Politik | Ungarn

Der legale Weg in die Diktatur

Wie Viktor Orbán und seine Fidesz sukzessive den Rechtsstaat in Ungarn abgebaut haben und was die EU dagegen unternehmen kann
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Orban Graffiti
Foto: Tibor Janosi Mozes

Die Mühlen der Demokratie mahlen langsam. Das Corona-Virus verbreitet sich rasant. Vor diesem Spannungsfeld ist es nur logisch und notwendig, dass Rechtsstaaten jene außerordentlichen Instrumente einsetzen, die ihnen aufgrund ihrer Verfassung zustehen, um angemessen auf die Krise reagieren zu können.

Was schon die alten Römer*innen in diesem Zusammenhang verstanden hatten, mag heute zwar in unseren demokratieverwöhnten Ohren banal klingen, hat aber keineswegs an Substanz verloren: Die Gültigkeit der außerordentlichen Maßnahmen sowie die Möglichkeit ihrer Ergreifung müssen – unter anderem! – zeitlich begrenzt sein

Der Coup

Über diese Grundregel haben sich Viktor Orbán und seine Partei Fidesz in Ungarn nun hinweggesetzt: Das von der Fidesz mit einer Zweidrittelmehrheit dominierte Parlament hat am Montag, dem 30. März 2020, ein Gesetz verabschiedet, welches der Regierung ermöglicht, den bereits ausgerufenen Corona-Notstand ohne Zustimmung des Parlaments zu verlängern. 

Während des Notstands kann die Regierung bestimmte Gesetze außer Kraft setzen, das Parlament zwangsbeurlauben und sonstige außerordentliche Maßnahmen zur Eindämmung der Krise ergreifen. Ein Schachzug mit dem das Parlament sich selbst ausgehebelt und den letzten Rest an Gewaltenteilung im Land zerfetzt hat. 

Kritische Journalist*innen werden hingegen mit dem neuen Straftatbestand der „Verbreitung von Falschmeldungen“ mundtot(er) gemacht, der mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet wird. In einer Zeit von Hochrechnungen und einer fehlenden, soliden Datenlage zur Pandemie ein Damoklesschwert.

Das Perfide an der Sache: Gegner und Kritiker des Gesetzes werden als Feinde der ungarischen Bevölkerung dargestellt. Es gehe schließlich und einzig darum, ungarische Menschenleben schützen.

Jene vom Montag sind allerdings nur die letzten Ereignisse in einem schleichenden Prozess der Entdemokratisierung, den Orbán seit 2010 vorantreibt. Das Ziel hat er selbst am 26. Juli 2014 in einer Rede formuliert: die Erbauung eines illiberalen Staates in Ungarn. Nachfolgend drei wichtige Aspekte dieser Entwicklung.

Die verpasste Verfassung

Der Abbau bzw. der Fall des Eisernen Vorhangs begann physisch im Mai bzw. symbolisch mit der Öffnung eines Grenzzauns im Juni 1989 in Ungarn. Im Oktober desselben Jahres wurde die demokratische und parlamentarische Republik Ungarn ausgerufen, freie Neuwahlen fanden Mitte 1990 statt. 

Im Zuge dieses Paradigmenwechsels wurde allerdings die von der Bevölkerung so verhasste kommunistische Verfassung von 1959, welche die rechtliche Grundlage für die kommunistische Diktatur darstellte, nicht abgeschafft. 

Diese wurde lediglich stark novelliert, um die ungarische Staatsstruktur zumindest dem Muster westlicher Demokratien anzupassen. Um eine neue Verfassung ausarbeiten zu können, hätten die damaligen Regierungsparteien eine Volksabstimmung abhalten müssen, was diese aber nicht wollten bzw. konnten, schließlich befanden sich noch sowjetische Soldaten in Ungarn.

Dieser Umstand sollte Orbán und seiner Fidesz 2010 in die Hände spielen, als diese bei den Parlamentswahlen eine Zweidrittelmehrheit erringen konnten. Orbán skandierte, es sei an der Zeit, eine neue Verfassung zu verabschieden, und konnte sich als Held darstellen, der endlich die verhasste, kommunistische Verfassung beseitigte. Das neue Grundgesetz Ungarns trat Anfang 2012 in Kraft.

Dieses war – schon damals – geprägt vom autoritären Anspruch und dem Ein-Parteien Gedanken der Fidesz: So wurden die Befugnisse des Verfassungsgerichts, die Unabhängigkeit des Präsidenten der Republik, die Kompetenzen der Lokalregierungen und die Arbeit der öffentlich-rechtlichen Medien den Vorstellungen der Fidesz angepasst. Kritiker*innen sprachen in diesem Zusammenhang davon, das politische Programm der Fidesz sei zur Verfassung geworden.

Orbáns Schulfreund und die Medien

Lörinc Mészáros war Viktor Orbáns Schulfreund. Er hatte früher einen Gasinstallationsbetrieb und ging 2007 damit bankrott. Er ist heute der reichste Mann Ungarns. Er steckt hinter zahlreichen Unternehmen. Diese Unternehmen gewinnen zahlreiche Ausschreibungen und sind Begünstigte zahlreicher EU-Projekte.

Lörinc Mészáros steckt auch hinter dem wichtigsten Medienunternehmen Ungarns, der Mediaworks. Zur Mediaworks zählen zahlreiche Regionalzeitungen mit beträchtlicher politischer Bedeutung. Die regierungskritische Zeitung Népszabadság zählt hingegen seit dem 8. Oktober 2016 nicht mehr zum Portfolio der Mediaworks. Sie wurde kurzerhand eingestellt.

Die staatliche Kommunikationsbehörde NMHH hätte zwar umfassende Kontrollkompetenzen über sämtliche in Ungarn verfügbaren Medien, aber die Vorstandsmitglieder der NMHH werden direkt von der Fidesz ohne parlamentarische Kontrolle ernannt.

Die magische Zweidrittelmehrheit

Verfassungsänderungen in Ungarn benötigen einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Fidesz hat diese bei den Parlamentswahlen 2010, 2014 und 2018 jedes Mal errungen. Sie verlor sie nur in der zweiten dieser Legislaturperioden 2015 im Nachhinein aufgrund einer Nachwahl.

Wichtige Faktoren der beiden Erdrutschsiege von 2014 und 2018 waren das neue Wahlgesetz von 2011 und die Änderung der Wahlbezirke. Beide begünstigten die Fidesz. Zum Vergleich: Im alten System hätte die Fidesz 2018 die absolute Mehrheit erreicht.

Diese Wahlsiege verdankt Orbán auch einer zerstrittenen Opposition und geschickter Propaganda in den Fidesz-treuen Medien, um gegen vermeintliche Feinde von außen zu hetzen, wie etwa gegen die Europäische Union oder gegen den jüdischen Milliardär ungarischer Herkunft George Soros. Die Hetze gegen Soros und die von ihm in Budapest gegründete Central European University endete mit deren Umzug nach Wien.

Ihren Höhepunkt erreichte Orbáns Hasspropaganda 2015 mit der Migrationskrise, als Milliarden der Landeswährung Forint in nationalistische, rassistische und antisemitische Kampagnen investiert wurden. So wurde der ungarischen Bevölkerung weisgemacht, das ungarische Volk müsse vor den grässlichen Migranten geschützt und der Zutritt zum Land unterbunden werden. Außerdem würden von Soros finanzierte Nichtregierungsorganisationen und die Opposition unzählige Migranten nach Ungarn holen wollen. 

Die Hasskampagne mündete schließlich in der Verfassungsänderung von 2018, welche vorsieht, dass es verboten ist, eine "fremde Bevölkerung" in Ungarn anzusiedeln.

Was kann die Europäische Union tun?

Ohne näher auf die politischen Zwickmühlen einzugehen, in welcher sich die Europäische Volkspartei (EVP), die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und die EU an sich gerade befinden, stünde der EU ein breites Instrumentarium zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten zur Verfügung. 

Das bekannteste Instrument ist wohl das Verfahren gemäß Artikel 7 EUV (Vertrag über die Europäische Union), welches in den Medien – warum auch immer – als „nukleare Option“ bezeichnet wird. Dieses basiert allerdings im Grunde genommen auf einem „name-and-shame“ Ansatz, da etwaige Sanktionen nur einstimmig beschlossen werden können. Orbán ist davon wenig beeindruckt, hat er doch eine gegenseitige Rückendeckung mit seinem polnischem Buddy Jarosław Kaczyński vereinbart.

Einen schärferen Mechanismus würden die Artikel 258-260 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) bieten, welche das sog. Vertragsverletzungsverfahren regeln. Ein solches kann dabei nicht nur von der Europäischen Kommission als Hüterin der Verträge, sondern auch von den einzelnen Mitgliedstaaten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erhoben werden. Ein Vertragsverletzungsverfahren kann u.a. in der Verhängung von empfindlichen Zwangsgeldern münden.

Es stehen auch noch weitere, meist diplomatisch-politische Instrumente zur Verfügung. Ein Grundproblem aller Mechanismen ist aber dasselbe wie schon eingangs erwähnt: auch die Mühlen der EU und des EuGH mahlen langsam.

So hat etwa der EuGH erst gestern, am 2. April 2020, einer Vertragsverletzungsklage der Kommission stattgegeben und festgestellt, dass Polen, Tschechien und Ungarn „gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen haben“, da sie gegen den Beschluss des Rats von 2015 zur Umverteilung von internationalen Schutz beantragenden Personen aus Griechenland und Italien verstoßen hatten. Die Kommission könnte nun weitermachen und der EuGH gegebenenfalls finanzielle Sanktionen verhängen, aber würde diese potentielle, zukünftige Bedrohung jetzt irgendetwas am Kurs der drei Visegrád-Staaten bzw. von Orbán ändern?

Stichwort: Konditionalität

Um die langfristige Zukunft der Europäischen Union zu sichern, muss die EU gerade bei der Rechtsstaatlichkeit konsequent und zeitnah dort ansetzen können, wo es wirklich wehtut: an der Brieftasche der Mitgliedstaaten.

Der ursprüngliche Vorschlag – oh, welche Ironie – kam vom ehemaligen Haushaltskommissar Günther Oettinger, der nun als Berater für Orbán tätig ist: Die Auszahlung von Fördergeldern aus dem Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-27 der EU solle an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft werden. Ausgezahlte Fördergelder gegebenenfalls rückgefordert bzw. entzogen werden. Dieser Mechanismus wird im Fachjargon als Konditionalität bezeichnet.

Der neue EU-Ratspräsident Charles Michel will nun aber in solchen Fällen die Beweislast oder zumindest die Anklage den Mitgliedstaaten zuschieben. Es ist nicht klar, wer über das Vorliegen der Rechtsstaatlichkeit schlussendlich entscheiden soll. Vermutlich und hoffentlich der EuGH.

Ein Appell an die Staats- und Regierungschef*innen

Lassen wir den EuGH entscheiden, aber nicht auf Grundlage eines endlosen Hin und Her von Stellungnahmen der Mitgliedstaaten, sondern auf Grundlage einer soliden, europäischen Ermittlungsarbeit

Geben wir OLAF und EPPO doch tiefgreifende und durchschlagende Kompetenzen. Und nein, das sind nicht die Schneemänner aus Frozen, sondern das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung und die Europäische Staatsanwaltschaft, welche demnächst ihre Arbeit unter der Leitung der rumänischen Korruptionsjägerin Laura Codruţa Kövesi als erste Europäische Generalstaatsanwältin aufnehmen soll. 

Kurzgesagt: Keine Auszahlung, Entzug und Rückforderungen auf Grundlage europäischer Ermittlungen.

Kürzergesagt: Keine Rechtsstaatlichkeit? Kein Geld!

Konditionalität eben.