Gesellschaft | Bildung

"Schule braucht mehr Raum zum Atmen"

Die Lehrerin und Autorin Sabine Czerny* plädiert für eine Schule, in der Kinder zu Experten werden dürfen und keine Angst vor Noten haben. Impulse fürs neue Schuljahr.
Sabine Czerny
Foto: Jan Röder

salto.bz: Frau Czerny, vor mittlerweile acht Jahren wurden Sie von den bayerischen Schulbehörden als Grundschullehrerin strafversetzt, weil sie ihren SchülerInnen zu gute Noten gaben. Was ist damals passiert?
Sabine Czerny: Ja, so wird das immer geschrieben. Tatsache ist, dass ich damals neu an der Schule war und meine SchülerInnen bei den Probearbeiten in der vierten Klasse, die für drei Parallelklassen gleich waren, eindeutig besser abgeschnitten haben als die anderen Klassen und in den Jahren davor.  Und deshalb wurde mit dann unterstellt, dass ich betrogen habe, indem ich ihnen zum Beispiel den Test schon vorher gegeben habe – was ich natürlich nicht gemacht habe. Doch es hat eben alles durcheinander gebracht, dass eine Klasse, die davor noch bei einem Notendurchschnitt zwischen 2 und 3 war, plötzlich einen 1-er-Schnitt hatte. 

Wie war das tatsächlich möglich?
Ich bin da damals relativ unbedarft rein. Ich hatte vorher immer die 1. und 2. Klasse unterrichtet, in der es damals noch keine Noten gab, und habe den Schultag gestaltet, wie bisher auch: ein abwechslungsreiches, kindgerechtes Arbeiten und ein gutes Miteinander. In jedem Fall haben diese Kinder einfach gerne gelernt und der Erfolg hat sie zusätzlich angespornt. Aber das eigentlich Spannende damals war, dass ich mich aufgrund der Probleme, die ich durch diese guten Ergebnisse der Kinder bekommen habe, mit der ganzen Frage unserer Leistungsmessung begonnen habe auseinanderzusetzen.

Also der Notengebung?
Ja. Mir wurde ja wörtlich gesagt: Frau Czerny, auch bei Ihnen muss es 4er, 5er und 6er geben. Ich habe mich dann durch die ganzen Vorgaben durchgearbeitet, primär, um vor meinen Vorgesetzten begründen zu können, dass es korrekt ist, wenn diese Kinder diese guten Noten bekommen.  Doch ich wurde bitte enttäuscht. In unserem Schulsystem ist es gar nicht möglich, dass alle Kinder gut sein können.

Warum nicht?
Weil die Notengebung relativ ist. Ein Beispiel: In Deutschland, aber soweit ich bislang gesehen habe auch in allen anderen Ländern mit einer vergleichenden Leistungsbewertung, heißt es in den Vorgaben salopp formuliert: Was in der Schule gelernt wird, reicht gerade für die Note 4, für eine bessere Note musst Du darüber hinaus Leistungen erbringen, musst besser sein. Hier findet also schon einmal eine Selektion statt: Denn über die Schule hinaus erbringen jene Kinder ein Mehr, deren Eltern zu Hause mit ihnen lernen und sie fördern. Diese soziale Selektion zeigt sich auch klar in sämtlichen Studien und Untersuchungen. Nur dass keiner fragt, woran es liegt.

Sie haben es jedoch hinterfragt. Welche Antworten haben Sie dabei gefunden?
Da gibt es viele. Auf den Punkt gebracht würde ich aber sagen, dass wir unsere Kinder in der Schule nur auf sehr engen Wegen laufen lassen und sie vor allem testen, um sie dann in eine Reihenfolge zu bringen.  So kann kaum ein Kind sich um seine Lernfelder kümmern oder seine Interessen wirklich ausleben und ihnen nachgehen. Obwohl wir ständig von der Wirtschaft hören, dass wir Expertinnen und Experten brauchen, lassen wir unsere Kinder in der Schule nicht dazu werden.

Weil wir sie zu oft testen?
Sagen wir so: Unsere Regelschule ist so durchdrungen vom Notensystem, dass sich sowohl der fachliche Inhalt als auch der Unterricht danach ausrichten. Zudem müssen alle Kinder das Gleiche lernen, damit man ihre sogenannten Leistungen in der Form vergleichen kann, die in unserem Schulsystem üblich ist. Da kommen auch wir Lehrer nicht dran vorbei. Zu vorherrschend ist das ständige Selektieren, das ständige Ranking. Denn ich lege meine Hand dafür ins Feuer dass jede Lehrerin und jeder Lehrer sich wünscht, dass Kinder gut und gerne lernen.

Aber....?
Aber sie kommen in ein System rein, in dem bei uns in Deutschland schon in der Volksschule die Kinder teilweise jede Woche ein bis zwei Tests haben. Da geht es auch für die Lehrkräfte nur mehr darum, mit dem Stoff so weiter zu kommen, dass sie wieder den nächsten Test machen können. Ob der Unterricht anschaulich und kindgerecht gestaltet wird, ob genügend Zeit zu üben und zu vertiefen da ist, hat dagegen viel zu wenig Platz – auch und gerade zum Leidwesen der Lehrer! Dann geht man eben nicht mehr Hagebutten sammeln und mit den Kindern Marmelade machen, sondern klatscht ihnen eine Zeichnung von Hagebutten hin, die beschriftet und dann abgefragt wird. Das schadet aber nicht nur den Verlierern, sondern auch den vermeintlichen Gewinnern des Systems.

Also den guten Schülerinnen und Schüler?
Ja, denn auch diese Einser-Kinder werden nicht so gefördert und ausgebildet, dass sie ihre individuellen Begabungen ausleben können. Wir brauchen uns nur anzuhören, wie man an den Universitäten über das schlechte Niveau der Schulabgänger jammert. Das sollte uns aber nicht wundern, wenn wir unsere Kinder nicht individuell fördern, sondern sie alle in verschiedenen Schultypen auf den gleichen Wegen laufen lassen und sie dann anhand der Noten in Schubladen sortieren.

Was dagegen schlagen Sie vor?
Mein wichtigstes Anliegen ist, der Schule wieder mehr Freiraum und Raum zu atmen zu verschaffen. Um sie wieder zur Lernstätte zu machen, in der echtes Lernen und echte Förderung möglich ist, müssen wir sie also einerseits entmüllen. Und zwar vor allem von unserer Leistungsmessung,  indem wir eine andere Art der Leistungsdarstellung implementieren. Anderseits sollten wir endlich unser Bild von Intelligenz und Leistungsfähigkeit loslassen, die Vorstellung, dass es einfach dumme, unfähige Menschen gibt, weil das nach der Gaußschen Verteilung so sein muss.  Also, wir lachen uns krumm, wenn jemand im TV-Quiz die Frage nach den Heiligen Drei Königen mit Milka oder ähnlichem beantwortet. Was sind das für dumme Leute! Doch wir fragen uns nicht, wie die angeblich Dummen dumm geworden sind.

Sie sind also nicht dumm geboren....-
Nein, auch wenn wir so hartnäckig daran festhalten, dass es die Klugen und die Dummen gibt. Doch ich kann ihnen aus meinem Berufsalltag sagen: Ich bekomme in der ersten Klasse Volksschule 24 Kinder und die können alle lernen. Vielleicht ist alle acht Jahre einmal ein Kind dabei, dass wirklich eine Lernbehinderung hat und sich extrem schwer tut. Aber alle anderen können lernen – auch wenn klar ist, dass manche in einzelnen Fächern begabter sind als andere oder einfach auch schon weiter vorne.

 

"Alle Kinder wollen lernen - und können lernen", unterstreicht die Lehrerin Sabine Czerny  auch einem Sachbuch, das sie über ihre Erfahrungen geschrieben hat. Quelle: Verlagsgruppe Random House 

Es gibt eben einfach Unterschiede...
Ja, doch die Frage ist: Muss man daraus ein Schicksal machen, indem man so viele bricht und Schule als unangenehm erleben lässt – oder kann man auch anders mit der Vielfalt umgehen?

Was ist Ihre Antwort?
Man könnte das alles wunderbar auffangen, wenn wir – ich sag es erstmal etwas platt - die Benotung weglassen würden.

Denn was bewirken die Noten?
Dieses ständige Vergleichen von Leistungen durch Noten schafft eine Kluft, die mit der Zeit immer größer wird. Wenn es erst einmal Einser- und Fünfer-Kinder (nach dem deutschen System, Anm. d.Red) gibt, hören die Fünfer-Kinder aus Frust auf zu lernen und der Abstand zu den Einser-Kindern wird immer größer. Und was benoten wir denn? Mathe, Deutsch, Sachkunde – anhand eines Themas gelernt und abgeprüft. Doch überlegen wir uns, wie vielfältig Lernen ist, wie vielfältig unsere Welt ist, wie viel neues Wissen jeden einzelnen Tag dazukommt. Unsere Großeltern hatten noch einen klaren Bildungskanon. Heute können wir unseren Kindern gar nicht mehr alles mitgeben, was es gibt.

Braucht es nicht dennoch eine gemeinsame Grundbildung oder Allgemeinbildung?
Die ist sicher wichtig und sinnvoll, doch dann müssen wir die Kinder in verschiedene Richtungen gehen lassen. Bei mir lernt jedes Kind bereits ab dem zweiten Schultag der ersten Klasse Volksschule sich allein oder in selbstgefundenen Gruppen mit einer Aufgabe zu beschäftigen. Die haben das so schnell heraus, dass sie in der zweiten Klasse schon ihre eigenen Themen erarbeiten und lernen, autodidaktisch zu arbeiten. Wenn sie das ihre restliche Schulzeit so machen könnten, was denken Sie, welche Experten die auf ihrem Gebiet werden könnten? Die haben gelernt, sich Hilfe zu holen, Medien zu nutzen, um an Informationen zu kommen, mit anderen Kindern zusammenzuarbeiten. Doch wenn wir so arbeiten, kann man nicht mehr vergleichen und bewerten.

Müssen wir das überhaupt?
Was wir brauchen, ist eine Anbindung der Schule an die Gesellschaft, an die Arbeitswelt. Der Arbeitgeber muss wissen, wen er einstellt, die Uni muss wissen, worauf sie aufbauen kann. Und weil man das braucht und über Noten macht, durchdringt diese Leistungsbewertung unsere Schule bis hinunter in die 1. Klasse Volksschule. Dabei hätte es überhaupt keine Bedeutung, ob Kinder in diesem Alter ein Wort schon richtig schreiben können oder nicht. Doch wir stecken sie sofort in eine Schublade, in der sie dann oft bleiben, bis die Schule vorbei ist.

Was ist die Alternative?
Denken Sie mal an eine Fahrschule. Dort melden sich 100 Leute zur Prüfung an, und man wüsste von vornherein: Ungefähr 30 von ihnen dürfen nachher richtig schnelle Autos fahren, 20 werden für Autos bis 130 km/h und weitere 30 nur für Mofas zugelassen. Die restlichen Schüler dürften dagegen nur zu Fuß laufen, weil sie zu schlecht sind. Das ist doch absurd, wenn man sich das vorstellt. Doch genau so funktioniert unser Schulsystem.

Stattdessen sollte es wie eine Fahrschule funktionieren?
Die Grundidee ist, dass wir unsere Kinder nicht mehr vergleichen, sondern ihnen wie bei der Fahrprüfung oder bei Sprachzertifikaten vorgeben, was zu können ist. Wenn ich ein Level B-Zertifikat in Englisch mache, weiß ich genau, was mich erwartet. Das nimmt unglaublich Druck raus, obwohl man natürlich trotzdem lernen muss. Doch so würde ich das auch mit Prozentrechnen oder anderen Kompetenzen und Fertigkeiten machen, die man später im Beruf braucht.

Das heißt mein potentieller Arbeitgeber sieht an einem Zertifikat, dass ich Prozentrechnen kann?
Zum Beispiel. Es geht einfach darum, sinnvolle Prüfungen mit einer gewissen Aussagekraft zu haben. Die brauche ich deshalb, weil mir als Alternative zu unserem heutigen Bewertungssystem eine Art Leistungs-Portfolio vorschwebt. Das legt jeder für sich selbst an, weil Fremdbewertung heute ohnehin immer verpönter wird.

Was scheibt man dann da rein? 
Ich stelle mir drei Teile vor: ein erster ist so eine Art Skelett, mit den Grundkompetenzen, die man hat. Dafür brauche ich eben diese Prüfungen oder Zertifizierungen, die man auch nach der Schule noch machen können sollte. Englisch Level A2, Word Stufe 3 und so weiter.  Je einheitlicher die Standards dafür sind, desto besser. Das ist wie bei den Lampenfassungen: Wenn wir viele verschiedene Lampen haben wollen, ist es wichtig, dass die Fassungen normiert sind.

Und wenn junge Leute sich heute auf der ganzen Welt frei bewegen, sollten auch ihre Abschlüsse vergleichbarer werden?
Genau. Auch wenn es in solche einem Modell keinen Schulabschluss mehr gäbe, sondern eben ein Kompetenzprofil, ein Leistungsportfolio. Dann ist es auch egal, ob die Kompetenzen in Norddeutschland,  in China oder auf einer Walddorfschule erworben wurden. Ich muss die Prüfung einfach bestehen – auf dem Level, den ich mir selber aussuche und in der Zeit, die ich dafür brauche – ob mit 10 oder mit 21 Jahren. Und es spielt dann auch keine Rolle, wo ich dafür lerne, also ob ich mir das autodidaktisch aneigne, in einer Gruppe,  in der Schule. So würde auch lebenslanges Lernen mehr Sinn haben. 

Interessant. Und was steht in den anderen beiden Teilen des Portfolios?
Im zweiten Teil ist dann Raum für die individuellen Leistungen, für eigene Arbeiten, Forschungsprojekte, alles, wofür ich brenne. Und der dritte Teil wäre dann so ein Persönlichkeitsteil, in dem es weniger um Leistung als um das Sein geht. Da kann dann stehen, ich spiele seit zehn Jahr Klavier oder spiele leidenschaftlich am Computer oder arbeite ehrenamtlich im Altersheim.

Und mit solch einem Portfolio hätte ein Arbeitgeber oder eine Uni einen besseren Überblick, wen er vor sich hat als mit dem klassischen Zeugnis?
Klar. Wenn ich zum Beispiel nach der Schule auf eine Kunstakademie gehen will, bekommen die nicht nur mit, dass ich in der Schule eine Drei in Kunst hatte. Sie sehen im Portfolio alle Arbeiten, die ich gemacht habe, das ist ja heute mit der Digitalisierung kein Problem mehr. So hat die Universität oder der Arbeitgeber viel eher die Möglichkeit selbst zu werten, ob jemand  zu ihnen passt oder das geforderte Niveau hat als wenn die Schule von vornherein ihre Noten darüberstülpt.  

Die Wertungen der Lehrkräfte wären dann verzichtbar?
Sagen wir, es wäre nicht so entscheidend, in welcher Art die Leistungsrückmeldung der Schule erfolgt. Das kann dann ein Zeugnis in schriftlicher Form sein, oder vielleicht doch einmal ein vergleichender Test, weil es zum Beispiel für manche Kinder total wichtig ist zu sehen, dass sie lange nicht so gut sind wie sie denken. Oder es gibt Tests, die die Kinder machen können, sobald sie soweit sind. Da gäbe es dann viel Gestaltungsraum – eben, weil diese ganzen Prüfungen und Rückmeldungen nicht mehr diesen zukunftsentscheidenden Moment hätten wie heute und die Schule viel freier wäre.

Braucht es für diese Freiheit neben der Entrümpelung in Sachen Notensystem nicht auch ein Ausmisten des Lehrstoffs?
Wir sollten uns auf jeden Fall überlegen, was der grundlegende Bildungskanon sein soll, den jede Schülerin und jeder Schüler mitbekommt. Aber wir müssen auch sehen, dass wir in der Schule oft sehr ineffektiv arbeiten.

Wieso?
Ich habe das selbst in meiner Schulzeit bei einem halbjährigen Austauschjahr in den USA erlebt. In der kurzen Zeit habe ich weit mehr Englisch gelernt als in den vielen Jahren in der Schule. Zudem musste ich bei meiner Rückkehr in sechs Wochen alle Tests nachholen und mir die Inhalte alle selber aneignen, und das ging wirklich locker. Doch die Art und Weise, wie der Stoff im Unterricht in kleine Teile heruntergebrochen und aufbereitet werden muss, auch und gerade für die Prüfungen und die Bewertung, ist einfach ineffektiv. Echtes Lernen geht anders und dann können wir uns in kurzer Zeit Dinge aneignen, für die die Schule derzeit ewig braucht. Wie gesagt: Wir müssen der Schule und dem Lernen wieder Raum geben. Zur Zeit ist alles viel zu eng, doch wenn wir erst einmal wieder Luft haben, wird auch ein anderes Lernen möglich werden.