Kultur | Wein

Die Natur enscheidet über die Dinge, nicht der Mensch

Napoleon III. fand, man sollte die besten Bordeaux-Weine bestimmen. Dann kam Paul Pontallier. Gentelmen-Lächeln und feine Manieren, ein Meister seines Werkes.
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Es war das Jahr 1855, als Napoleon III. fand, dass der Moment gekommen sei, die besten Bordeaux-Weine zu bestimmen. Es waren Weine, die auch aus heutiger Sicht zu den besten Tropfen der Welt zählen.

Der Margaux ist der weiblichste Bordeaux überhaupt. Es ist wie eine Beethoven-Symphonie, wie eine Abfahrt durch unberührten Tiefschnee. Margaux ist wie eine wunderschöne Sirene, die in der Sonne badet und zu singen beginnt. Schon in seiner Jugend gut, aber mit ein paar Jahren auf dem Buckel schlichtweg außergewöhnlich. Wo diese (hauptsächlich) Cabernet-Sauvignon-, Cabernet-Franc- und Merlot-Trauben wachsen, bestimmen zwei ausgedehnte Wasserflächen das Klima: Der Atlantik auf der einen Seite und die Gironde auf der anderen. Sie regulieren die Wärme und schaffen die Bedingungen für ein ideales Mikroklima. Und auch wenn es richtig ist, dass ein guter Wein im Weinberg entsteht und nicht im Keller: Ohne dass sich jemand von Format um ihn kümmert, ist ein großer Wein einfach nicht möglich.

Seit jeher assoziiere ich Margaux mit dem Gentleman-Lächeln von Paul Pontallier, dem Direktor von Chateau Margaux. Ein Herr alter Schule mit feinen Manieren, ganz wie sein Wein. Als ich ihn das erste Mal in Bordeaux traf, lernte ich von ihm eine große Weisheit: „Irgendwann habe ich verstanden, das die Natur über die Dinge entscheidet, und nicht der Mensch.“ Die Stunden mit Pontallier zwischen den Fässern eines Weinkellers, der in der Weinwelt Symbolcharakter besitzt, waren eine Rundum-Erfahrung; sie formten meinen Trinkgeschmack für die kommenden Jahre. Vom Chateau Margaux erinnere ich mich an die lange Allee, das große Tor und das mächtige und elegante Gebäude, das mir zuzuflüstern schien: „Wie wagst du es, dich dem Mythos zu nähern, ganz ohne Wissen und Kontakte?“

Eines Tages, nachdem ich Stunden damit verbracht hatte, in diesem Weinkeller, der mehr wie ein Wohnzimmer wirkte als ein Ort, in dem Wein produziert wurde, Wannen zu säubern und Böden zu schrubben, sagte mir Pontallier: „Wenn die Bedingungen stimmen, ist es relativ einfach, einige Flaschen sehr guten Weins herzustellen. Ein bisschen schwieriger ist es, 400.000 sehr gute Flaschen zu produzieren,  so wie wir das hier machen. Bei euch in Südtirol wird auch Wein gekeltert, oder?“

Diese kleine Provokation ließ ich natürlich nicht ungenutzt und lud Pontallier zu uns in die Dolomiten ein, und zwar zu einer wahrlich unvergesslichen Degustation: einer Vertikaldegustation des berühmtesten und größten Weines der Welt, der auch einer der teuersten ist. Im Unterschied zu einer horizontalen Degustation trinkt man bei einer vertikalen verschiedene Jahrgänge eines einziges Weins.  (Bei einer horizontalen Degustation dagegen werden verschiedene Weine desselben Jahrgangs entkorkt).

Ein Chateau Margaux ist kein Wein, den man sich oft erlauben kann, das versteht sich von selbst, es wäre auch nicht besonders intelligent. Wer Dinge und Situationen dagegen richtig auskosten will, lässt sie zu etwas etwas Kostbarem, Rarem, Besonderem werden. Aus diesem Grund ist eine vertikale Degustation dieses unvergleichlichen Weins eine Erfahrung, die man nicht so schnell vergisst. Und als wir schließlich bei einem Chateau Margeau aus dem Jahr 1982 angelangt waren, schien es mir, als hätten wir den höchsten, schönsten und makellosesten Gipfel der Welt erreicht.

Unauslöschlich tief hat sich diese Erinnerung bei mir eingeprägt: Diese Aromen von Leder und Asche, von gerösteten Haselnüssen und Jamaica-Kaffee! Ich schmeckte Veilchen, dann ein Sträußchen Wiesenblumen mit Bergmelisse. Und dann herrliche Waldfrüchte: Brombeeren, schwarze Johannisbeere. Es war der Duft einer großartigen, herrlichen Welt, die ich nie verlieren wollte. Es war einer der größten Weine, den ich je trinken durfte. Ein Sirenengesang, wie gesagt, und die Sirene taucht auch jetzt wieder auf. Mit ihrem unwiderstehlichen, herzerreißenden Gesang stimmt sie ein Halleluja auf Monsieur Pontallier an, der uns im Alter von sechzig Jahren für immer verlassen hat. Kurz vor den Primeur Tastings der Bordeaux und vor der großen Weinmesse Vinitaly. Möge seine Seele in Frieden ruhen.