Wirtschaft | Vinschgerwind

Indische Briefpost

Seit 150 Jahren gibt es im Vinschgau ambitionierte Bahnträume. Ein Ausflug in die bewegte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Schienenverbindung in Richtung Schweiz.
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Foto: mecschlanders.com
Die Eisenbahn war im 19. Jahrhundert der Motor für die Industrialisierung Europas. Das Reisen wurde erstmals auch für einfache Leute möglich und erschwinglich. Der Beginn des Fremdenverkehrs ist ohne Eisenbahn nicht denkbar. Daher sind und waren Eisenbahnträume auch Lebensträume, Träume von Fortschritt in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht.
Seit über 150 Jahren gibt es Eisenbahnpläne durch den Vinschgau mit Anschlussprojekten nach Österreich, in die Schweiz und in die Lombardei. Vor allem in den letzten Jahren wurden wieder alte Pläne für neue Bahnanschlüsse vorgebracht. Am 18. September 2015 befürwortete der Südtiroler Landtag einstimmig die Fertigstellung der Reschenbahn von Mals nach Landeck. Der Landeshauptmann unterzeichnete am 27. Juli 2015 mit dem Präsidenten der Lombardei am Stilfserjoch ein Einvernehmungsprotokoll, welches auch eine Machbarkeitsstudie für eine Eisenbahnverbindung ins Veltlintal vorsieht.
 
Insgesamt 115 Seiten umfasst der Bericht einer INTERREG-Studie aus dem Jahre 2006 zum Thema: „Bahnverbindung Unterengadin – Obervinschgau“. Untersucht werden Bahnverbindungen zwischen dem Obervinschgau und dem Unterengadin mit Anschluss der Vinschger Bahn an die Rhätische Bahn. Es gibt nach den Straßen- und Autobahnbauplänen der letzten Jahrzehnte wieder verstärkt Bemühungen, Bahnlinien zu bauen und auf die Bahn als Verkehrsmittel umzusteigen. In Südtirol hat diese Verkehrswende am 05.05.2005 mit der Eröffnung der neuen Vinschgerbahn begonnen.
 

Englische Ostindienpost & Engadin–Orientbahn

 
Die ersten Eisenbahnpläne durch unser Tal entstanden nicht im Vinschgau, sondern in Venedig, Paris und in der Schweiz. Der Vinschgau war nicht das Ziel, sondern nur als kürzeste Verbindungsstrecke interessant.
Es war der venezianische Bankier Giorgio Giacomo Levi, welcher 1845 dem österreichischen Kaiser den Bau einer Eisenbahn von Verona nach Bregenz durch englische Kapitalisten in Aussicht stellte. Die indische Briefpost sollte auf diesem Weg zwischen Venedig und London auf 66 Stunden verkürzt werden.
Wegen technischer Probleme und dem drohenden Einfluss ausländischer Unternehmungen wurde das Projekt von Wien abgelehnt. Im Jahre 1867 beschäftigte sich der geografische Kongress in Paris mit der Frage einer Bahnverbindung durch den Vinschgau.
Eine Bahnlinie von Paris nach Konstantinopel (heute Istanbul), der spätere Orient-Express, der seit 1883 über Wien und Budapest führte, sollte ursprünglich durch unser Tal führen. Im Jahre 1869 befasste sich der Graubündner Nationalrat von Planta mit der Idee einer Bahnverbindung zwischen den beiden Fremdenverkehrsorten Meran und Chur. Den Bau einer „Engadin-Orientbahn“ schlug der Schweizer Adolf Guyer-Zeller vor. Diese Bahn sollte von der Zentralschweiz über Chur und Zernez ins Münstertal und weiter über Meran nach Bozen führen. Das Ziel dieser Weltbahn war Triest, Konstantinopel und Bombay in Indien.
 

Reschenscheideckbahn

 
Nach rund zweijähriger Bauzeit konnte am 1. Juli 1906 die Bahnlinie Meran – Mals eröffnet werden. Im Jahr darauf begann man mit der Ausarbeitung der Detailprojekte der Bahnlinie Mals – Landeck nach den Entwürfen von Constantin Chabert, welcher bereits die Bahnlinie Meran – Mals geplant hatte. Die Herausforderungen waren sehr groß, galt es doch die Steigung bis zum Reschenpass auf 1504 m und die enge Talschlucht bis Pfunds zu überwinden.
 
Mehrere Schleifen, Tunnels und Kunstbauten waren geplant. So wäre Matsch, Taufers, Burgeis und Ulten mit einem Bahnhof bedient worden. Auch zwei Anschlussbahnen zur Rhätischen Bahn waren geplant. 1917 fiel die Entscheidung für den Bau der Reschenscheideckbahn, wie sie nun genannt wurde.
Am 1. April 1918 begannen die Bauarbeiten mit 5.000 Arbeitskräften, davon 250 Kriegsgefangenen, aber am 3. November 1918 wurden die Arbeiten bereits eingestellt. Damit war nach dem Kriegsende die Realisierung einer Bahnverbindung nach Landeck zu Ende. In dieser Zeit und auch später gab es aber immer wieder neue Bahnprojekte mit neuen Varianten.
Es gab mehrere Bahnprojekte mit großen Tunnelvarianten, um den süddeutschen Raum mit dem Mailänder Raum zu verbinden. Karl Gollwitzer aus Augsburg veröffentlichte 1905 das Projekt einer „Fern – Ortlerbahn“. Von Augsburg über den Fernpass und Reschenpass sollte ein 15 km langer Tunnel unter dem Ortler nach Bormio führen. Als Variante zu diesem Projekt plante er bereits eine Zugverbindung von Mals nach St. Maria im Münstertal und von dort einen 15 km langen Tunnel nach Bormio. Dr. Moser veröffentlichte 1909 ein weiteres Fern-Ortler-Projekt mit einem 10 km langen Ortlertunnel.
 
Ing. Helmuth Thurner und Ing. C. Caviranghi legten 1938 ein neues Projekt für eine Fern-Ortlerbahn vor. Auf der Trasse zwischen Füssen und Tirano waren viele Tunnels geplant, unter anderem ein 18,35 km langer Tunnel unter dem Stilfserjoch. 1955 legte Prof. Aimone Jelmoni aus Mailand im Auftrag der Handels- und Gewerbekammer von Genua und Bergamo ein Bahnprojekt von Bergamo nach München vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bahn vernachlässigt, es begann der Bau von Straßen und Autobahnen. Eines der letzten Bahnprojekte war die Zugverbindung Reutte-Bergamo des Innsbrucker Ing. Peter Stumreich aus dem Jahre 1986. Bisher wurde keiner dieser Pläne realisiert.
 

Bahnträume oder realisierbare 
Projekte?

 
Wie wird die Landesregierung den Landtagsbeschluss vom 18. September umsetzen? Und wie realistisch ist eine Bahnverbindung ins Veltlintal?
Seit Jahren möchten einflussreiche Personen aus der Lombardei eine Straßenverbindung unter dem Ortler. Für eine Bahn gibt es in Bormio keinen Anschluss. Mit den Geldern der Grenzgemeinden soll eine Machbarkeitsstudie erstellt werden. Studien für die Schublade?
Ein Weiterbau der Vinschgerbahn über den Reschenpass nach Landeck kostet sehr, sehr viel Geld, genauso wie eine Bahnverbindung ins Veltlintal. Kostengünstiger und realistischer ist eine Verbindung in die Schweiz.
Die Variante A3 von Mals nach Scoul (und realistisch ist nur diese Variante) mit Anschluss an die Rhätische Bahn, würde nach den vorliegenden Plänen von 2006 rund 930 Million Schweizer Franken kosten. Geplante Bauzeit: 8,5 Jahre. In 20 Minuten Fahrzeit würde man die 27 km mit zwei Tunnels von 3,5 und 19,5 km Länge durchfahren. Mit dem 1999 eröffneten Vereinatunnel (19 km Länge) wäre die Verbindung in die Zentralschweiz und nach Zürich nicht mehr weit. Im direkten Einzugsgebiet dieser Bahnverbindung leben heute ca. 310.000 Einwohner, im großen Einzugsbereich spricht die Studie von 3 Millionen Einwohnern (Großraum Zürich: 2 Millionen und Großraum Bozen, Trient, Gardasee: 1 Million).
In der Studie ist die Rede von einem „Engadin-Venedig Express“. In den letzten Jahren hat sich nichts getan. Die Schweiz hat das Projekt nicht als vordringlich eingestuft. Landeshauptmann Kompatscher zeigt großes Interesse an dieser und an anderen Bahnverbindungen. Im Rätischen Dreieck tut sich nicht viel. Eine neue Bahnlinie kann der Motor für eine neue wirtschaftlich-touristische Entwicklung werden.
Oder es bleiben Bahnträume.  
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Benno Kusstatscher Sa., 04.02.2017 - 11:16

Wie kommt man zur Aussage, dass die Varianten 3A und 2 unrealistisch wären? Eine Erschließung von Müstair ist als gesellschaftspolitischer Mehrwert für die Akzeptanz eines solchen Projektes nicht zu unterschätzen.

Sa., 04.02.2017 - 11:16 Permalink