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Wolf und Schafe

Manch einer wird sich nun erwarten, dass hier von Wölfen und Schafen geschrieben steht, von Wolfsrudeln und Einzelgängern - von Problemwölfen und von zerrissenen Schafen
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Foto: Foto: Gasser Peter

Manch einer wird sich nun erwarten, dass hier von Wölfen und Schafen geschrieben steht, von Wolfsrudeln und Einzelgängern, Hybriden (davon soll ich nun ja wirklich etwas verstehen (oder auch nicht)) und Problemwölfen; und von zerrissenen Schafen mit heraushängendem Gedärm und zerfetztem Herzen. 

Und dass ich gemaßregelt werde von zuständiger Behördendirektion (wie gehabt) und angehängtem Politik- und Wahlbetrieb.

Daher werde ich mich vorsichtig ausdrücken, sehr vorsichtig.

Denn es geht um Wölfe und Schafe!

Aber auch - tiefergreifender und emotionaler - um uns selbst:

Um Sie und mich;

Um Schreiber, Leser, Kommentatoren. 

Um Wähler und Führer. 

Führer und Gehilfen.

Eben um Wölfe und Schafe.

.

Und irgendwie: 

um Gut & Böse.

Um Kain und Abel.

Vorweg muss ich um Verständnis bitten, dass ich keine Fotos von bösen Wölfen und zerrissenen Schafen habe. Daher verwende ich stellvertretend für böse Wölfe und zerrissene Schafe notgedrungern Bilder von Bär & Fisch, von hungrigen Bären und toten Fischen. Von diesen habe ich Fotos – das liegt halt an mir und meinem Lebenslauf.

Lassen wir nun aber Erich Fromm sprechen (aus "Die Seele des Menschen: ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen", 1964): dessen Gedanken sind jetzt über 50 Jahre alt und trotzdem aktueller denn je! 

Es tut weh, dieselbe Sitaution nach über 50 Jahren passend wiederzufinden; zum gegebenen Anlass ist der Text behutsam gekürzt:

„Wer die Menschen für Schafe hält, braucht nur darauf hinzuweisen, dass sie sich leicht dazu bringen lassen, die Befehle anderer auszuführen, und dies selbst dann, wenn es für sie selbst schädlich ist; dass sie ihren Führern immer wieder in den Krieg folgen, der ihnen nichts einbringt als Zerstörung; dass sie jedem Unsinn Glauben schenken, wenn er nur mit dem gehörigen Nachdruck vorgebracht und von Inhabern der Macht bekräftigt wird (...) 

dass sie jedem Unsinn Glauben schenken, wenn er nur mit dem gehörigen Nachdruck vorgebracht und von Inhabern der Macht bekräftigt wird"

Es scheint, dass die meisten Menschen so leicht beeinflussbar sind wie halb wache Kinder und dass sie bereit sind, sich jedem willenlos auszuliefern, der mit drohender oder einschmeichelnder Stimme eindringlich genug auf sie einredet (…)

Auf eben dieser Annahme, dass die Menschen Schafe seien, haben die (…) Diktatoren ihre Machtsysteme aufgebaut. Und eben diese Überzeugung, dass die Menschen Schafe seien und daher Führer brauchten, die für sie die Entscheidungen treffen, hat den Führern oft die ehrliche Überzeugung verliehen, dass sie geradezu eine moralische – wenn auch gelegentlich tragische – Pflicht erfüllten, wenn sie den Menschen gaben, was sie wollten: wenn sie die Führung übernahmen und ihnen die Last der Verantwortung und der Freiheit abnahmen

Wenn aber die meisten Menschen Schafe sind, wie kommt es dann, dass sie ein so völlig anderes Leben führen als Schafe? Die Geschichte der Menschheit ist mit Blut geschrieben; es ist eine Geschichte nie abreißender Gewalttaten, denn fast immer hat man sich die anderen mit Gewalt gefügig gemacht. Hat Talaat Pascha Millionen von Armeniern allein umgebracht? Hat Hitler Millionen von Juden allein umgebracht? Hat Stalin Millionen seiner politischen Gegner allein umgebracht? Nein. Diese Männer standen nicht allein; sie verfügten über Tausende, die für sie töteten, für sie folterten und die es nicht nur willig, sondern sogar mit Vergnügen taten. Stoßen wir nicht überall auf die Unmenschlichkeit des Menschen – bei seiner erbarmungslosen Kriegsführung, bei Mord und Vergewaltigung, bei der rücksichtslosen Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren? Und wie oft begegnen die Seufzer der gemarterten und leidenden Kreatur tauben Ohren und verhärteten Herzen! Aus all dem zog ein Denker wie Hobbes den Schluss: homo homini lupus – der Mensch ist seinem Mitmenschen ein Wolf (…)

Lautet vielleicht die einfache Antwort, dass eine Minderheit von Wölfen Seite an Seite mit einer Mehrheit von Schafen lebt? Die Wölfe wollen töten; die Schafe wollen tun, was man ihnen befiehlt. So bringen die Wölfe die Schafe dazu zu töten, zu morden und zu erwürgen, und die Schafe tun es, nicht etwa weil es ihnen Freude macht, sondern weil sie folgen wollen; und darüber hinaus müssen die Mörder noch Geschichten erfinden, die von ihrer gerechten Sache, von der Verteidigung der bedrohten Freiheit, von der Rache für mit dem Bajonett erstochene Kinder, von vergewaltigten Frauen und von verletzter Ehre handeln, um die Mehrheit der Schafe dazu zu bringen, sich wieWölfe zu verhalten (oh wie kennen wir diese Dinge wieder aus der aktuellen Presse)

Diese Antwort klingt plausibel, doch lässt sie immer noch viele Zweifel bestehen. Besagt sie nicht, dass es sozusagen zwei menschliche Rassen gibt – die der Wölfe und die der Schafe? Außerdem stellt sich die Frage, woher es kommt, dass sich die Schafe so leicht dazu verführen lassen, sich wie Wölfe aufzuführen, wenn es nicht in ihrer Natur liegt, selbst dann, wenn man ihnen die Gewalttätigkeit als heilige Pflicht hinstellt (Salvini küsst das Kreuz). Vielleicht ist das, was wir über die Wölfe und Schafe gesagt haben, doch nicht haltbar? Vielleicht trifft es doch zu, dass die wesentliche Eigenschaft im Menschen das Wölfische ist, und dass die meisten das nur nicht so offen zeigen? Oder handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Alternative? Ist der Mensch vielleicht sowohl Wolf als auch Schaf – oder ist er weder Wolf noch Schaf? 

So bringen die Wölfe die Schafe dazu zu töten, zu morden und zu erwürgen, und die Schafe tun es, (...) weil sie folgen wollen

Die Antwort auf diese Fragen ist heute von ausschlaggebender Bedeutung… Wenn wir überzeugt sind, dass der Mensch von Natur aus zur Zerstörung neigt, dass das Bedürfnis, Gewalt anzuwenden tief in seinem Wesen verwurzelt ist, dann wird unser Widerstand gegen die ständig zunehmende Brutalisierung immer schwächer werden. Warum sollte man sich den Wölfen widersetzen, wenn wir alle Wölfe sind, die einen mehr und die anderen weniger? 

Die Frage, ob der Mensch Wolf oder Schaf ist, ist nur die zugespitzte Formulierung einer Frage… Ist der Mensch seinem Wesen nach böse und verderbt, oder ist er seinem Wesen nach gut und fähig, sich zu vervollkommnen? (...)

Der Glaube, dass der Mensch im Grunde gut sei, entsprang einem neuen Selbstvertrauen, das sich der Mensch durch die ungeheuren wirtschaftlichen und politischen Fortschritte seit der Renaissance erworben hatte. Umgekehrt hat der moralische Bankrott des Westens, der mit dem Ersten Weltkrieg begann und über Hitler und Stalin, über Coventry und Hiroshima zur gegenwärtigen Vorbereitung der universalen Vernichtung führte, bewirkt (heute: rechtsgerichteter Populismus zur gegenwärtigen Vorbereitung neuer nationalistischer Diktaturen – Trump, Erdogan, Orban, Strache, Le Pen, Polen), dass die Neigung des Menschen zum Bösen wieder stärker betont wurde (…)

Auch dürfte es allen, die den explosiven Ausbruch des Bösen und der Zerstörungswut seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs miterlebt haben, genauso schwerfallen, die Macht und Intensität der menschlichen Destruktivität zu übersehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das Gefühl der Ohnmacht, das den Menschen – den Intellektuellen wie den Durchschnittsmenschen – heute immer stärker ergreift, dazu führen könnte, dass er sich eine neue Version von der Verderbtheit und Erbsünde zu eigen macht und sie zur Rationalisierung der defätistischen Ansicht benutzt, dass der Krieg (Trump sendet Flottenverbände gegen China, gegen Iran; Salvini bewaffnet das Volk) als Folge der Destruktivität der menschlichen Natur unvermeidbar sei. Eine derartige Ansicht, die sich gelegentlich mit ihrem exquisiten Realismus brüstet, ist aus zwei Gründen unrealistisch. Erstens besagt die Intensität destruktiver Strebungen keineswegs, dass sie unüberwindlich oder auch nur dominant seien.

Kriege entstehen durch die Entscheidung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führer

Der zweite Irrtum liegt in der Prämisse, dass Kriege in erster Linie das Ergebnis psychologischer Kräfte seien... Kriege entstehen durch die Entscheidung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führer, um auf diese Weise Land, Bodenschätze und Handelsvorteile zu gewinnen (Trump),um sich gegen eine wirkliche oder angebliche Bedrohung der Sicherheit ihres Landes (Salvini) durch eine andere Macht (Flüchtlinge) zu verteidigen, oder auch um ihr persönliches Prestige zu erhöhen und Ruhm für sich zu ernten (alle bisher genannten – und auch einige bei uns). Diese Männer (alles Männer???) unterscheiden sich nicht vom Durchschnittsmenschen: Sie sind egoistisch und kaum bereit, zugunsten anderer auf einen persönlichen Vorteil zu verzichten, aber sie sind weder grausam noch bösartig. Wenn solche Menschen – die im normalen Leben wahrscheinlich mehr Gutes als Böses bewirken würden – in Machtstellungen kommen, in denen sie über Millionen befehlen und über die schlimmsten Vernichtungswaffen verfügen, so können sie ungeheuren Schaden anrichten. Im bürgerlichen Leben hätten sie vielleicht einen Konkurrenten zugrunde gerichtet; in unserer Welt mächtiger und souveräner Staaten (dabei bedeutet »souverän«: keinem moralischen Gesetz unterworfen, das die Handlungsfreiheit des souveränen Staates einschränken könnte) können sie die ganze menschliche Rasse ausrotten. 

Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit

Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit – nicht der Unhold oder der Sadist. Aber genauso wie man Waffen braucht, um einen Krieg zu führen, so braucht man auch die Leidenschaften des Hasses, der Empörung, der Destruktivität und Angst, wenn man Millionen dazu bringen will, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und zu Mördern zu werden. Diese Leidenschaften sind die notwendigen Vorbedingungen für das Führen von Kriegen; sie sind nicht deren Ursache, genauso wenig wie Kanonen und Bomben als solche schon die Ursache von Kriegen sind“.

Ich weiß, es ist viel zugemutet.

Ich will dies daher nachwirken lassen ohne weiter zu kommentieren, die wenigen eingebauten Hinweise sollen genügen. 

Wie zeitlos dies geschrieben ist, wie hoch aktuell ist Erich Fromm!

oder:

wie ewig gleich bleibt sich der Mensch . . . 

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Elisabeth Garber Di., 04.06.2019 - 13:07

Sehr sinnvoll, wenn nicht dringlich, so was zu veröffentlichen...Hut ab. Das Buch scheint fast eine Pflichtlektüre zu sein.
Hoffentlich lesen auch all jene Kadetten*innen diesen Text aufmerksam durch, die sich als Person... ihr Wissen, Denken und Handeln nie hinterfragen.
NB: Die Wölfe im Schafspelz sind bekanntlich die übelsten.

Di., 04.06.2019 - 13:07 Permalink
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Karl Trojer Di., 11.06.2019 - 16:48

Was Peter Gasser mit den Worten von Erich Fromm hier dargelegt hat, ist, tragischer Weise, höchst aktuell. Für mich stellt sich dabei die Frage, wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir... ? Ich bin davon überzeugt, dass wir Menschen liebesfähig und aus der Liebe geboren sind; dass wir eben deshalb der Liebe verpfichtet sind. Immer dann, wenn wir gegen die Liebe handeln, verursachen wir Verwirrung, Unheil. Wir Menschen sind "beschränkte" Wesen, uns ist von niemandem die Vollkommenheit auferlegt, doch... "wer immer ehrlich sich (zu lieben) bemüht...." der wird immer mehr Mensch. Der Kampf "Gut - Böse" ist ein perfides Spiel, es "vernebelt" uns und führt zu keiner Lösung.

Di., 11.06.2019 - 16:48 Permalink