Politik | Gedenken

Die vergessene Ächtung

Zum 20. Todestag von Alexander Langer: Ein Rückblick auf eine Zeit, als das etablierte Südtirol den damals jungen Gymnasiallehrer mit allen Mitteln fertig machen wollte.

Das Dokument ist ein Stück Geschichte aus Tagen, die längst vergessen scheinen. Es ist ein Zeugnis jener gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung, die in Südtirol Anfang der siebziger Jahre geführt wurde und in deren Mittelpunkt Alexander Langer stand. Und es ist ein Abbild der Mittel, wie man den heute hochgejubelten Politiker Zeit seines Lebens mit allen Mitteln bekämpft hat.
Zum 20. Todestag von Alexander Langer soll dieses Stück Zeitgeschichte wieder aufgerollt werden. Es ist ein probates Mittel in diesem Land: So viel Weihrauch streuen, dass man die dunkeln Seiten gar nicht mehr sieht.

Note Ausgezeichnet

Wenn man die Situation dieser Klassen mit den anderen, also jenen, die nicht unter dem Einfluss von Professor Langer stehen, vergleicht, kann man einen enormen Unterschied feststellen", heißt es in dem Schreiben. Der „Bericht über das Betragen von Professor Alexander Langer im Schuljahr 1970/71" ging an das Unterrichtsministerium und sollte eigentlich das Ende einer Professorenkarriere sein. Unterschrieben vom Direktor Oswald Sailer, endet das „streng vertrauliche Dokument" mit einer vernichtenden Analyse: „Also keine Abwesenheit wegen Streiks, kein Fall von Undiszipliniertheit, Unordnung, fehlender Hygiene usw. Dasselbe lässt sich von den Klassen des wissenschaftlichen Lyzeums sagen, die nicht unter dem direkten Einfluss von Professor Langer und seiner einseitigen Freunde stehen."
Alexander Langer kehrte 1969 nach seinem Jura-Studium in Florenz und einem Studienjahr in Bonn nach Südtirol zurück. Er beginnt am Bozner Klassischen Lyzeum „Walther von der Vogelweide" Philosophie und Geschichte zu unterrichten.
In der Bozner Schule - wo auch das wissenschaftliche Lyzeum untergebracht ist - treffen plötzlich zwei Welten aufeinander. Geleitet wird die Schule vom deutschnationalen Direktor Oswald Seiler, der ein absolut reaktionäres Klima verbreitet. Anfänglich sieht das Ganze dennoch nicht so schlecht aus. Der junge Professor, dem noch aus Franziskaner-Tagen der Ruf eines Genies nacheilt, und der Kämpfer für das Deutschtum scheinen eine friedliche Koexistenz zu finden. Am Ende des ersten Schuljahres gibt Direktor Sailer - wie für jeden Professor, der nicht in der Stammrolle ist - ein Dienstzeugnis für Langer ab, das in den meisten Punkten ein „ausgezeichnet" enthält.


Alexander Langer als Schüler: Ausschließlich um Freud und Marcuse

Agitator Langer

Diese Bewertung ändert sich aber schlagartig im Schuljahr 1970/71. Oswald Sailer stellt Alexander Langer ein völlig negatives Dienstzeugnis aus:

Didaktische und erzieherische Fähigkeiten: absolut schlecht
• Disziplin: Lässt die Schüler tun, was sie wollen
• Zusammenarbeit mit dem Direktor und den anderen Lehrern: nicht vorhanden
• Eignung für leitende Funktionen: keine
• Andere Elemente zur Bewertung der Persönlichkeit des Professors: siehe Anlagen
• Zusammenfassende Beurteilung: Genügend

Der Meinungsumschwung geht mit dem ersten leichten Aufflammen der Studentenrevolution in Südtirol einher. Der reaktionäre Lehrkörper und das Südtiroler Schulsystem hatten für die ersten Schülerausschreitungen schnell eine Schuldigen gefunden: den jungen Gymnasiallehrer Alexander Langer.
So heißt es in dem Sailer-Bericht:

Er hat keine Programme in seinen Fächern gemacht. In der Maturaklasse III B drehte sich das Programm - laut Maturakommission - ausschließlich um Freud und Marcuse.
...(...)... Unzählige Handlungen, die von der Presse verurteilt wurden und durch Augenzeugen belegt sind, beweisen, dass Professor Langer auch hinter den Protestaktionen der Studenten aus der Klasse III B (Juni - September 1971) steht. Aktionen, die eine nicht enden wollende Kette von Angriffen auf den Direktor, sowohl als Privatperson, als auch als Amtsperson, auf die Schule und das Professorenkollegium zur Folge hatten.

Unzählige Handlungen, die von der Presse verurteilt wurden und durch Augenzeugen belegt sind, beweisen, dass Professor Langer auch hinter den Protestaktionen der Studenten aus der Klasse III B steht.

Il sette politico

Oswald Sailer verfasste einen detaillierten Begleitbericht an das Unterrichtsministerium, in dem Alexander Langers Sündenregister Punkt für Punkt aufgeführt wird.
So hatte der Neo-Professor mit seinen Schülern eine Einheitsnote mit einer zusätzlichen individuellen schriftlichen Beurteilung vereinbart. Den so genannten „sette politico". Für Sailer eine eindeutige Gesetzesverletzung:

Am Ende des 1. Quadrimesters hat Prof. Langer die Einheitsnote (sieben) für die Schüler der Klassen 3 und 4 A im wissenschaftlichen Lyzeum vorgeschlagen (siehe beigelegte Protokolle). Gegen diesen Vorschlag, den Prof. Langer - wie aus den beigelegten Protokollen hervorgeht - bis heute nicht zurückgezogen hat, habe ich mit Brief vom 17. 2. 1971 an Dr. Langer (Kopie an den Schulamtsleiter und seinen Stellvertreter) eine Verwarnung nach Art. 22 des D.L Nr. 1054 vom 6.5.1923 ausgesprochen.

Alexander Langer hat aber auch neue, moderne Lektüre in den Unterricht eingeführt. Hier rebellierte die reaktionäre Seele des Direktors ganz besonders. Sailers Bericht:

Klassenlektüre
In den ersten drei Monaten des Schuljahres hat Prof. Langer als Klassenlektüre im Fach „deutsche Literatur" das Drama „Marat/Sade" des Autors Peter Weiss eingeführt. Ein absolut amoralisches Werk, dessen Lektüre in der Klasse, einer Beleidigung der Ethik, sowohl in Form, wie auch im Inhalt gleichkommt.

Als Alexander Langer 1970/71 am klassischen Lyzeum in Bozen unterrichtete, schrieb ihm Direktor Oswald Sailer ein Dienstzeugnis, das ein Stück Südtiroler Zeitgeschichte ist. Professor Langer war an allem Schuld: Streik, mangelnde Hygiene, amoralische Lektüre und sogar am Tod eines Schülers.

Langers Partisanen 

Das größte Problem für die traditionelle Schulhierarchie waren aber die 1971 beginnenden Proteste und Streiks der Schüler. Für Oswald Sailer auch das Werk Langers:

Für den 6. 3. 1971 war ein Schülerstreik geplant und ein Protestzug durch die Stadt, mit anschließender Besetzung des italienischen wissenschaftlichen Lyzeums durch die Studenten dieses Lyzeums - anwesend Professor Langer - die Besetzung wurde dann durch die Ordnungskräfte verhindert. Ich habe vorausgesehen, dass der Streikaufruf (über Plakate und Flugzettel vor der Schule) vor allem in den Klassen von Prof. Langer Folgen haben würde. Mit der Klasse II B hatte ich eine lange Diskussion, bei der ich kategorisch die Teilnahme der Schüler am Streik verboten habe. Wenig später begleitete Prof. Langer 17 dieser Schüler, deren Namen aufgeschrieben wurden, auf die Straße, damit sich diese dem Protestzug anschließen konnten.
...(...)... In der Klasse III B des klassischen Lyzeums ist die Situation nicht viel anders. Auch hier hat eine Gruppe von Schülern, Partisanen von Langer, an den Streiks teilgenommen und sich vom Unterricht entfernt. Am 26. 3. haben einige Schüler mit einem handgeschriebenen und hier beigelegten Flugzettel zu einem Hungerstreik für Langer aufgefordert, der von der Gerichtsbarkeit wegen Besetzung eines Schulgebäudes angezeigt worden war.

Sailer lastet in seinem Bericht ans Ministerium die Autorenschaft der in den Schulen auftauchenden Flugblätter direkt Alexander Langer an:

Die unzähligen Flugblätter, die verteilt wurden, tragen nicht die Unterschrift von Prof. Langer, aber ihre Urheberschaft ist eindeutig. Das kann auch durch folgende Tatsachen bewiesen werden:
Prof. Langer wurde vom Bozner Bezirksrichter wegen der Verteilung von Flugblättern, denen das vorgeschriebene „Impressum" fehlte, zu einer Geldstrafe von 12.000 Lire verurteilt. Genau am 5. April 1971.
Prof. Langer hat einen seiner Schüler (eben aus der III B des klassischen Lyzeums) einen gewissen Prossliner Erwin vor dem Bozner Bezirksrichter verteidigt, der aber Prossliner wegen desselben Vergehens am 19. 4. 1971 zur Bezahlung von 10.000 Lire verurteilt hat.


Alexander LangerVernachlässigung der grundlegenden Regeln von Sauberkeit und Hygiene 

Der Jugendverführer

Der Schulmann mit nationalsozialistischer Vergangenheit macht in seinem Schreiben Alexander Langer zu einer Art „Jugendverführer". Wie weit dabei die Diffamation geht, zeigt sich in dem Bericht. So heißt es im Kapitel „Besonders erwähnenswerte Fälle":

In der Klasse III B des klassischen Lyzeums hat der Schüler Erwin Prossliner unter der Führung von Prof. Langer in der Bozner Industriezone Flugblätter verteilt, gegen die Normen der öffentlichen Sicherheit verstoßen und wurde deshalb vom Bozner Bezirksrichter am 19. 4. 1971 zu einer Geldstrafe von 10.000 Lire verurteilt...(....)...
Die Schülerin E.M.T. hat nach dem 1. Quadrimester, immer in der derselben Klasse III B klassisches Lyzeum, begonnen, Zeichen einer tiefen psychischen Störung zu zeigen. Einer Störung, die sie - laut Gesprächen mit ihren Eltern - auf die Ideen anarchischen Einflusses von Prof. Langer zurückführte. Die Eltern haben deshalb energisch und schriftlich beim Schulamtsleiter protestiert.
Dasselbe sagen die Eltern der Schülerin E.P.
Unzählig sind die Fälle, wo sich eine völlige Loslösung von der Schuldisziplin bemerkbar macht: Diebstahl von Büchern mit Klassentexten, Vernachlässigung der grundlegenden Regeln von Sauberkeit und Hygiene (Böden und Bänke voller Kaugummi).

Doch dem nicht genug. Oswald Sailer scheut auch nicht davor zurück, in dem offiziellen Dokument Langer in die Nähe eines Mörders zu rücken. Sailer schreibt:

Der Schüler Peter S. derselben Klasse III B hat an einem klimatisch absolut schlechten Tag den Freundeskreis zweier weiterer Mitschüler verlassen, um sich bei einbrechender Nacht allein und in einer felsigen Gegend am Ritten in der Nähe von Bozen auf den Weg zu machen. Es gibt seit diesem Tag kein Lebenszeichen mehr von ihm.

Oswald Sailers giftige Saat ging am Ende auf. Alexander Langer wurde 1971 nach Meran versetzt, ging später nach Rom und ließ den Lehrerberuf fallen.
Heute hat man Alexander Langer heiliggesprochen und das offizielle Südtirol will von dieser Hetze nichts mehr wissen.  

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G G Fr., 03.07.2015 - 09:37

Wäre spannend, von einigen ehemaligen Schülern dieser legendären Klasse III B einige Stimmen zu hören.
Ich bin zu jung und habe das alles - irgendwie leider - nicht miterlebt.

Mir kam beim Lesen das Bild aus dem Film "Der Club der toten Dichter", wie am Ende die Schüler auf die Schulbänke steigen und "Captain, my captain" rufen, um ihrem Lehrer die Ehre zu erweisen.

Fr., 03.07.2015 - 09:37 Permalink
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Martin B. Fr., 03.07.2015 - 14:05

Antwort auf von G G

In der Tat, mehr Insiderwissen aus der 68-Zeit wäre für manch Jüngeren interessant. Wahrscheinlich aber auch ernüchternd wenn man sieht wie damalige Hippies und Revoluzzer zu braven Amts- und Bürohengsten geworden sind.

Fr., 03.07.2015 - 14:05 Permalink
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Germana Nitz Fr., 03.07.2015 - 09:39

De mortuis nihil ... Ist der Aufarbeitung aber nicht einträglich.
Hab bei der gestrigen smarten Filmdoku auf Rai-Südtirol vergeblich gewartet, dass sich das Scheinwerferlicht - wenigstens kurz - auf diesen Aspekt richtet.
Aus heutiger Sicht amüsantes Detail: Wir Schüler der damaligen II B wurden in jenem Schuljahr 1970/71 u.a. von einem Duo namens Alexander Langer und Anton Zelger unterrichtet.

Fr., 03.07.2015 - 09:39 Permalink