Gesellschaft | Meritokratie

Der Mensch wird zum Humankapital

Meritokratie ist das Zauberwort der neoliberalen Revolution. Dabei riskiert man die Grundlagen einer sozialen Gleichbehandlung zu untergraben.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Fabio Petrini Cgil-Agb

Meritokratie fördert nicht die Chancengleichheit für alle. In den ersten Nachkriegsjahren hatte dieser Begriff sogar einen negativen Beigeschmack. Gegen Mitte der 70er Jahre beginnt man, diesem Begriff eine positive Bedeutung zuzuordnen. Man verband damit die Idee einer Gesellschaft mit Chancengleichheit, die auf individuellen Verdiensten beruht und nicht auf die Zugehörigkeit durch die Geburt.

Diese Entwicklung hängt stark mit dem Siegeszug des neoliberalen Wirtschaftsdenkens zusammen. Humankapital, Kompetenzvermittlung und die einheitliche Leistungsbewertung sind die neuen Wertbegriffe. Letztendlich dreht sich Alles nur mehr um wirtschaftliche Belange. Die Fähigkeiten, das Wissen und die Begabungen des Einzelnen sind dem privaten Profit unterzuordnen. Jugendliche sind durch Kompetenzvermittlung so effizient wie möglich auszubilden.  

Abstraktes Wissen soll durch die Vermittlung von spezifischem Knowhow ersetzt werden. Schüler sind als zukünftige Arbeitskräfte zu betrachten. Dabei sind besonders jene Bildungssysteme zu fördern, in denen Jugendliche zur Flexibilität, zur ständigen Anpassung und zum Selbstunternehmertum getrimmt werden. Weitere Schlüsselkompetenzen sind die Unternehmenskultur und das Streben nach "Erfolg im Leben".

Die sozialen Kompetenzen, als Voraussetzung für den gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, sind zweitrangig. Soziale Kompetenz wird zu einem Wettbewerbsvorteil und sollte in zunehmenden Maßen für den wirtschaftlichen Erfolg zuständig sein. "Individuell entscheiden, wählen und autonom handeln", so lautet die Kernbotschaft. Und wer im Leben scheitert, hat eben seine Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt oder eingesetzt.  

Anstatt zu lernen, die Welt kritisch zu sehen und zu verändern, nimmt der neue Ansatz die bestehende Realität als eine Tatsache hin, an die die eigenen Fähigkeiten anzupassen sind. Nur wer das Bestehende akzeptiert und sich dementsprechend einrichtet, kann die notwendige Leistung erbringen. Kritisches Denken ist nur dann positiv, wenn es der Wirtschaft dient.

Das Individuum rückt ins Zentrum. So ist die Beseitigung von sozialen Konflikten auch eine Folge der Meritokratie, denn diese sind Ausdruck eines kollektiven Handelns. Anstatt gemeinsam gesellschaftliche Ziele zu verfolgen, ist der soziale Fortschritt das Ergebnis einer Summe von persönlichen Erfolgen. Die Zertifizierung von Kenntnissen und Fähigkeiten führt letztendlich dazu, nur das zu lernen, was für gute Ergebnisse zielführend ist. Die Antworten zu kennen wird dann wichtiger, als kritisch nachzufragen.

Der Grundpfeiler dieser Vision ist der des homo oeconomicus, der jeden Aspekt seiner Existenz auf die Rationalität des Marktes zurückführt. Der Mensch selbst wird zum Humankapital und muss eine gute Nutzung der eingesetzten Mittel ermöglichen.  Auch Eltern wählen die Schulen für ihre Kinder so, als wären sie eine wirtschaftliche Investition. Eine kulturelle Verarmung in weiten Teilen der Bevölkerung ist die Nebenwirkung.

Neben Schule und Universität sind auch andere Bereiche wie das Gesundheitswesen, persönliche Dienstleistungen und der gesamte öffentliche Verwaltungsapparat ins Kreuzfeuer geraten. Die Delegitimierung des Öffentlichen zugunsten des Privaten fußt auf der Überlegung, dass der Private einer meritokratischen Selektion unterliegt. So wird die Meritokratie zum Schlüssel für den Abbau des Sozialstaates in seinen universalistischen Formen.

Warum sollte man Allen effiziente Dienste bieten, wenn es Menschen gibt, die sie durch ihren persönlichen Einsatz stärker verdienen? Warum Krankenhäuser oder Schulen gleichermaßen finanzieren, wenn es unterschiedliche Ergebnisse gibt. Die Schule, die Universität oder das Gesundheitswesen sind nach wirtschaftlichen Kriterien umzuwandeln.

Meritokratie nährt das Märchen, dass diejenigen, die Talent haben und sich dafür einsetzen, so gut wie alles erreichen können. Wenn jedoch nur die individuellen und nicht auch die kollektiven Bedürfnisse berücksichtigt und geschützt werden, bleiben die vielen wirtschaftlichen und sozialen Barrieren, die eine trügerische Chancengleichheit vortäuschen, bestehen. 

Wer in solchen Kategorien denkt, ist auch nicht an einer Umverteilungspolitik interessiert: alles spielt ich alles auf individueller Ebene und auf dem Markt ab, der sich auch auf Bereiche des sozialen Lebens ausdehnt. Somit steigen aber auch die Ungleichheiten unaufhaltsam weiter. Dies bewirkt neue Hierarchien: der Stärkere übertrumpft den Schwächeren.  Die Kriterien, nach denen die Leistungen bemessen werden, werden von Menschen bestimmt.

Welche demokratische Legitimation hat ein technischer Ausschuss oder eine Bewertungsagentur bei der Festlegung der Parameter, die das Leistungsniveau der Dienste bestimmen, von denen alle Bürgerinnen und Bürger profitieren? Zusätzlich greift man  vermehrt auf Algorithmen zurück, deren Funktionalität meist unbekannt ist.

Somit rüttelt die moderne Leistungsgesellschaft an den Grundlagen der Demokratie und an unsere Vorstellung von Staatsbürgerschaft. Wenn man von einer Krise der kollektiven Vertretung, sei es in der Politik, aber auch auf gewerkschaftlicher Ebene spricht, darf man diese Entwicklung nicht ausblenden. Nur wenn man sich ohne falsche Scheu damit auseinandersetzt, kann man Worten wie Solidarität und Gerechtigkeit neuen Schwung verschaffen.

Es ist keine leichte Aufgabe, denn die mangelnde Solidarität, der Egoismus, der Nationalismus und Rassismus haben sich in das kollektive Denken eingefressen. Daher braucht es viel Mut und Ausdauer. Aber ohne Umdenken wird sich die Ungleichheit noch weiter ausdehnen und schlussendlich in einer Katastrophe enden.