Gesellschaft | Migrations-Tagung

Ein „italienisches“ Phänomen

Der Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch über die Geschichte der Südtiroler Migration und der Organisationen von und für Migrantinnen und Migranten in Südtirol.
Imigration
Foto: upi
Südtirol war bis in die Mitte der 1970er-Jahre ein Auswanderungsland und wurde erst zu Beginn der 1990er zum Einwanderungsgebiet. Bis 1992 hatte das Land einen negativen Wanderungssaldo. Die erste Zuwanderung erfolgte hauptsächlich in die Städte Bozen und Meran mit ihrer großen italienischen Einwohnerschaft, weshalb das Thema Migration in der deutschsprachigen Öffentlichkeit als etwas „Italienisches“ wahrgenommen wurde. Ins Bewusstsein der deutschen Sprachgruppe tritt die Thematik vermehrt in den ausgehenden 1980er-Jahren, als „Marocchini“, vorwiegend aus dem Maghreb stammende Migranten, in die Täler ziehen und dort als Erntehelfer oder Wanderhändler, so genannte „Teppichhändler“, arbeiten. Dass die zahlenmäßig weitaus größte Zuwanderungsgruppe jene aus Deutschland und Österreich ist, fällt im Tourismusland Südtirol, dessen wichtigste Zielgruppe bis heute Deutsche sind, weniger auf.
Ins Bewusstsein der deutschen Sprachgruppe tritt die Thematik vermehrt in den ausgehenden 1980er-Jahren, als „Marocchini“, vorwiegend aus dem Maghreb stammende Migranten, in die Täler ziehen und dort als Erntehelfer oder Wanderhändler, so genannte „Teppichhändler“, arbeiten.
Aufgrund der im mitteleuropäischen Vergleich verspätet einsetzenden Zuwanderung findet sich in Südtirol auch hinsichtlich der Migrationsnetzwerke erst ab Anfang der 2000er-Jahre ein erster Anstieg von Vereinigungen. Zwar reichen die ältesten Organisationen zurück bis in die 1980er-Jahre, doch meistens handelt es sich dabei um Initiativen aus der Mehrheitsgesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist das Haus der Solidarität in Brixen, dessen Wurzeln über die OeW zurück in die Mitte der 1980er-Jahre reichen (damals noch unter dem Namen „Dritte Welt-Gruppe“), ein weiteres der Ende Dezember 1988 von zwölf Freiwilligen in Bozen gegründete interethnische Verein Nelson Mandela.
 

Für Migranten

 
Grundsätzlich lassen sich Migrationsnetzwerke in Vereinigungen für und von Migrantinnen und Migranten einteilen. Erstere sind Organisationen aus der Mehrheitsgesellschaft, wie z. B. Caritas, Volontarius u. a., letztere sind von Eingewanderten gegründete Selbstorganisationen. Allerdings ist diese Einteilung keineswegs eindeutig, da einerseits z. B. bei der Caritas zunehmend auch Migrantinnen und Migranten tätig sind und andererseits zumindest die interkulturellen Migrantennetzwerke häufig auch einheimische Mitglieder aufweisen. Ethnonationale Vereinigungen (wie z. B. die senegalesische Organisation Giant-Bi) sind hingegen leicht als Organisation von Zugewanderten klassifizierbar. In der Regel bestehen diese Vereinigungen ausschließlich aus Einwanderern aus demselben Herkunftsland oder derselben Ethnie (z. B. Kurdinnen und Kurden).
Auch religiös orientierte Vereine (wie die Comunità Rumena oder die pakistanischen Vereinigungen Minhaj und Pace Bolzano) sind meistens Zuwandererorganisationen einer bestimmten Nation, auch wenn sie sich theoretisch an jeden Gläubigen ihres Bekenntnisses richten. Anders ist es bei Frauenvereinigungen, in denen häufig sowohl alte als auch neue Südtirolerinnen tätig sind (z. B. Donne Nissà Frauen). Und interkulturell tätige Organisationen richten sich bereits in ihrer Selbstdefinition expressis verbis an Menschen aus verschiedenen Kulturen, Nationalitäten etc. und damit auch an Einwanderer wie Einheimische zugleich.

Bei den Vereinigungen für Migrantinnen und Migranten dominieren etablierte Großorganisationen wie Caritas oder Volontarius, ergänzt um das Freiwilligenbündnis binario 1 / Bahngleis 1. All diese Vereinigungen sind international und interkulturell konzipiert, richten sich also an Eingewanderte generell, ohne ethnische, nationale oder etwa religiöse Unterscheidung. Sie leisten auch Integrationsarbeit; der Hauptteil ihrer Tätigkeit richtet sich aber weniger an Betroffene von Arbeitsmigration, sondern betrifft Soforthilfe für Notleidende.

 

Von Migranten

 

Hinsichtlich der von Migrantinnen und Migranten gegründeten Vereine sind hingegen folgende drei Dinge besonders auffällig:
  1. die Kurzlebigkeit der Organisationen: Viele Vereinigungen wurden nach einer anfänglichen Phase des Enthusiasmus und Idealismus bereits nach wenigen Jahren wieder aufgelöst.
  2. die Überschneidung von älteren, oft aufgelösten Organisationen mit Neugründungen durch einzelne Personen und
  3. die Kleinteiligkeit der Südtiroler Migrationsnetzwerke: Es existieren um die 80 Vereinigungen, deren Mitgliederzahl zwischen zehn und über 200 schwankt. Während eine interkulturelle Initiative oder ein Frauenverein meist nur von wenigen Beteiligten getragen wird, verfügen religiöse Vereinigungen wie die pakistanisch-muslimische Pace Bolzano über wesentlich mehr Mitglieder, weil an der Einhaltung und Feier religiöser Bräuche meist die ganze Familie beteiligt ist. Minhaj, eine in über hundert Ländern weltweit tätige und auch in Südtirol ansässige muslimische Organisation mit Hauptsitz in Lahore (Pakistan) ist die einzige Vereinigung, die nicht in das Muster der Kleinvereine passt.
     

Fazit

 

Neben der Unterscheidung in Vereinigungen von und für Migrantinnen und Migranten lassen sich die Migrationsnetzwerke in ethnonationale, interkulturelle, religiöse sowie Frauenorganisationen einteilen. Letztere, aber auch interethnische Vereinigungen können von den ethnonationalen und religiösen Organisationen u. a. auch dadurch unterschieden werden, dass in ihnen häufig Mitglieder der Mehrheits- wie der Minderheitsgesellschaft aktiv sind.
 

Folgende sechs Merkmale lassen sich feststellen:
  1. Die allermeisten Migrantenvereinigungen agieren in einem relativ kleinen Raum, der sich auf die Hauptstadt Bozen (mehr als 60 Prozent) sowie auf die Städte Brixen (17 Prozent) und Meran (10 Prozent) konzentriert.
  2.  Rund ein Drittel stellen ethnonational ausgerichtete Organisationen, d. h. es handelt sich um Vereinigungen, die sich ausschließlich an Menschen aus demselben Herkunftsland wenden (z. B. die albanische Vereinigung Arbëria).
  3. Gut 30 Prozent sind interkulturelle Vereinigungen, die sich an Zugewanderte aus aller Welt richten und sich in erster Linie als Organisation definieren, deren Ziel eine bessere Unterstützung von Eingewanderten einerseits und eine gelungene Integration in die Arbeits- und Lebenswelt Südtirols andererseits ist.
  4. Zirka 20 Prozent der Migrationsnetzwerke definieren sich über die Religion, wie z. B. das Centro Islamico in Bozen oder die Comunitá Rumena.
  5. Ungefähr 14 Prozent der Organisationen von Eingewanderten sind Frauenvereinigungen (wie z. B. Marieta in Vintl).
  6.  Einwanderung ist zumindest bei den Migrationsnetzwerken immer noch ein „italienisches“ Phänomen – mehr als vier Fünftel der Vereinigungen bedienen sich der Referenzsprache Italienisch und weniger als 20 Prozent der deutschen.
Die Hauptbereiche der Tätigkeit von Migrationsnetzwerken liegen in der Hilfe bei Wohnungs- und Arbeitssuche, beim Umgang mit Behörden, in der Organisation von Sprachkursen (Italienisch und Deutsch sowie bei ethnonationalen Vereinen in der Muttersprache), in der Pflege religiös-kultureller Riten, in der Integrationsarbeit und bei Frauenvereinigungen in der Verbesserung der Chancen von Frauen in Gesellschaft und Arbeitswelt.
Von der Südtiroler Öffentlichkeit bisher noch wenig beachtet, erfüllen Migrantenvereinigungen eine Reihe wichtiger Funktionen, die nicht nur für Einwanderer, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft von großer Bedeutung hinsichtlich Integration und Miteinander sind. Diese Arbeit verdient öffentliche Unterstützung, und sie verdient öffentliche Beachtung. Dass daneben eine kleine Minderheit v. a. religiös motivierter Organisationen aber auch ein dem Fortschritt, der Freiheit und Gleichberechtigung mitunter abträgliches Gesellschaftsbild kultiviert, sollte nicht übersehen werden. Grundsätzlich gilt jedoch das Verdikt des aus Guinea Bissau stammenden Brixner Sozialpsychologen Fernando Biague: „Migrantenvereinigungen sind für die Integration in die Südtiroler Gesellschaft sehr, sehr wichtig.“
 

Lesen Sie morgen: Sarah Oberbichler: „Zwischen Nutzen und Bedrohung. 25 Jahre Migrationsdiskurs in den Tageszeitungen Dolomiten und Alto Adige.

 

Kurt Gritsch ist promovierter Historiker und Konfliktforscher. Forschungsschwerpunkte sind osteuropäische Zeitgeschichte, Konfliktforschung, Regional- und Migrationsgeschichte. Neben Projektmitarbeit am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck zum Thema „(Arbeits-)Migration in Südtirol seit 1972“ lehrt er Geschichte und Deutsch an der Academia Engiadina (CH).