit dem Koffer werden? Ja, ich habe alle Bücher von ihm gelesen, nickt er. Ich hatte nur auf das Buch geblickt, nicht gefragt. Wir können uns befreien. Was zählt, ist die Liebe. Ein Dreigroschensatz, denke ich enttäuscht. So ein Leben, und dann so ein Dreigroschensatz? Da fehlt nur noch Bucay, wer bin ich, wohin gehe ich, und mit wem. Oder gerade deshalb: Kein Dreigroschensatz.
Was zählt ist die Pflicht deinen Weg zu gehen, aus Liebe zu dir, den Weg, der deiner ist. Fügt er hinzu, ganz bei sich. Er hat mich vergessen. Ich sitze und lebe. Und denke: Wäre es anders, wenn er alt wäre?
Er konnte es nicht gehört haben. Vielleicht hat er es gespürt. Die Liebe hat Bestand. Sie bleibt über den Tod hinaus. Erinnere dich der Liebe, wenn ein Geliebter nicht mehr ist, nicht an seinen Tod. Erinnere dich an die gute Zeit. Warum war er mir nie aufgefallen, wenn ich den Bahnhofspark querte. Warum sah ich immer nur viele, nie den einzelnen?
Habe ich dich gefragt, warum du hier bist? Er ist es, der dies sagt, den Blick weit hinaus gerichtet. In die Ferne, durchs Fenster. Das Zimmer so hell. Ich weiß, dass ihr hierherkommt, damit wir hier nicht alleine sind; damit wir Würde haben, wenigstens jetzt. Das weiß ich, das war deshalb nicht meine Frage. Ich wollte wissen: Warum bist du hier? Er sieht mich nicht an. Stellt er die Frage mir oder sich selbst? Ja warum. Weil ein Baum sich vergabelt. Nicht nur in zwei. In viele. Was haben Zweige mit zwei zu tun? Weil es Wege gibt, Möglichkeiten? Das Geschenk zu leben, deine Aufgabe? Es muss einen Sinn geben, ansonsten, so flüstere ich, hätte es ja keinen Wert.
Warum bist du hier, fragt er die Krankenschwester, die in den Raum tritt, um seine Temperatur zu messen. So sinnlos denke ich, wozu braucht es jetzt noch das Thermometer. Bitte gehen Sie aus dem Zimmer, sagt sie, wir wollen ihn umbetten.
Dieser eine Moment und kein Davor und Danach. Dreigroschengeschichte. Kostet nicht viel, ist ja keine Literatur. Warum muss sie schlecht sein. Einmal nur begegnet, aber geht nicht mehr aus dem Kopf. Wie kitschig, wie viel mehr als das, weil das und nichts anderes. Wünschen wir uns doch ein Leben, in dem das Kleine zählt. Zumindest behaupten wir das alle. Er nannte mir seinen Namen. Ich wiederholte ihn. Ich bemühte mich. Er lachte. Ich habe ihn vergessen. Wenn du eine Centmünze findest, bücke dich, verneige dich, nimm sie auf. Ehre das Kind in dir. Als ich ins Zimmer zurückkehre, sitzt er im Rollstuhl und lacht. Ich möchte eine Zigarette rauchen. Bitte bring mich auf den Balkon. Ich weiß, es ist nicht gesund. Ich gehe mit dir, schenkst du mir eine?
Für dich ist es ungesund. Er haderte nicht. Er legte seine langen dunklen schmalen Finger neben meine, kurz und farblos waren sie. Ja warum bist du hier, frage nun ich. Ja warum bist du hier, hoffentlich fragst auch du mich noch einmal, bitte frage mich noch oft - das denke ich mir. Damit ich dann endlich eine Antwort suchend weiß. Es gibt so viel Glauben - wenn man es vermag, so viel Transzendenz, die man integrieren, so viel Gespräch, das man führen, so viel Weisheit, die man lesen, so viel Hier und Jetzt, das man beschwören könnte und das sich tagtäglich beim ersten Nachdenken über gestern und morgen verflüchtigt.
Was für eine Frage. Stell sie mir, bitte stell sie täglich. Erinnere mich daran, sie mir täglich zu stellen. Als er starb, war nicht nur eine Freiwillige des Hospizes bei ihm. Als der sich gabelnde Ast zu einem einzigen verengte, standen um sein Bett sieben Frauen. Er verschlief es langsam, bis sie da waren, die ihn in den Jahren der Obdachlosigkeit begleitet.
Als Schleife wurde ihm der Rosenkranz um die Finger gelegt, keine Gabelung mehr, kein Anfang und kein Ende. Unendlichkeit im Irgendwo.
Ein einziger Nachmittag. Warum war ich dort. Wohin gehen wir? Gestern - so erzählten die anderen - war er noch mit dem Letzte-Wünsche-Wagen am See gewesen. Schweigend war er im Rollstuhl gesessen. Die eine Hand hielt das Kreuz an der Kette um den Hals. Dio c'e habe er gesagt, sonst nichts. Nur geschaut. Über den See hinaus und übers Meer in seine Heimat nach Afrika. Dio c'e stand einst auf so vielen Straßenschildern quer durch den Stiefel, landstraßenauf- und auto-bahnabwärts. DrogalnOfferta hieß es, mit Gott hatte es wenig zu tun. Worte meinen oft ganz anderes, als sie sagen.
Hat es Sinn zu fragen, warum du hier bist?
Die von dem Hospiz sehen Patienten oft nur einmal. Vor dem Fenster ein Baum, dessen Äste sich vergabeln. Kein Laub darauf, schlummernde Zweige.
Bin ich angekommen? Es ist eine Feststellung, keine Frage. Im Kontext eines Lebens so wichtig. Im Kontext eines Romans so abgedroschen. Sprache endet in diesen großen nassen Augen, in denen das Weiß gelb ist.
Er ist gegangen, sagte am nächsten Tag die Krankenschwester. Dabei lag er noch in dem Bett, das gebügelte Leintuch glattgestrichen, der Bauch noch aufgebläht, die grenzenlose Unendlichkeit zwischen den Fingerknöcheln. Er ist noch da.
Warum finde ich immer und immer wieder Äste, die sich nach vorne gabeln. In die Richtung, in die ich gehe. Warum verliere ich mich in Literatur?